Mit diesem Bericht eröffnete David North die Schulung der Socialist Equality Party (USA), die vom 30. Juli bis 4. August 2023 stattfand. North ist Vorsitzender der SEP (USA) und leitet die internationale Redaktion der World Socialist Web Site. Die WSWS wird in den kommenden Wochen alle Vorträge veröffentlichen, die während der Schulungswoche gehalten wurden.
1. Zur Eröffnung der diesjährigen internationalen Schulung der Socialist Equality Party möchte ich im Namen der SEP in den Vereinigten Staaten und des Internationalen Komitees der Vierten Internationale das Leben von Genossen Wije Dias würdigen. Er starb vor etwas über einem Jahr, am 27. Juli 2022, im Alter von 80 Jahren. Mehr als 60 Jahre hatte er dem Aufbau der trotzkistischen Bewegung in Sri Lanka und international gewidmet. In den letzten 35 Jahren seines Lebens, also länger als ein Drittel des vergangenen Jahrhunderts, war Genosse Wije Generalsekretär der sri-lankischen Sektion des IKVI. Bis zu seinem letzten Tag war er maßgeblich an der Arbeit der sri-lankischen Sektion und den Kämpfen der Arbeiterklasse beteiligt.
2. Ein umfassender Rückblick auf das Leben von Genossen Wije wäre mehr als die Biografie eines einzelnen Menschen. Er würde notwendigerweise die moderne Geschichte der sri-lankischen Arbeiterklasse und der weltweiten trotzkistischen Bewegung beinhalten. Wije wurde als Mitglied der Jugendbewegung der Lanka Sama Samaja Party (LSSP) zum Trotzkisten. Die LSSP hatte sich auf der Grundlage ihres jahrzehntelangen Kampfs für den Trotzkismus zu einer revolutionären Massenpartei der ceylonesischen Arbeiterklasse entwickelt. Doch unter dem korrumpierenden Einfluss des Pablismus und ihrer eigenen jahrzehntelangen und immer ausgeprägteren Anpassung an den parlamentarischen Opportunismus wandte sich die LSSP im Juni 1964 vom revolutionären sozialistischen Programm des Trotzkismus ab und bildete unter Premierministerin Bandaranaike eine Koalitionsregierung mit der bürgerlichen SLFP.
3. Genosse Wije stand an der Spitze einer bemerkenswerten Generation von prinzipienfesten und mutigen jungen Revolutionären, die sich diesem Verrat widersetzten und sich der Aufgabe annahmen, die trotzkistische Bewegung in Sri Lanka im unerbittlichen Kampf gegen die Opportunisten der LSSP wiederaufzubauen. Infolge von Gerry Healys Reise nach Colombo im Juni 1964 nahmen Wije und andere Gegner der Koalition Kontakt mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale auf. Die Diskussionen mit Healy und die Erklärungen des IKVI, die die Koalition verurteilten, stellten den Verrat der LSSP in den breiteren – und seinem Wesen nach internationalen – Kontext des Kampfs gegen den pablistischen Revisionismus, der bis 1953 zurückreicht.
4. Die historischen Ereignisse in Sri Lanka hatten einen tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung des Trotzkismus in den Vereinigten Staaten. Die Socialist Equality Party in den Vereinigten Staaten war immer stolz darauf, dass es die prinzipienfeste Reaktion der amerikanischen Unterstützer des Internationalen Komitees auf den Verrat der LSSP in Sri Lanka war, die im September 1964 zu ihrem Ausschluss aus der Socialist Workers Party und zur Gründung des Amerikanischen Komitees für die Vierte Internationale führte. Zwei Jahre später, im November 1966, wurde die Workers League als sympathisierende Sektion des IKVI gegründet. Nach einer ausgedehnten Phase der politischen Klärung kam es 1968 in Sri Lanka zur Gründung der Revolutionary Communist League. Genosse Keerthi Balasuriya wurde zu ihrem ersten Generalsekretär gewählt, ein Amt, das er bis zu seinem viel zu frühen Tod im Alter von 39 Jahren am 18. Dezember 1987 innehatte. Ich möchte bei dieser Gelegenheit hinzufügen, dass Genosse Keerthi mir nicht einfach bei der Abfassung von Wie die WRP den Trotzkismus verraten hat geholfen hat. Er war im wahrsten Sinne des Wortes ein gleichwertiger Co-Autor dieses Dokuments.[1]
5. Genosse Wije hatte seit der Gründung der RCL eine zentrale Rolle in deren Führung gespielt. In der außerordentlich schwierigen Situation, in der sich die RCL nach dem plötzlichen und völlig unerwarteten Verlust ihres brillanten und noch sehr jungen Vorsitzenden befand, übernahm Wije das Amt des Generalsekretärs. Er übernahm diese Verantwortung inmitten des Bürgerkriegs und der terroristischen Angriffe auf die RCL – der Ermordung ihrer Mitglieder durch die reaktionären singhalesischen Chauvinisten der JVP. Wijes entschlossene und standhafte Führung schmiedete die Mitgliedschaft der Revolutionary Communist League zusammen.
