Gemeinsames Treffen der Aktionskomitees Öffentlicher Dienst und Post

„Tarifverträge dienen der Durchsetzung von Reallohnsenkungen“

Am Dienstagabend setzten die beiden Aktionskomitees Öffentlicher Dienst und Post die eine Woche zuvor begonnene gemeinsame Diskussion fort.

Das Treffen am 2. Mai hatte ganz unter dem Eindruck der Mai-Proteste in Frankreich gestanden. Die Aktionskomitees hatten eine Resolution zur Unterstützung der Arbeiterinnen und Arbeiter in Frankreich verabschiedet, die europaweit auf Resonanz stieß. Aus den Niederlanden und aus Norwegen reagierten Leser der World Socialist Web Site positiv auf die internationale und von den Gewerkschaften unabhängige Perspektive der Aktionskomitees.

Kundgebung von Postbeschäftigten am 6. Februar in Berlin

Diese internationale Ausrichtung unterstrich auf dem Treffen am 9. Mai die Teilnahme von Tony Robson aus Großbritannien, der aus erster Hand vom Aktionskomitee der Post-Arbeiter bei der Royal Mail berichtete. Auf diesem Treffen stand vor allem die Frage des Ukrainekriegs im Mittelpunkt, einschließlich der Unterstützung Verdis für die militärische Aufrüstung und die Waffenlieferungen der Ampel-Koalition an die Ukraine.

Dietmar Gaisenkersting, der im öffentlichen Dienst arbeitet, nahm in seinen kurzen einleitenden Worten darauf Bezug. „Die Entwicklung in Frankreich ist die Vorwegnahme der Entwicklung in anderen Ländern, auch hier in Deutschland“, so Gaisenkersting. „Wir haben die gleichen Probleme wie die Kolleginnen und Kollegen in Frankreich.“

In Frankreich sollen die Rentenausgaben, in Deutschland die Sozialausgaben massiv gekürzt werden. „In diesem Zusammenhang muss man unsere Tarifauseinandersetzung sehen“, fuhr er fort. „Hier sollen gewaltige Kürzungen durchgesetzt werden, um Aufrüstung und Krieg zu finanzieren.“

Er berichtete von der Ankündigung Finanzminister Lindners, 20 Milliarden Euro einzusparen. Während die Ampelkoalition Steuererhöhungen kategorisch ausschließt, soll bei den Ministerien für Arbeit und für Familien gekürzt werden. Das Verteidigungsministerium bleibt ausdrücklich außen vor. Gaisenkersting fasste zusammen: „Die Sozialkürzungen sollen für die Bundeswehr und den Krieg in der Ukraine eingesetzt werden.“ Daher sei es so bedeutsam, sich unabhängig von den Gewerkschaften zu organisieren.

Denn diese seien „Teil der Ampel-Regierung“. Die Verdi-Führung, andere Gewerkschaftsbürokraten, Regierung und Wirtschaftsvertreter hätten sich im letzten Jahr mehrmals getroffen, um abzustimmen, wie sie die Kürzungen gegen die arbeitende Bevölkerung durchsetzen können.

Die Inflationsausgleichszahlungen seien das Mittel und Verdi das Instrument dafür. Gaisenkersting widerlegte die größten Lügen Verdis zum Tarifergebnis. In den auf ihrer Website veröffentlichten FAQs stelle Verdi das Ergebnis stets als das äußerst Mögliche und einzig Machbare dar: „2023 konnte keine tabellenwirksame Erhöhung durchgesetzt werden“, bei der Laufzeit „war nur ein Kompromiss auf 24 Monate machbar“.

Gaisenkersting widersprach: Ein anderes Ergebnis wäre sehr wohl möglich gewesen, aber Verdi habe das nicht gewollt. Deshalb habe die Gewerkschaftsführung „mit allen Mitteln einen Vollstreik verhindert“, der allein in der Lage gewesen wäre, die berechtigten Forderungen durchzusetzen.

Nach dem gleichen Muster beantworte Verdi auf ihrer Website Fragen zur Abschaffung der tarifvertraglichen Altersteilzeitregelung, zum vollständigen Verlust der Inflationsausgleichszahlung bei Erhalt von Krankengeld und der nur anteiligen Auszahlung bei Teilzeit.

„Tarifverträge dienen nicht mehr dazu, die Einkommen schrittweise zu verbessern“, folgerte Gaisenkersting. „Vielmehr sind sie Knebelverträge, die Reallohnsenkungen beinhalten und den Widerstand der Arbeiter unterdrücken.“

In der Diskussion darüber wies Frank, der in der Krankenpflege arbeitet, darauf hin, dass Verdi in dieser Tarifrunde einmal mehr die Belegschaften nach Branchen und Regionen spalte. „In der Pflege kann aus Rücksicht auf die Patienten nicht so gestreikt werden, dass es die Arbeitgeber schmerzt.“ Inzwischen seien die Schichten so ausgedünnt, dass die Notbesetzung bei einem Streik teilweise höher sei als an „normalen Tagen“. Aber die Kollegen, die wirklich am längeren Hebel säßen, wie etwa die Müllwerker, würden nicht aufgerufen. „Verdi geht es nicht um einen Kampf zur Durchsetzung der Forderungen.“

WSWS-Redakteur Tony Robson berichtete in der Diskussion von den Erfahrungen der Beschäftigten der Royal Mail, die jüngst ein Aktionskomitee gegründet haben, um ihre Interessen gegen das Unternehmen und auch gegen ihre Gewerkschaft Communication Workers Union (CWU) zu verteidigen. Auch in Großbritannien hatten sich über 100.000 Beschäftigte oder 96 Prozent der CWU-Mitglieder für einen Streik ausgesprochen. 17 Gewerkschaftsbürokraten der CWU hatten sich über dieses Votum hinweggesetzt und einen Streik verhindert.

