Beim jüngsten Bootsunglück vor der Küste Griechenlands sind Hunderte Flüchtlinge ertrunken. Das völlig überfüllte, rund 30 Meter lange Fischerboot sank am Mittwoch in den frühen Morgenstunden. Am frühen Nachmittag waren bereits 78 Tote geborgen. Allein damit wäre dieser Vorfall bereits das schlimmste Massenertrinken vor der griechischen Mittelmeerküste in diesem Jahr.
Doch die griechischen Behörden gehen mittlerweile offiziell von mehr als 500 Toten aus. Medien berichten unter Berufung auf die Angaben Überlebender von 500 bis 750 Passagieren an Bord des heillos überfüllten Kutters.
Nur 104 Überlebende wurden gerettet. Medienberichten zufolge befanden sich unter Deck viele Frauen und Kinder; mehr als 100 sollen im Laderaum eingeschlossen gewesen sein.
Die Katastrophe ereignete sich weniger als zwei Wochen vor der zweiten Runde der griechischen Parlamentswahlen am 25. Juni. Ministerpräsident Mitsotakis von Nea Dimokratia, Alexis Tsipras von der größten Oppositionspartei Syriza und die anderen Parteichefs mussten den Wahlkampf unterbrechen, da eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen wurde. Bereits zuvor war die Wahl wegen der Massenproteste und Streiks nach dem vermeidbaren Zugunglück im Tempi-Tal im Februar für einen Monat ausgesetzt worden.
Das Boot war aus der ostlibyschen Hafenstadt Tobruk nach Italien aufgebrochen und sank 80 Kilometer südwestlich von Pylos vor der griechischen Halbinsel Peloponnes. An Bord sollen sich Flüchtlinge aus Afghanistan, Pakistan, Syrien und Ägypten befunden haben.
Der staatliche Rundfunksender ERT berichtete: „Im Krankenhaus Kalamata liegen 26 Männer jungen und mittleren Alters mit leichteren Verletzungen oder Unterkühlung. 78 Menschen befinden sich im Gewahrsam der Küstenwache und werden [am 15. Juni] in ein Hotel in Malakasa verlegt.“
Der Guardian schrieb über „unvorstellbare Szenen in Kalamata, der Stadt auf dem Peloponnes, wo die Toten und Verwundeten hingebracht werden. Schiffe der Küstenwache, eine Fregatte der Marine, Transportflugzeuge des Militärs, ein Hubschrauber der Luftwaffe und mehrere private Schiffe und Flugzeuge beteiligen sich an der Suche nach Überlebenden. Die Rettungsversuche wurden anfangs durch starken Wind beeinträchtigt.“
Die Darstellung der EU-Grenzschutzbehörde Frontex und der griechischen Küstenwache darf nicht für bare Münze genommen werden. Mittlerweile sind Beweise bekannt geworden, dass das Schiff feindselig behandelt und sein Untergang in Kauf genommen wurde. Frontex veröffentlichte am Mittwoch eine rechtfertigende Erklärung, in der es hieß: „Überwachungsflugzeuge von Frontex haben das Boot am 13. Juni um 9:47 Uhr UTC [koordinierte Weltzeit] entdeckt und sofort die zuständigen griechischen und italienischen Behörden informiert. Alle Fragen sollten an das griechische Rettungs-Koordinationszentrum gerichtet werden.“
Die Küstenwache erklärte gegenüber den Medien, die Flüchtlinge hätten gesagt, sie brauchten keine Hilfe. Reuters berichtete: „Später am Dienstag, wenige Stunden bevor das Boot kenterte, haben die Menschen an Bord des Bootes ein Hilfsangebot abgelehnt … Die Küstenwache erklärte, die Menschen an Deck hätten Hilfe abgelehnt und erklärt, sie wollten ihre Reise fortsetzen.“
Die Freiwilligenorganisation Alarm Phone, eine Hotline für Menschen in Seenot, schilderte schließlich die tatsächlichen Ereignisse. Die Gruppe veröffentlichte am Mittwoch eine Chronologie und einen Artikel mit dem Titel: „Der Schutzschild Europas: Vermutlich Hunderte vor der griechischen Küste ertrunken“. Darin hieß es: „Gestern, am 13. Juni 2023, hatten wir die griechische Küstenwache um 16:53 Mitteleuropäischer Sommerzeit [MESZ] auf das Boot in Seenot aufmerksam gemacht, da die Menschen an Bord uns um Hilfe gerufen hatten. Die griechischen Behörden, Berichten zufolge auch die italienischen und maltesischen, waren bereits mehrere Stunden zuvor alarmiert worden. Die griechischen und europäischen Behörden wussten also von diesem überfüllten und seeuntüchtigen Boot, doch es wurde keine Rettungsoperation eingeleitet. In den frühen Morgenstunden des 14. Juni 2023 kenterte das Boot.
Bereits wenige Stunden nach dem Schiffsunglück begann die griechische Küstenwache, ihre unterlassene Hilfeleistung mit der Behauptung zu rechtfertigen, die Menschen in Seenot hätten von Griechenland nicht gerettet werden wollen.“
Alarm Phone antwortete: „Wir fragen: Warum haben die Leute auf See so große Angst, auf griechische Streitkräfte zu stoßen?... Weil sie von den schrecklichen und systematischen Pushbacks wissen, welche die griechischen Behörden trotz des Verbots der EU durchführen. Griechenland ist zum ,Schutzschild Europas‘ geworden, wie es die Präsidentin der Europäischen Kommission von der Leyen einmal formulierte, und schreckt die Flüchtlinge mit brutaler Gewalt ab.“ [Hervorhebung im Original]
Weiter heißt es, Flüchtlinge „wissen, dass Tausende von den griechischen Streitkräften beschossen, geschlagen und auf hoher See zurückgelassen wurden. Sie wissen, dass Zusammentreffen mit der griechischen Küstenwache, Polizei oder dem Grenzschutz oft Gewalt und Leid bedeuten. Wegen der systematischen Pushbacks versuchen die Boote, Griechenland zu vermeiden, fahren viel weitere Routen und riskieren damit Menschenleben auf See.“
In der Chronologie heißt es weiter:
- „Am Morgen des 13. Juni, um 9:35 Uhr MESZ, meldet der Twitter-Nutzer Nawal Soufi ein großes Boot mit angeblich 750 Insassen in Seenot. In den kommenden Stunden gibt Nawal Soufi weitere Informationen, darunter die GPS-Position des Bootes, und dass die Behörden in Italien, Griechenland und Malta alarmiert wurden.