6. Wijes herausragende Eigenschaften waren sein grenzenloser und unbeugsamer persönlicher Mut und sein unnachgiebiges Eintreten für politische Prinzipien. Dies wurde sogar von seinen politischen Gegnern anerkannt, die sich in seiner Gegenwart unversehens für ihren eigenen Opportunismus schämten.
7. Wije wurde nicht nur respektiert. Er wurde auch geliebt. Bei einer Gelegenheit durfte ich miterleben, wie Genosse Wije – der singhalesischer Herkunft war – als Ehrengast bei einer Veranstaltung in einem tamilischen Viertel in Colombo empfangen wurde. Der Bürgerkrieg wütete noch immer. Doch die tamilischen Anwohner wussten sehr gut, dass die RCL konsequent gegen den rassistischen Krieg auftrat. Als Genosse Wije den Saal betrat, wurde er mit großem Beifall empfangen. Er galt als Anführer der einzigen Partei in Sri Lanka, die die Arbeiterklasse jeder ethnischen und religiösen Herkunft vertrat.
8. Genosse Wije Dias genoss innerhalb des IKVI große Autorität. Bei allen Diskussionen, an denen er teilnahm, konnten wir uns auf seine große Erfahrung, seine Objektivität und sein Wissen verlassen und auch von seinem bemerkenswerten Sinn für Humor profitieren. Wije ist in die Geschichte des Internationalen Komitees eingegangen und sein Beispiel wird für immer ein Quell der Inspiration für die Kader der Weltpartei der Sozialistischen Revolution bleiben. Zu Ehren seines großen Beitrags zum Kampf für den Sozialismus und den Sieg der internationalen Arbeiterklasse widmen wir diese Schulung dem Leben und dem Andenken von Genossen Wije Dias. Wir werden nun eine Schweigeminute einlegen.
9. Als Nächstes möchte ich ganz besonders unsere Genossinnen und Genossen aus der ganzen Welt begrüßen. Eine Schulung auf internationaler Ebene abzuhalten bedeutet, dass viele Genossinnen und Genossen mitten in der Nacht daran teilnehmen – trotz der damit verbundenen körperlichen Belastungen –, weil sie sich an dieser wichtigen Rückschau auf die Geschichte unserer Bewegung beteiligen wollen. Wir schätzen ihre Teilnahme sehr. Wie ich im Laufe dieses Vortrags noch erläutern werde, war eine der großen Errungenschaften, die aus der Spaltung von 1985-1986 hervorgingen, die Wiederherstellung eines echten revolutionären Internationalismus in unserer Bewegung.
10. Zwei weitere Überlegungen möchte ich ansprechen. Zunächst einmal in Bezug auf den Übersetzungsprozess. Als Genossin Andrea vor zu langen, komplizierten Sätzen mit vielen Nebensätzen warnte, hatte ich das Gefühl, dass sie vielleicht den Entwurf meiner Rede durchgesehen hatte. Ich entschuldige mich im Voraus.
11. Was die Geschichte der Übersetzungen bei Treffen wie diesem angeht, so erinnere ich mich an eine Geschichte, die mir vor vielen Jahren – genauer gesagt 1975 – von einem Revolutionär erzählt wurde, der 1922 am Vierten Kongress der Komintern teilgenommen hatte. Es handelt sich um Arne Swabeck, der 1919 die Kommunistische Partei Amerikas und 1928 die trotzkistische Bewegung, die damalige Communist League of America, mit gründete. Er war damals 85 Jahre alt, erfreute sich bester Gesundheit und verfügte noch immer über ein erstaunliches Gedächtnis, das bis ins Jahr 1907 zurückreichte. Er erzählte mir, wie er an einer seiner ersten Massenversammlungen in Deutschland teilgenommen hatte, als er von Dänemark kommend durch Deutschland reiste. Es war eine Maikundgebung, auf der Rosa Luxemburg sprach. Er kommentierte mit dänischem Akzent: „Was für eine Rednerin sie war!“
12. Doch dann erzählte er mir von seinen Erlebnissen im Jahr 1922. An zwei Anekdoten erinnere ich mich besonders gut. Die erste, von der er erzählte, war eine Rede Lenins. Alle Zuhörer wussten, dass Lenin zuvor einen Schlaganfall erlitten hatte, und machten sich große Sorgen über seinen Gesundheitszustand. Aber er bestieg das Podium und hielt eine brillante Rede. Alle ausländischen Delegierten hatten neuen Mut gefasst, und Swabeck wandte sich an einen russischen Delegierten, der neben ihm saß, und sagte zu ihm: „Das war eine fabelhafte Rede.“ Und der russische Delegierte sagte: „Ja, aber Sie hätten Iljitsch vor seinem Schlaganfall hören sollen.“
13. Die zweite Anekdote hatte direkt mit dem Thema Übersetzung zu tun und handelte vom Auftreten Trotzkis. Als er sprechen sollte, war die Aufregung groß, und es gab langen Beifall. Doch als Trotzki das Wort ergriff, entschuldigte er sich zunächst und erklärte, dass er alle seine Notizen auf Deutsch verfasst habe. Deutsch war gewissermaßen die halboffizielle Sprache der Kommunistischen Internationale. Und er sagte, dass er deshalb auf Deutsch sprechen werde. Daraufhin protestierten die französischen Delegierten: „Genosse Trotzki, das ist nicht fair. Die Übersetzung ist nicht sehr gut. Es wird schwierig sein, Ihrem Bericht zu folgen.“ Trotzki sagte daraufhin auf Französisch: „Genossen, ich verstehe dieses Problem. Wenn ich meinen Vortrag auf Deutsch beendet habe, gehen wir in einen anderen Raum, und ich werde meinen Bericht auf Französisch wiederholen.“ An diesem Punkt riefen die russischen Delegierten: „Towarischtsch Trotzki, Lew Dawidowitsch, so geht es nicht! Wenn Sie erst auf Deutsch und dann auf Französisch sprechen, müssen Sie Ihren Vortrag auch auf Russisch halten.“ Er sagte: „Ja, Genossinnen und Genossen, wenn ich meinen Vortrag vor den französischen Delegierten beendet habe, werden wir uns getrennt treffen und ich werde meinen Bericht auf Russisch geben.“ Trotzki sprach drei Stunden lang auf Deutsch. Er gab dann seinen Bericht auf Französisch und später auf Russisch, und Swabeck erinnerte sich, dass er zu später Stunde das Gebäude verließ, in dem die Sitzungen der Komintern stattfanden, und sah, wie Trotzki mit den russischen Delegierten aus der Sitzung kam. Er hatte insgesamt neun Stunden lang gesprochen. Und Swabeck erinnerte sich an dieses Ereignis, als sei es am Tag zuvor geschehen.