„Was uns wirklich dazu motiviert hat, dagegen aktiv zu werden, war – neben den Berichten über die Massenstreiks und Proteste in Frankreich“, so Robson, „der Kampf der Beschäftigten bei der Deutschen Post und die Solidaritätsbekundungen von den Aktionskomitees der Post-Arbeiter in Australien.“ Das habe die Royal-Mail-Arbeiterinnen und -Arbeiter dazu inspiriert, diesen ersten Schritt zu wagen, ein eigenes Aktionskomitee aufzubauen.

Die Mitglieder des Aktionskomitees hätten sich nicht davon beirren lassen, dass sie am Anfang nur eine kleine Zahl waren. „Sie waren ermutigt durch die internationale Solidarität.“ Mittlerweile würden ihre Erklärungen auf der WSWS von Zehntausenden gelesen.

Er beschrieb auch, wie die CWU-Führer Dave Ward und Andy Fury Mitte April eine Vereinbarung mit der Royal Mail getroffen hatten, deren Inhalt die Mitglieder nicht zu sehen bekamen. Inzwischen sind die darin enthaltenen Kürzungen und Verschlechterungen publik und übertreffen die schlimmsten Befürchtungen der Post-Arbeiter.

„Das 35-seitige Dokument, das jetzt veröffentlicht wurde, enthält in fast jeder Zeile einen Angriff auf die Arbeiter“, erklärte Robson. Nur einige Beispiele: „Die Inflationsrate beträgt allein in diesem Jahr 10 %, aber der Lohn soll in den nächsten drei Jahren nur um 10 % steigen.“ Zudem würden die Winterarbeitszeit erhöht, Sonntags-Zuschläge gestrichen und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gekürzt.

Der Protest der Beschäftigten habe die Gewerkschaft gezwungen, darüber abstimmen zu lassen. Doch die CWU habe die Abstimmung „auf den 17. Mai verschoben, um wieder mehr Zeit zu gewinnen, die Opposition zu zermürben und zu demoralisieren“.

Das Aktionskomitee sei sich bewusst, dass sein Kampf jetzt enorme Bedeutung gewinne. Auch in Großbritannien würde die verhasste Tory-Regierung ohne die Unterstützung der Gewerkschaften keinen einzigen Tag an der Macht bleiben. „Deswegen ist es so wichtig, was wir tun“, schloss Robson, „denn was wir tun, das ist die Grundlage für einen wirklichen Kampf der Arbeiterklasse in ganz Europa, ja auf der ganzen Welt.“

Robson beantwortete eine Frage zum Brexit und seinen Folgen für die Arbeiterklasse in Großbritannien. Er betonte, dass die sozialen Belastungen und politischen Angriffe im Zuge des Brexits nur überwunden werden können, „wenn wir uns vernetzen, wenn wir unseren Kampf als einen europäischen Kampf verstehen“.

Ulrich Rippert betont anschließend, die wichtigste Vorbereitung darauf sei, „dass wir als Aktionskomitee unsere Arbeit systematisch entwickeln“. Der Kampf gegen Reallohnsenkungen und Angriffe auf den Lebensstandard sei dabei direkt verbunden mit dem Kampf gegen Krieg.

Die große Einigkeit in dieser Frage kam in der abschließenden Solidaritätserklärung für die Veranstaltungsreihe der International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) gegen den Ukrainekrieg zum Ausdruck:

Wir solidarisieren uns mit den International Youth and Students for Social Equality (IYSSE), die aktuell eine internationale Veranstaltungsreihe unter dem Titel „Wie der Ukrainekrieg gestoppt werden kann“ organisieren.

In Frankfurt versucht die Evangelische Studierendengemeinde (ESG), ihnen den dafür angemieteten Saal auf dem Campus Westend rechtswidrig zu kündigen und rechtfertigt das mit den antimilitaristischen Standpunkten der Jugendorganisation.

An mehreren IYSSE-Versammlungen wurde die internationale Perspektive ausgedrückt, indem Sprecher aus Russland und der Ukraine gemeinsam gegen den Krieg Russlands und dessen Eskalation durch die Nato auftraten.

In der Ukraine und Russland werden Hunderttausende in den Tod geschickt.

Wir sollen gerade in unseren Tarifrunden für Krieg und Aufrüstung mit hohen Reallohnsenkungen zahlen.

Die Diskussion darüber, wie der Krieg gestoppt werden kann, ist absolut notwendig. Wir fordern daher von der ESG, dass die IYSSE ihre Veranstaltung, wie angekündigt an der Frankfurter Johann-Wolfgang-Goethe-Universität durchführen kann.

Das nächste Treffen der Aktionskomitees findet am 16. Mai um 20 Uhr statt. Bis dahin muss unter den Beschäftigten im öffentlichen Dienst gegen das von Verdi vereinbarte Tarifergebnis mobilisiert werden – für ein „Nein“ in der Abstimmung, die noch bis Freitag läuft, und vor allem für die Mitarbeit im Aktionskomitee. Einen Tag zuvor, am 15. Mai, will die Verdi-Bundestarifkommission dem Tarifvertrag zustimmen.

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