Am 20. September richtete die „Initiative der Berliner Kinderkliniken“ einen zweiten „Brandbrief“ an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sowie an die Berliner Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne) und die Leitungen der Berliner Kinderkliniken.
Sie versucht damit auf die verheerende Situation an den Kinderkliniken und der Kinderrettungsstelle in der Hauptstadt aufmerksam zu machen. Unterzeichnet wurde der Brandbrief von Kinderärztinnen und Kinderärzten der Charité, den Vivantes Kliniken Neukölln und Friedrichshain, den Helios Kliniken Berlin-Buch und Emil-von-Behring, dem St. Joseph Krankenhaus, dem DRK-Klinikum Westend, dem Sana Klinikum Lichtenberg und dem Evangelischen Waldkrankenhaus Spandau.
Auf den ersten „Brandbrief“ vom 24. Januar diesen Jahres, waren trotz der angespannten Lage keinerlei konkrete Maßnahmen erfolgt. Nun sieht die Initiative die Gesundheit der Patienten in „unmittelbarer Gefahr“.
Schon in den vergangenen Jahren war die Situation auf den Kinderstationen, ebenso wie in den übrigen Klinikbereichen, äußerst angespannt. Mit der Corona-Pandemie hat sich das weiter verschärft. Die „medizinische Versorgung“ sei „in den nächsten Infektwellen nicht gewährleistet“, wenn „bis Herbst keine einschneidenden Veränderungen umgesetzt“ würden.
„Die Situation in den Kinderkliniken ist sehr ernst“, sagt eine Sprecherin der Initiative und ergänzt: „Wir stehen am Beginn der RSV-Welle [Respiratorische Synzytial-Virus, welches akute Atemwegserkrankungen verursacht und vor allem für unter Einjährige gefährlich werden kann].“ Damit drohen erneut „unzumutbare Zustände für Patienten und Mitarbeiter“, wie dies bereits im vergangenen Jahr der Fall war.
Die ohnehin viel zu geringe Anzahl an Pflegekräften wird durch die ungehinderte Verbreitung von Corona weiter ausgedünnt. „Die Personaldecke ist mittlerweile so dünn, dass die Patientenversorgung gefährdet ist. Dies wird durch die sich bereits abzeichnenden neuartigen Corona-Virusvarianten und dadurch bedingte Personalausfälle zusätzlich verschärft.“ Nicht selten haben Kliniken und andere medizinische oder pflegerische Einrichtungen mit einem Krankenstand von 10 bis 20 Prozent zu kämpfen. Dies ist vor allem auf die Aufhebung jeglicher Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie zurückzuführen.
Die Unterbesetzung der Kinderrettungsstelle mit qualifiziertem Personal ist so stark, dass die Folgen direkt spürbar sind. In den Rettungsstellen entscheidet der Schweregrad einer Erkrankung oder Verletzung, in welchem Zeitfenster eine Behandlung eingeleitet werden muss. Eine solche Einschätzung kann jedoch nur dafür qualifiziertes Personal vornehmen.
Nach Aussage der Initiative wird das vorgesehene Zeitfenster für die Behandlung aufgrund des Personalmangels bei nicht lebensbedrohlichen Notfällen „regelmäßig“ überschritten. Patienten müssten teilweise bis zu sechs Stunden auf ihre Behandlung warten, was Kinder und Eltern nicht nur an die Grenzen der Belastbarkeit bringt, sondern wodurch auch vermeidbare Notfallsituationen entstehen, wie der Berliner Tagesspiegel berichtete.
Dass dies gang und gäbe ist, zeigte auch ein Twitter-Post des Berliner Abgeordneten Orkan Özdemir von Ende September. Während seiner dreistündigen Wartezeit in der Notaufnahme des St. Joseph Kinderkrankenhaus wurde „noch nicht mal eine Anmeldung oder Ersteinschätzung gemacht“. „Absolutes Chaos und Überforderung“, lautete sein Fazit. Der SPD-Abgeordnete verschweigt dabei, dass seine Partei, die in den letzten 20 Jahren fast durchgängig den Regierenden Bürgermeister stellt, maßgeblich für die Zustände verantwortlich ist, aber was er beschreibt, ist die Erfahrung von Tausenden von Patienten, Ärzten und Pflegekräften.
Wie die Ärzte Zeitung 2020 berichtete, sank bundesweit die Zahl der ausgebildeten Kinderkrankenpflegekräfte „von knapp 42.000 Pflegekräften“ (1996) auf „weniger als 38.000“ (2017). Diese Zahl sank seit Pandemiebeginn weiter dramatisch ab, nachdem Tausende Pflegekräfte die Bedingungen in Kliniken nicht mehr ertragen und gekündigt oder die Arbeitszeit reduziert hatten.
Die geltenden Personalvorgaben werden vor allem in intensivmedizinischen Abteilungen häufig nicht mehr erfüllt, wie die Ärzte Zeitung anmerkt. Für Level-1-Geburtskliniken konnte der Pflegeschlüssel von einer Kinderpflegekraft je intensivtherapiepflichtigem Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm nur in 38,1 Prozent der Zentren erfüllt werden. Den Pflegeschlüssel von einer Kinderpflegekraft je zwei intensivüberwachungspflichtigen Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht von 1500 Gramm hielten nur 46,9 Prozent der Level-1-Zentren ein.