14. Trotzki war wirklich eine außergewöhnliche Figur in der Geschichte der Bewegung, und es war und ist schwer zu begreifen, dass nur wenige Monate nach diesem Ereignis der Kampf in der Bolschewistischen Partei ausbrechen würde, der zu seinem Machtverlust führte. Jedenfalls können wir jetzt die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz und diese Gelegenheit nutzen, um Vorträge zu halten, die hoffentlich von allen an dieser Schule teilnehmenden Genossen aus aller Welt einigermaßen problemlos verfolgt werden können.
15. Die letzte Schulungswoche der Socialist Equality Party fand vom 21. bis zum 28. Juli 2019 in Präsenz statt, nur wenige Monate vor dem Ausbruch der SARS-CoV-2-Pandemie. Sie war der Frage gewidmet, wie die Perspektive und das Programm des Internationalen Komitees der Vierten Internationale nach der Spaltung mit der Workers Revolutionary Party im Februar 1986 entwickelt wurden. Diese Spaltung war das Ergebnis eines langwierigen Konflikts innerhalb des IKVI, der sich über einen Zeitraum von drei Jahren entfaltet hatte.
16. Im Oktober 1982 hatte die Führung der Workers League Gerry Healy, Cliff Slaughter, Michael Banda und das Politische Komitee der WRP über wesentliche Differenzen informiert, die über die Verzerrung der philosophischen Grundlagen des Marxismus durch die britische Sektion und deren Abkehr vom Programm der permanenten Revolution bestanden.
17. Die britische Führung brach ihre ursprüngliche Zusage, eine umfassende Diskussion über die von der Workers League aufgeworfenen Differenzen zu organisieren, und drohte stattdessen im Dezember 1982 mit einer sofortigen Spaltung, falls die amerikanische Sektion ihre Kritik nicht zurückziehe. Angesichts der Tatsache, dass das Internationale Komitee keinerlei Kenntnis von der Existenz der vorgebrachten Differenzen hatte, wurden die Kritikpunkte in dieser Situation zurückgezogen.
18. Das Versäumnis der WRP, ihre Fehler zu korrigieren, und ihre immer offenere Hinwendung zu pablistischer Politik – beispielhaft dafür war Cliff Slaughters Kritik vom November 1983 an unserer „zu starken Betonung“ der politischen Unabhängigkeit der Arbeiterklasse und die hemmungslose Verherrlichung der reaktionären bürgerlichen Regierungen im Nahen Osten durch die WRP – veranlasste die Workers League jedoch, im Januar 1984 ihre Forderung nach einer Diskussion über die politische Orientierung der britischen Sektion und die globale Perspektive des Internationalen Komitees zu erneuern.
19. Ein weiteres Mal versuchte die WRP, die Organisation einer angemessenen Diskussion über politische Fragen zu sabotieren. Bedenkt, dass es zu dieser Zeit kein Internet, keine E-Mail und keine einfache und sofortige Übermittlung von Dokumenten gab. Als führende Mitglieder der Workers League im Februar 1984 in London eintrafen, stellten sie fest, dass weder die sri-lankische noch die australische Sektion über das Treffen des IKVI informiert worden waren. Sie hatten keine Delegierten. Die von der Workers League erstellte umfassende Analyse der Kapitulation der WRP vor dem Pablismus wurde einmal mehr mit der Drohung einer sofortigen Spaltung beantwortet. Die Workers League war entschlossen, einen verfrühten organisatorischen Bruch mit dem Internationalen Komitee unter den gegebenen Bedingungen zu vermeiden, unter denen der Inhalt und sogar die Existenz ihrer Kritik mehreren Teilen der Weltbewegung unbekannt bleiben würde. Sie zog ihre Kritik an der WRP daher erneut zurück.