- 14:17 MESZ: Alarm Phone erhält den ersten Anruf von dem Boot in Seenot. Es ist schwer, mit den Insassen zu kommunizieren. Sie sagen, sie würden die Nacht nicht überleben und seien in schwerer Not. Alarm Phone versucht, ihre derzeitigen GPS-Koordinaten zu erhalten, um die Behörden zu alarmieren, doch der Anruf wird abgebrochen. Wir versuchen, wieder Kontakt mit ihnen aufzunehmen.
- 16:53 Uhr MESZ: Wir alarmieren die griechischen Behörden und andere Akteure wie Frontex und das UN-Flüchtlingshilfswerk in Griechenland, per E-Mail.
- 17:20 MESZ: Wir sprechen mit den Passagieren, die erklären, das Boot bewege sich nicht. Sie sagen weiter: ;Der Kapitän ist auf einem kleinen Boot verschwunden. Bitte, tut irgendetwas.‘ Sie sagen, sie brauchen Nahrungsmittel und Wasser.
- 17:34 MESZ: Wir erhalten einen weiteren Anruf von dem Boot und die aktualisierte Position: 36 18, 21 04 – sehr nahe an der früheren Position. Sie sagen, das Boot sei überfüllt und schwanke.
- 18:00 MESZ: Wir rufen die Schifffahrtsgesellschaft des Handelsschiffes ,Lucky Sailor‘ an und informieren sie über das Boot in Seenot. Sie sagen, sie könnten nur auf Anweisung der griechischen Küstenwache handeln.“
- Zwei Stunden später, um „20:05 Uhr MESZ: Alarm Phone wird von den Bootsinsassen informiert, dass sie von dem Handelsschiff Lucky Sailor Wasser erhalten haben und in Kontakt mit ;der Polizei‘ stehen.“ Alarm Phone weist auch darauf hin, dass sich ein zweites Handelsschiff namens „Faithful Warrior“ in der Nähe des Bootes befindet.
- Die Chronologie endet mit: „00:46 MESZ am 14.6.2023: Letzter Kontakt mit dem Boot in Seenot. Wir hören nur: ,Hallo, mein Freund … Das Schiff, von dem Sie sprechen, ist...‘. Damit endet der Kontakt.“
Noch am gleichen Tag könnten weitere Flüchtlinge ertrunken sein, da ein Boot mit mehr als 80 Flüchtlingen gerettet und zu einem Hafen südlich von Kreta geschleppt wurde.
Jedes Mal, wenn Massen von Flüchtlingen im Mittelmeer ertrinken – seit 2014 mehr als 20.000 –, vergießen Regierungen und Politiker sowie die EU Krokodilstränen und zeigen sich „zutiefst bewegt von den tragischen Ereignissen“, wie es Frontex formulierte. Doch die Toten sind das unvermeidliche Ergebnis ihrer brutalen flüchtlingsfeindlichen Politik. Bisher sind in diesem Jahr fast 1.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken – die jüngsten Opfer der Festung-Europa-Politik, die mit immensen Mitteln finanziert wird und Menschen an der Flucht aus ihren kriegsverwüsteten und verarmten Ländern hindern soll.
Im Juli 2022 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geurteilt, dass Griechenland rechtswidrig handelte, als es 2014 nicht alles Erwartbare tat, um Migranten auf einem Fischerboot zu schützen. Elf Menschen kamen damals ums Leben. Nach den Aussagen der sechzehn Überlebenden – dreizehn Afghanen, zwei Syrer und ein Palästinenser – versuchte die griechische Küstenwache, das Flüchtlingsboot mit großer Geschwindigkeit in türkische Gewässer zu schleppen, und brachte es dabei zum Kentern. Der EGMR urteilte außerdem, dass die griechischen Behörden zwölf der Überlebenden bei einer Leibesvisitation an Land erniedrigend behandelt hatten. Die Umstände, unter denen das Boot gesunken war, seien anschließend von den Behörden nicht effektiv untersucht worden.
Die pseudolinke Syriza spielte in ihrer Regierungszeit von 2015 bis 2019 eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung dieser brutalen Politik. Ihre flüchtlingsfeindliche Agenda, die auch die Umsetzung der „Pushback“-Politik als Teil eines Deals zwischen der EU und der Türkei umfasst, wurde von der WSWS dokumentiert.
Die Krise des kapitalistischen Systems bringt jedes Jahr Millionen neue Flüchtlinge hervor. Letztes Jahr schätzte das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) die Zahl der gewaltsam Vertriebenen auf mehr als 100 Millionen Menschen weltweit. Am Dienstag erklärte das UNHRC, dass durch die Kriege in der Ukraine, Somalia, dem Sudan und weiteren Ländern die Zahl auf den neuen Rekordwert von 110 Millionen gestiegen ist – damit wurde mehr als 1 von 74 Menschen weltweit gewaltsam vertrieben.
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