Regierungskrise in Italien

Siebzehn Monate nach der Bildung einer Regierung der „nationalen Einheit“ unter dem ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi steckt Italien erneut in einer tiefen Regierungskrise. Draghi erklärte am Donnerstag seinen Rücktritt, was Staatspräsident Sergio Mattarella jedoch ablehnte.

Draghi spricht vor der Angeordnetenkammer (Bild: governo.it / CC-BY-NC-SA 3.0 IT)

Nun soll Draghi seine Gründe am kommenden Mittwoch dem Abgeordnetenhaus darlegen. Was dabei herauskommt, ist offen. Die Möglichkeiten reichen von der Fortsetzung der derzeitigen Regierung über die Bildung einer anderen Regierung unter Draghi, die Ernennung eines Technokratenkabinetts, das bis zu den regulären Wahlen im Frühjahr 2023 die Amtsgeschäfte führt, bis hin zur Auflösung des Parlaments und zu Neuwahlen im Oktober.

Unmittelbarer Anlass für Draghis Rücktritt war die Abstimmung über ein 26-Milliarden-Euro-Paket zur Linderung der Folgen der Inflation, die Draghi mit der Vertrauensfrage verband. Die Fünf-Sterne-Bewegung, die größte Fraktion in Draghis Allparteienkoalition, blieb der Abstimmung im Senat, der zweiten Parlamentskammer, fern. Sie verlangt mehr Hilfsgelder, als im Gesetzespaket vorgesehen sind, und lehnt außerdem den Bau einer Müllverbrennungsanlage ab, der Bestandteil des Pakets ist.

Trotz dem Boykott der Fünf Sterne gewann Draghi die Abstimmung – und damit auch das Vertrauensvotum – mit 172 zu 39 Stimmen. Im Abgeordnetenhaus, wo getrennt über die Vertrauensfrage und das Hilfspaket abgestimmt wurde, hatten ihm vorher auch die Fünf Sterne das Vertrauen ausgesprochen. Dennoch erklärte Draghi seinen Rücktritt. Er begründete dies mit dem fehlenden Vertrauen in die Grundlage seiner Regierungsarbeit.

Der Konflikt über das Hilfspaket ist nur der Auslöser, nicht die Ursache der Regierungskrise. Die italienische Gesellschaft ist sozial tief gespalten. Die großen Parteien, die mit Ausnahme der faschistischen Fratelli d’Italia alle in der Regierung sitzen, sind diskreditiert und verhasst, was zu Spannungen und Konflikten führt.

Schon die Wahl Draghis zum Regierungschef im Februar 2021 war der Angst vor sozialen Aufständen geschuldet. Zuvor hatte knapp drei Jahre lang die Fünf-Sterne-Bewegung mit Giuseppe Conte den Regierungschef gestellt. Die Fünf Sterne waren nach der internationalen Finanzkrise 2008, deren sozialen Folgen Italien besonders hart trafen, als Anti-Establishment-Partei aufgestiegen. 2018 bildeten sie dann eine Koalitionsregierung mit der ultrarechten Lega Matteo Salvinis.

Im folgenden Jahr versuchte Salvini, Neuwahlen zu erzwingen, um selbst Regierungschef zu werden, was aber misslang. Nun bildeten die Fünf Sterne und die Demokraten (die italienischen Sozialdemokraten), die sich bisher erbittert bekämpft hatten, eine gemeinsame Regierung.

Wir nannten damals drei Gründe, weshalb sich die verfeindeten Parteien zu einer Zusammenarbeit durchgerungen hatten: Die Angst vor Neuwahlen, weil sie massive Stimmeinbußen befürchteten und jede Einmischung der Massen in die Politik als politische Bedrohung erachteten; die Verabschiedung eines EU-konformen Haushalts mit Einsparungen in Milliardenhöhe auf Kosten der Arbeiterklasse; und das Bemühen, „die EU und die Nato davon zu überzeugen, dass sie sich auch in militärischer Hinsicht auf Italien verlassen können“. Salvini unterhielt damals enge Beziehungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Die Corona-Pandemie brachte die Regierung von Fünf Sternen und Demokraten schließlich zu Fall. Die schrecklichen Bilder aus Norditalien, wo die Krankenhäuser überquollen und Militärlastwagen nachts Särge abtransportierten, die die örtlichen Krematorien nicht mehr verbrennen konnten, alarmierten die ganze Welt über die Gefährlichkeit der Pandemie und die Verantwortungslosigkeit der Regierungen.

Nun versammelten sich alle Parteien hinter Draghi. Der mittlerweile 74-Jährige war in seiner langen Karriere für die Weltbank, das italienische Finanzministerium und die US-Bank Goldman Sachs sowie als Chef der Italienischen und der Europäischen Zentralbank tätig gewesen. Als EZB-Chef hatte er die Finanzmärkte mit Milliarden überflutet und den Lebensstandard der Arbeiterklasse durch Spardiktate gesenkt.