20. Die Krise, die im Juli 1985 innerhalb der WRP ausbrach, konnte jedoch nicht vor dem Internationalen Komitee verborgen werden. Die ausführliche und dokumentierte Kritik der Workers League von 1982 bis 1984, die schließlich in der WRP und im IKVI zirkulierte, lieferte eine Analyse der opportunistischen Politik und des Rückzugs vom Trotzkismus, die der verheerenden organisatorischen Krise in der britischen Sektion zugrunde lagen.
21. In den Monaten Oktober bis Dezember 1985 stellten die orthodoxen Trotzkisten die Kontrolle über das Internationale Komitee wieder her. Die britische Sektion wurde vom IKVI suspendiert und ihre Wiederaufnahme davon abhängig gemacht, dass sie sich erneut und ausdrücklich zu den Grundprinzipien des Leninismus und Trotzkismus bekannte, wie sie seit den ersten vier Kongressen der Kommunistischen Internationale und der Gründung der Linken Opposition im Oktober 1923 entwickelt und verteidigt worden waren.
22. Die WRP war außerstande, diesen Bedingungen nachzukommen, und spaltete sich am 8. Februar 1986 auf einem betrügerischen Kongress ihres Rumpfes vom Internationalen Komitee ab. Die WRP-Mitglieder, die das Internationale Komitee unterstützten – und die tatsächlich eine Mehrheit der rechtmäßigen Parteimitglieder darstellten – wurden durch die von Slaughter gerufene Polizei am Betreten des Saals gehindert. Die Spaltung wurde von Cliff Slaughter und Michael Banda auf der Grundlage eines von Banda verfassten Dokuments mit dem Titel „27 Gründe, weshalb das Internationale Komitee sofort begraben und die Vierte Internationale aufgebaut werden muss“ durchgeführt. Der Titel des Dokuments war insofern ironisch, als Banda keinen einzigen Grund für den Aufbau der Vierten Internationale nannte.[2]
23. Wie vom IKVI vorhergesagt, wiesen bald praktisch alle, die sich dieses berüchtigte Dokument zu eigen machten, den Trotzkismus und jede politische Verbindung mit dem Programm der sozialistischen Revolution zurück. Viele von ihnen kehrten zum Stalinismus zurück, andere wurden zu Komplizen der Nato-Militäroperationen in Bosnien während des Bürgerkriegs, der auf die Zerstörung Jugoslawiens folgte. Sie wurden zu entschiedenen Antikommunisten und Agenten des Imperialismus.[3]
24. Dieser Kampf, der im Laufe dieser Woche in drei Vorträgen näher beleuchtet werden soll, gehört zu den folgenreichsten Ereignissen in der Geschichte der Vierten Internationale. Er verhinderte die Zerstörung der trotzkistischen Bewegung und schuf die Voraussetzungen für eine Renaissance des Marxismus und eine immense Entwicklung in der theoretischen, politischen und organisatorischen Arbeit des Internationalen Komitees.
25. Nach der Schulung von 2019 wurde die Spaltung in den breiteren Kontext der Geschichte der Vierten Internationale gestellt. Im Eröffnungsbericht wurden fünf aufeinanderfolgende Phasen oder Etappen in der Geschichte der trotzkistischen Bewegung genannt.[4]
26. Die erste Phase umfasste einen Zeitraum von 15 Jahren, von der Gründung der Linken Opposition im Jahr 1923 bis zur Gründung der Vierten Internationale im Jahr 1938. Diese Periode umfasste die entscheidenden historischen Ereignisse und strategischen Erfahrungen, die den gesamten Verlauf des Kampfs des Trotzkismus gegen den Stalinismus bestimmten und die Grundlage für das Programm und die Perspektive der Vierten Internationale bildeten. Die wesentlichen Lehren aus dieser tragischen Periode, die die größten Niederlagen der internationalen Arbeiterklasse und die physische Vernichtung eines großen Teils des marxistischen Kaders mit sich brachte, wurden in dem Satz zusammengefasst, mit dem Trotzki das Gründungsdokument der Vierten Internationale eröffnete: „Die politische Weltlage als Ganzes ist vor allem durch eine historische Krise der proletarischen Führung gekennzeichnet.“[5]
27. Die zweite Phase umfasste einen weiteren Zeitraum von 15 Jahren, von der Gründung der Vierten Internationale bis zur Spaltung mit der pablistischen Führung des Internationalen Sekretariats und der Gründung des Internationalen Komitees vor 70 Jahren im November 1953. Diese historische Periode umfasst die Ermordung Trotzkis, den gesamten Zweiten Weltkrieg, die Errichtung stalinistischer Regime in Osteuropa, die erneute Stabilisierung des Kapitalismus in Westeuropa und Japan, den Ausbruch des Kalten Krieges, den Sieg der Chinesischen Revolution, den Ausbruch des Koreakrieges und den Tod Stalins.