Selbst nach einer erfolgten Erstbehandlung, gibt es keine Garantie, bei Bedarf auch ein Klinikbett zu erhalten. Die Hauptstadt verfügt ohnehin nur über 735 Betten auf Kinderstationen, was seit Langem kritisiert wird. Trotzdem können nicht einmal diese Betten belegt werden, weil aufgrund des extremen Personalnotstands Betten frei bleiben müssen. Häufig müssen Kinder und Jugendliche in teilweise weit entfernte Krankenhäuser nach Brandenburg transportiert werden.
Bundesweit sank die Bettenanzahl in klinischen Abteilungen für Kinder- und Jugendmedizin laut Statistischem Bundesamt von 35.160 (1991) auf 20.331 (2017).
Aus diesem Grunde fordert die Initiative der Berliner Kinderkliniken eine überregionale Bettenkoordination und die Modernisierung der Infrastruktur als Ganzes. Im Zentrum stehen die Forderungen nach mehr ärztlich qualifiziertem Personal in der Kinderrettungsstelle und einem festen Arzt-Patienten-Schlüssel auf den Kinderstationen von 1:6.
Die Abschaffung der Fallpauschalen, nach deren Kriterien die Kliniken und Abteilungen die Kosten für die Behandlung, Medizin und medizinische Geräte sowie den Zeitaufwand stereotyp abrechnen müssen, gehört ebenfalls zu den Forderungen der Initiative.
So wichtig und berechtigt diese Forderungen sind, stoßen sie bei den politisch Verantwortlichen auf taube Ohren.
Die Notsituation in den Berliner Kinderkliniken spiegelt die desolate Situation des gesamten Krankenhaus- und Gesundheitswesens wider. Personalmangel und miserable Arbeitsbedingungen sind die Folge einer Politik, die jahrzehntelang von Regierungen jeder Coleur betrieben wurde. Dabei wurde das Gesundheitswesen unterfinanziert und völlig den Profitinteressen von Aktionären untergeordnet. Insbesondere die Profit-vor-Leben-Politik der herrschenden Klasse als Reaktion auf die globale Corona-Pandemie hat offenbart, wie gleichgültig die Elite aus Politik, Wirtschaft und Finanzen der Gesundheit und dem Leben der Bevölkerung gegenüber steht.
Trotz wachsender Behandlungsfälle behauptet die Bundesregierung laut der Ärzte Zeitung, es gebe keine drohende „Unterversorgung für Kinder und Jugendliche“ und verweist stattdessen auf die fehlende Auslastung der Betten.
Stefanie Stoff-Ahnis vom Vorstand des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherungen erklärte gegenüber dem Berliner Tagesspiegel, dass es wegen der leerstehenden Betten bei gleichzeitig fehlendem Pflegepersonal und beständig steigender Kosten bundesweit „eher weniger“ Klinken brauche.
In das gleiche Horn bläst Gesundheitsminister Karl Lauterbach, dessen erklärtes Ziel die Vernichtung des „üppigen“ Bettenangebots in den Krankenhäusern ist. Auf einer Pressekonferenz vom 27. September erklärte er: „In Deutschland fällt auf, dass wir ungefähr 50 Prozent mehr Bettenkapazität haben als in anderen europäischen Ländern … und eine 50 Prozent über dem Durchschnitt liegende Quote an vollstationärer Versorgung.“
Seine Schlussfolgerungen daraus sind nicht unbekannt. Als die Bertelsmann-Stiftung vor zwei Jahren forderte, jede zweite Klinik in Deutschland zu schließen, unterstützte Lauterbach dies ausdrücklich. Nun sollen die Folgen der Pandemie und die steigenden Kosten durch den Krieg der Nato gegen Russland dazu genutzt werden, die öffentliche Gesundheitsversorgung radikal zu verändern.
Steigende Kosten, fehlende Einnahmen durch fehlendes Personal und unzureichende öffentliche finanzielle Förderung drohen massenhaft Krankenhäuser in den Bankrott zu treiben. Der Vorsitzende der Geschäftsführung der Berliner Vivantes-Kliniken Johannes Denckert skizzierte im Business Insider bereits „ein unkontrolliertes Krankenhaussterben in ganz Deutschland“.
Vor diesem Hintergrund sind auch Lauterbachs jüngste Äußerungen zu verstehen. Wie er ankündigte, sollen die DRGs (Fallpauschalen) in Kinderkliniken und Kinderstationen entfallen. Künftig soll es so sein, dass es für die 350 Kinderkliniken und Abteilungen in den Krankenhäusern ein festes Budget außerhalb des DRG-System geben solle, über das die Kosten abgerechnet werden sollen.
Dass dies keine Abkehr von der marktradikalen Politik der Fallpauschalen ist, ist offensichtlich. Vielmehr ist es Teil von Lauterbachs Bestrebungen im großen Stil stationäre Behandlungen zu ambulantisieren, um Kosten zu sparen und Kliniken zu schließen. Im aktuellen Haushalt soll der Gesundheitsetat von 64 auf 22 Milliarden zusammengekürzt werden – und das inmitten der Covid-19-Pandemie, die allein in Deutschland bereits über 150.000 Menschenleben gekostet hat.