Draghi bildete eine Regierung, der von der rechtsextremen Lega über die Fünf Sterne bis zu den Demokraten alle im Parlament vertretenen Parteien angehören. Einige Ministerien vergab er an parteilose Fachleute. Wir kommentierten damals: „Was die zerstrittenen Parteien zusammenbringt, ist ihre Feindschaft gegen die Arbeiterklasse. Italien steckt in einer tiefen wirtschaftlichen Krise und steht am Rande einer sozialen Explosion. … Unter diesen Bedingungen schließen sich alle Parteien hinter einem Regierungschef zusammen, der wie kein anderer die Interessen des Finanzkapitals verkörpert.“

Einzig die Fratelli D’Italia, eine faschistische Partei in der Tradition Mussolinis, verweigerte sich der Allparteienregierung. Sie hat entsprechend profitiert. Fänden jetzt Neuwahlen statt, würden die Fratelli laut Umfragen mit 23 Prozent stärkste Partei. Bei der letzten Parlamentswahl 2018 hatten sie lediglich 4,4 Prozent erhalten. Die Parteivorsitzende Giorgia Meloni ist seit längerem als mögliche italienische Regierungschefin im Gespräch.

Unter Draghi hat sich die soziale und wirtschaftliche Krise Italiens weiter verschärft.

Die offizielle Arbeitslosenrate liegt bei 8,4 Prozent und damit rund 2 Prozent höher als der EU-Durchschnitt, die Jugendarbeitslosigkeit bei 24 Prozent. Die tatsächlichen Zahlen sind aber weit höher. So sind laut offizieller Statistik mehr als 3,4 Millionen prekär beschäftigt.

Italien ist das einzige europäische Land, in dem die Reallöhne seit 1990 laut offiziellen Zahlen der OECD um 2,9 Prozent gesunken sind. Die Realität ist aber weit schlimmer. So ist die Zahl der absolut Armen während der Corona-Pandemie auf 5,6 Millionen angestiegen. Die offizielle Inflation liegt bei 8 Prozent und der Preisanstieg für Energie bei knapp 50 Prozent.

Draghi hat Italien, das stets enge Beziehungen zu Russland unterhielt, auf den Kriegskurs der Nato eingeschworen, mit entsprechenden ökonomischen Folgen. Wie Deutschland ist Italien stark von russischen Energielieferungen abhängig, rund 40 Prozent des Erdgases kamen bisher von dort. Nun bleiben die Lieferungen teilweise aus, während die Preise explodieren.

In der Arbeiterklasse wächst der Widerstand gegen die sozialen Angriffe. Immer wieder kommt es zu spontanen oder offiziellen Streiks gegen Arbeitsplatzabbau, niedrige Löhne und unhaltbare Arbeitsbedingungen. Allein im ersten Halbjahr 2022 sind 506 Menschen bei der Arbeit umgekommen. Vor allem der Bahn- und Flugverkehr, aber auch die Telekommunikation, die Autoindustrie und andere Bereiche sind von Streiks betroffen. Im April und Mai riefen die Basisgewerkschaften jeweils zu eintägigen Generalstreiks auf.

In der Europäischen Union hat Draghis Rücktrittserklärung große Besorgnis ausgelöst. Der ehemalige EZB-Chef galt der europäischen herrschenden Klasse als Garant für eine „stabile Währungspolitik“, d.h. dafür, dass die Folgen der Wirtschaftskrise auf die Arbeiterklasse abgewälzt werden.

Nun wird befürchtet, dass die Euro-Krise, die die gemeinsame Währung vor einem Jahrzehnt beinahe zum Einsturz brachte, wieder ausbricht. Der Spread, der Zinsabstand zwischen italienischen und deutschen Staatsanleihen, der 2010 maßgeblich zur Krise beitrug, ist wieder stark angestiegen.

Zudem befindet sich der Kurs des Euro gegenüber dem Dollar auf einem Tiefstand, was die Inflation insbesondere im Energiesektor, der in Dollar gehandelt wird, weiter anheizt. Reagiert die EZB mit höheren Zinsen, könnte dies die italienische Wirtschaft weiter in den Abgrund ziehen.

Die tiefe Wirtschaftskrise und die zunehmende Entschlossenheit der Arbeiterklasse, die Angriffe nicht länger hinzunehmen, macht die Herrschenden nervös. Das ist der Grund für die gegenwärtige Regierungskrise. Wird sie im Interesse der herrschenden Klasse gelöst, bedeutet dies unweigerlich weitere Angriffe auf die Arbeiterklasse, die nur mit diktatorischen Methoden durchgesetzt werden könne. Diese Gefahr ist sehr ernst, wie der Aufstieg der Faschistin Meloni zeigt, die sowohl von der italienischen wie von der europäischen Presse als sympathische Figur dargestellt wird. Auch eine Fortsetzung der Regierung Draghi würde den Kriegskurs nach außen und innen extrem verschärfen.

Wie fast überall in Europa sind es auch in Italien die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften, die alles tun, um der herrschenden Klasse eine solche Lösung zu ermöglichen. Seit Beginn der 1990er Jahre, als das alte italienische Parteiensystem zusammenbrach, waren die Vorgänger der Demokraten und ihre pseudolinken Anhängsel stets zur Stelle, wen es darum ging, die bürgerliche Herrschaft zu retten. Auch jetzt sind sie die verlässlichste Stütze Draghis. Die Gewerkschaften ihrerseits unterdrücken die Kämpfe der Arbeiter oder versuchen, wenn dies nicht möglich ist, sie auf Sparflamme zu halten.

Ein fortschrittlicher Ausweg aus der Krise ist nur durch eine unabhängige Intervention der Arbeiterklasse und den Kampf für ein sozialistisches Programm möglich.

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