28. Die dritte Phase der Vierten Internationale umfasst einen 33 Jahre währenden Kampf innerhalb des Internationalen Komitees – außerhalb des Internationalen Komitees gibt es keine Vierte Internationale –, der mit der Veröffentlichung des Offenen Briefes von James P. Cannon an die trotzkistische Weltbewegung begann. Er endete mit der Suspendierung der WRP im Dezember 1985 und dem endgültigen Bruch mit den national-opportunistischen Renegaten im Februar 1986. Es war eine Periode, die wir als einen langwierigen Bürgerkrieg innerhalb des Internationalen Komitees bezeichnet haben, der durch eine Reihe von intensiven politischen Konflikten mit pablistischen Tendenzen sowohl außerhalb als auch innerhalb des IKVI gekennzeichnet war. In dem Bericht wurde erklärt:
Während dieser explosiven Zeit, in der mächtige Massenbewegungen der Arbeiterklasse objektiv die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution eröffneten, hatte das Internationale Komitee nicht nur mit dem ständigen Druck der stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien, Gewerkschaften und mit ihnen verwandten Organisationen zu kämpfen. Auch die pablistischen Organisationen, die mit besagten Bürokratien und einer breiten Schicht kleinbürgerlicher Radikaler und antitrotzkistischer Intellektueller verbunden waren, versuchten das Internationale Komitee zu isolieren, indem sie unaufhörliche Fälschungen der marxistischen Theorie und der Prinzipien der Vierten Internationale mit andauernden politischen und organisatorischen Provokationen kombinierten.[6]
29. Die für diese Woche geplanten Berichte werden sich auf diese dritte Phase in der Geschichte der Vierten Internationale konzentrieren, die entscheidende Erfahrungen der Workers League einschließt – insbesondere den Bruch mit Wohlforth, die Einleitung der Untersuchung „Sicherheit und die Vierte Internationale“ und die Interventionen der Partei im Klassenkampf –, die zu einer bedeutenden Entwicklung des trotzkistischen Kaders in den Vereinigten Staaten und seiner Opposition gegen den opportunistischen Kurs der WRP führten. Wie wir im Jahr 2019 betont haben:
Die politische Geschichte der Workers League und ihre theoretisch-politische Arbeit hatten die Führung der Partei, die von der Geschichte und den Prinzipien der trotzkistischen Bewegung erfüllt war, für objektive Wirtschaftsprozesse und politische Ereignisse sensibilisiert. Dies führte zu politischer Unzufriedenheit und Ablehnung gegenüber dem Kurs der WRP.
30. Die vierte Phase in der Geschichte der Vierten Internationale begann mit dem Bruch mit der WRP im Februar 1986, d. h. mit der entscheidenden Niederlage der Opportunisten und der Herstellung der politischen Autorität der Trotzkisten im Internationalen Komitee. Dies hat sich, wie ich bereits betont habe, in der außergewöhnlichen Entwicklung des IKVI gezeigt, das sich endlich von dem zerstörerischen Einfluss und den Machenschaften des Pablismus befreit hatte. Die wichtigste Errungenschaft dieser Periode war die Entwicklung einer Weltperspektive, die es dem Internationalen Komitee ermöglichte, eine politisch einheitliche internationale Praxis mit der objektiven Globalisierung der Wirtschaft und ihren Auswirkungen auf die Entwicklung des internationalen Klassenkampfes in Übereinstimmung zu bringen.
31. Als ich die intensive Interaktion zwischen den Sektionen des IKVI erläuterte, die sich nach der Spaltung von 1985-1986 entwickelte, bezog ich mich auf den Bericht, den ich am 25. Juni 1989 auf einer Mitgliederversammlung in Detroit gegeben hatte:
Der Umfang dieser internationalen Zusammenarbeit, ihre direkte Auswirkung auf buchstäblich jeden Aspekt der praktischen Arbeit jeder Sektion, hat den Charakter des IK und seiner Sektionen in grundlegender und positiver Art und Weise verändert. Letztere stellen in keinerlei nennenswerter praktischer oder politischer Hinsicht noch unabhängige Einheiten dar. Auf der Grundlage eines gemeinsamen politischen Programms hat sich ein komplexes Netzwerk von Beziehungen innerhalb des IK herausgebildet, das all seine Sektionen miteinander verbindet. Das bedeutet, dass die Sektionen des IKVI untereinander verbundene und voneinander abhängige Komponenten eines einzigen politischen Organismus sind. Jeder Bruch dieser Beziehung würde zerstörerische Auswirkungen in der betreffenden Sektion haben. Jede Sektion ist jetzt in ihrer gesamten Existenz von dieser internationalen Zusammenarbeit sowohl ideologisch wie praktisch abhängig geworden.[7]
32. Die Fortschritte des Internationalen Komitees waren nicht allein das Ergebnis des subjektiven Willens und der politischen Aufrichtigkeit seiner Kader – und konnten es auch nicht sein. Dieser Entwicklung lagen tiefgreifende Veränderungen der sozioökonomischen Bedingungen im Weltmaßstab zugrunde, die sich in den politischen Strukturen und Beziehungen widerspiegelten. Wir haben oft festgestellt, dass wichtige Entwicklungen innerhalb der trotzkistischen Bewegung – und insbesondere die intensiven Perioden innerparteilicher Kämpfe – sich entweder als Vorwegnahme oder als Ergebnis von kritischen Wendepunkten in der Weltpolitik erwiesen.
33. Der Fraktionskampf innerhalb der Socialist Workers Party von 1939-1940 entwickelte sich als fast unmittelbare Reaktion auf den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Die Spaltung im November 1953 wurde durch Stalins Tod acht Monate zuvor ausgelöst, der eine endlose Reihe von Krisen im Kreml und in der stalinistischen Weltbewegung in Gang setzte. Sie spiegelte auch das Wachstum eines Radikalismus der Mittelklasse wider, der sich in Opposition zur Bewegung der Arbeiterklasse als einer politisch unabhängigen und revolutionären sozialen Kraft entwickelte.
34. Wie sich bald herausstellte, nahm der Kampf innerhalb des Internationalen Komitees von 1982 bis 1986 das Endstadium der Degeneration der stalinistischen Bürokratie vorweg, das im Dezember 1991 in der Auflösung der Sowjetunion gipfelte. Oberflächlichen Beobachtern – insbesondere innerhalb der WRP-Führung – mag es höchst unwahrscheinlich erschienen sein, dass die scheinbar isolierte Opposition der Workers League innerhalb von nur drei Jahren zum Mittelpunkt einer neuen trotzkistischen Neuausrichtung und Mehrheit im Internationalen Komitee werden würde.
35. In einem ganz grundlegenden Sinne beruhte die Stärke der trotzkistischen Opposition darauf, dass sie nicht nur die objektiven Prozesse richtig analysierte, sondern dass diese Prozesse – im Gegensatz zu der Situation, die 1939-1940, 1953 und auch während des Kampfes der SLL gegen die prinzipienlose Wiedervereinigung der SWP mit den Pablisten 1961-1963 geherrscht hatte – für die revolutionäre Tendenz günstig waren. Die Prozesse der wirtschaftlichen Globalisierung erschütterten die sozialen Grundlagen jeder Form von nationalem Programm für die Arbeiterklasse, sei es sozialdemokratisch, stalinistisch oder gewerkschaftlich. Die alten, national verwurzelten Arbeiterparteien und Gewerkschaften waren nicht in der Lage, eine tragfähige Antwort auf die neue wirtschaftliche Realität zu finden. Die Auflösung der Sowjetunion und der Zerfall der stalinistischen Massenparteien und -organisationen waren der bedeutendste Teil eines umfassenderen Prozesses: des Zusammenbruchs jeder Form von nationalem Reformismus.
36. Die wichtigsten Initiativen der Sektionen des IKVI – insbesondere der Übergang von Bünden zu Parteien und die Publikation der World Socialist Web Site – beruhten auf einer korrekten Einschätzung der objektiven Kräfte, die der Entwicklung des Internationalen Komitees als Weltpartei der sozialistischen Revolution einen neuen und starken Impuls verliehen.
37. Die 33 Jahre von 1986 bis 2019 wurden in dem Bericht wie folgt zusammengefasst:
Die wichtigsten Errungenschaften der vierten Phase waren: die entscheidende Vorbereitungsarbeit zur Vertreibung der Pablisten, der Wiederaufbau der Weltpartei auf internationalistischer Grundlage, die Ausarbeitung der internationalen Strategie des IKVI, die Verteidigung des historischen Erbes der Vierten Internationale, die Umwandlung der Bünde des Internationalen Komitees in Parteien und die Gründung der »World Socialist Web Site«. Diese Errungenschaften ermöglichten eine enorme Ausweitung des politischen Einflusses des Internationalen Komitees und ein signifikantes Wachstum seiner Mitgliedschaft. Diese Phase ist nun abgeschlossen.[8]
38. Im Bericht von 2019 wurde dann festgestellt, dass die fünfte Phase der Geschichte der trotzkistischen Bewegung begonnen hat:
Dies ist die Phase, in der das IKVI als Weltpartei der sozialistischen Revolution ein enormes Wachstum erleben wird. Die objektiven Prozesse der ökonomischen Globalisierung, die das Internationale Komitee vor mehr als 30 Jahren identifizierte, haben sich in riesigem Umfang weiterentwickelt. In Kombination mit dem Aufkommen neuer Technologien, die die Kommunikation revolutionierten, haben diese Prozesse den Klassenkampf in einem Maße internationalisiert, das selbst vor 25 Jahren noch kaum vorstellbar gewesen wäre. Der revolutionäre Kampf der Arbeiterklasse wird sich als eine zusammenhängende und vereinte Weltbewegung entwickeln. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale wird als bewusste politische Führung dieses objektiven sozioökonomischen Prozesses aufgebaut. Es wird der kapitalistischen Politik des imperialistischen Kriegs die klassenbasierte Strategie der sozialistischen Weltrevolution entgegensetzen. Darin besteht die wesentliche historische Aufgabe des neuen Stadiums in der Geschichte der Vierten Internationale.
39. Vier Jahre sind vergangen, seit wir den Beginn der fünften Phase in der Geschichte der Vierten Internationale festgestellt haben. Nun müssen wir uns die Frage stellen: Haben die nachfolgenden Ereignisse diese Einschätzung bestätigt – sowohl in Bezug auf die Entwicklung der objektiven wirtschaftlichen und politischen Krise des Kapitalismus, die Verschärfung des Klassenkampfs und schließlich in Bezug auf Aktivität der Partei?
40. Blickt man auf die letzten vier Jahre zurück, so ist es eine unbestreitbare Tatsache, dass die Schulung von 2019 just am Vorabend einer massiven Eskalation der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise des Weltkapitalismus stattfand. Darüber hinaus wurde innerhalb weniger Wochen nach Abschluss der Schulung eine scheinbar zufällige Entwicklung zu einem bedeutenden Hinweis auf eine qualitative Entwicklung des politischen und intellektuellen Einflusses der Partei.
41. Am 19. August 2019 veröffentlichte die New York Times in ihrem Sonntagsmagazin eine Reihe von Essays, von denen der prominenteste der Artikel von Nikole Hannah-Jones war, der den Start des „1619 Project“ ankündigte. Der einflussreichste bürgerliche Medienkonzern der Vereinigten Staaten – das mediale Sprachrohr des amerikanischen Staates, der Geheimdienste und des akademischen Establishments – kündigte an, unter Einsatz enormer Ressourcen eine grundlegende Revision der amerikanischen Geschichtsschreibung in Angriff zu nehmen. Weder die Amerikanische Revolution noch der Amerikanische Bürgerkrieg sollten künftig als fortschrittliche historische Ereignisse betrachtet werden. Das „1619 Project“ werde die Revolution als verzweifelte und zynische Rebellion von Sklavenhaltern entlarven, die entschlossen waren, die Emanzipationsbestrebungen des britischen Empire und des heldenhaften Lord Dunmore zu vereiteln.[9]
42. Der Bürgerkrieg, so die Urheber des Projekts, habe demnach wenig mit der Abschaffung der Sklaverei zu tun gehabt. Die Unionsarmee war höchstens ein Nebendarsteller in dem weitaus größeren Drama der Selbstbefreiung der Sklaven. Was Lincoln anbelangt, so war er ein kleinlicher und niederträchtiger Rassist, der nichts weiter wollte als die Vertreibung der Schwarzen vom nordamerikanischen Kontinent und ihre Rückkehr nach Afrika.
43. Dieser mit Lügen gespickte und intellektuell bankrotte Geschichtsrevisionismus, der weitgehend auf der Wiederverwertung reaktionärer Rassenmythologie von Propagandisten des Black Nationalism wie Lerone Bennett Jr. beruht, wurde von den Medien und einem Chor von Akademikern sofort als längst überfällige Enthüllung gefeiert. Sie wäre weitgehend unwidersprochen geblieben, wenn die World Socialist Web Site nicht eingegriffen hätte. Am 3. September 2019, nur zwei Wochen nach Beginn des „1619 Project“, veröffentlichte die WSWS ihre erste große Replik unter dem Titel: „‚The 1619 Project‘: New York Times veröffentlicht rassistische Geschichtsfälschung“.[10]
44. Auf diese umfassende Entlarvung der groben und eklatanten Fehler im Aufsatz von Hannah-Jones folgten nicht nur Aufsätze, die die Kritik am 1619 Project weiterentwickelten. Genosse Tom Mackaman interviewte bedeutende Historiker – darunter Gordon Wood, James McPherson, James Oakes, Richard Carwardine, Victoria Bynum und Clayborne Carson –, die die wichtigsten Behauptungen des 1619 Projekts ausführlich widerlegten.[11]
45. Die auf der World Socialist Web Site veröffentlichten Essays und Interviews erregten nationale und internationale Aufmerksamkeit und brachten die New York Times in die Defensive. Der unbeholfene Versuch der Herausgeber, die Glaubwürdigkeit des Projekts durch unangekündigte und/oder unerklärte Korrekturen im Originaltext von Hannah-Jones’ Aufsatz zu retten, trugen nur dazu bei, ihre erbärmliche Propagandakampagne weiter zu diskreditieren.
46. Die Rolle, die die WSWS dabei spielte, das 1619 Project zu entlarven, war von immenser intellektueller und politischer Bedeutung. Die trotzkistische Bewegung war von Anfang an gezwungen gewesen, die grotesken Lügen der stalinistischen und bürgerlichen Historiker über die Oktoberrevolution und die sowjetische Geschichte zu widerlegen. Nach der Auflösung der UdSSR veröffentlichte das Internationale Komitee einen immensen Fundus an Literatur, in der die Lügen der postsowjetischen Schule der Geschichtsfälschung entlarvt wurden. Dazu zählten auch die Werke von Wadim Rogowin[12] – die in enger Zusammenarbeit mit dem Internationalen Komitee verfasst wurden – sowie die Aufsätze, die entstanden, um die gegen Trotzki lancierten Verleumdungen der Professoren Ian Thatcher, Geoffrey Swain und Robert Service zu beantworten. Diese Texte wurden in dem Band Verteidigung Leo Trotzkis veröffentlicht.[13]
47. Es war zu erwarten, dass es der trotzkistischen Bewegung zufallen würde, beim Kampf gegen die Fälschung der Geschichte der sozialistischen Bewegung die führende Rolle zu spielen. Aber die Tatsache, dass selbst die Verteidigung der amerikanischen Revolution und des Bürgerkriegs das Eingreifen der trotzkistischen Bewegung erforderte und von ihr völlig abhängig war, hat weitreichende politische Bedeutung. Es handelt sich um die Bestätigung einer grundlegenden Prämisse der Theorie der Permanenten Revolution in der Sphäre des intellektuellen Lebens der Vereinigten Staaten. In der Epoche des imperialistischen Niedergangs kann die systematische und unbeugsame Verteidigung der entscheidenden und dauerhaften Errungenschaften der demokratischen Revolutionen – einschließlich der intellektuellen Verteidigung ihrer historischen Legitimität – nur durch den Kampf der sozialistischen Bewegung und die Mobilisierung der Arbeiterklasse gewährleistet werden.
48. Anfang 2020 erschien in der Neujahrsausgabe der World Socialist Web Site ein Ausblick mit der Überschrift „Das Jahrzehnt der sozialistischen Revolution ist angebrochen“.[14] Darin heißt es:
Mit dem neuen Jahr ist ein Jahrzehnt des verschärften Klassenkampfs und der sozialistischen Weltrevolution angebrochen.
Wenn in der Zukunft kluge Historiker über die Umwälzungen des 21. Jahrhunderts schreiben, werden sie all die „offensichtlichen“ Anzeichen aufzählen, die zu Beginn der 2020er Jahre auf den revolutionären Sturm hindeuteten, der bald über den Globus hinwegfegen sollte. Die Gelehrten werden – anhand einer Unmenge an Fakten, Dokumenten, Grafiken, Websites, Social-Media-Postings und anderer aussagekräftiger digitalisierter Informationen – die 2010er Jahre als eine Periode beschreiben, die von einer unlösbaren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise des kapitalistischen Weltsystems gekennzeichnet war.
Sie werden konstatieren, dass zu Beginn des dritten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts die geschichtliche Entwicklung an genau dem Punkt angelangt war, den Karl Marx theoretisch vorhergesehen hatte: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“
49. Es ist wahrscheinlich, dass viele Leser der Website, einschließlich derjenigen, die im Allgemeinen mit der Sichtweise des Internationalen Komitees übereinstimmen – vielleicht auch Mitglieder unserer Partei –, geneigt waren, diese Perspektive als rhetorische Übertreibung zu betrachten, die durch die Feier eines neuen Jahrzehnts veranlasst wurde, und nicht als eine ernsthafte Bewertung der historischen Situation.
50. Doch die Weitsicht dieser Aussage sollte durch die Ereignisse bestätigt werden. Noch bevor der erste Monat des Jahres 2020 zu Ende war, gingen die ersten Berichte über eine mögliche Pandemie durch die Medien. Die WSWS veröffentlichte ihren ersten Artikel über den Ausbruch des neuartigen Coronavirus am 24. Januar 2020. Sie erkannte schnell die immense globale Gefahr, die von der sich rasch ausbreitenden Pandemie ausging. Am 28. Februar 2020 veröffentlichte das IKVI eine Erklärung mit dem Titel: „Für global koordinierte Notfallmaßnahmen gegen die Coronavirus-Pandemie!“ Das IKVI hat die enormen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Auswirkungen der Pandemie in einer Klarheit erfasst, die von keiner anderen Publikation erreicht wurde. Wir bezeichneten sie als ein „auslösendes Ereignis“, das alle inhärenten Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft auf Weltebene verschärfen würde.
51. Das Internationale Komitee übernahm die Führung im weltweiten Kampf gegen die Pandemie, indem es den Fachleuten des Gesundheitssystems, den Wissenschaftlern und breiten Teilen der Arbeiterklasse eine Perspektive und eine politische Richtung aufzeigte und damit die entscheidende Rolle der Partei bei wichtigen politischen und sozialen Entwicklungen unterstrich. In früheren Zeiten hatten große Gesundheitskrisen zu breit angelegten öffentlichen Initiativen zur Aufklärung der Bevölkerung und der Ausrottung von Infektionskrankheiten geführt. Beim Ausbruch der SARS-CoV-2-Pandemie wurde nichts dergleichen getan. Organisierten und effektiven Widerstand gegen die Politik der „böswilligen Untätigkeit“ – wie die WSWS die Reaktion der bürgerlichen Regierungen bereits im März 2020 beschrieb – leistete nur das Internationale Komitee.
52. Am 6. März 2020 veröffentlichte die SEP eine Erklärung mit dem Titel „Was im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie getan werden muss“.[15] Am 14. März 2020 gab die SEP eine Erklärung ab, in der sie „als Reaktion auf die Coronavirus-Pandemie die sofortige Schließung aller Autofabriken und nicht lebensnotwendigen Betriebe im ganzen Land“ forderte, „bei voller Lohnfortzahlung für alle betroffenen Arbeiter“.[16] Am 17. März folgte eine Erklärung des SEP-Nationalkomitees mit dem Titel „Wie die COVID-19-Pandemie zu bekämpfen ist: Ein Aktionsprogramm für die Arbeiterklasse“.[17] Diese Erklärungen spielten eine wichtige Rolle dabei, spontane Streiks in Michigan auszulösen, die die Unternehmen zur vorübergehenden Schließung von Betrieben in ganz Nordamerika zwangen. Ich denke, es sollte betont werden, dass zu diesem Zeitpunkt die Gesamtzahl der Todesopfer in den Vereinigten Staaten immer noch bei nur einigen Dutzend lag. Und weltweit waren es damals nur ein paar Tausend. Wir haben das Recht zu fragen: Wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn die von unserer Partei vertretene Politik umgesetzt worden wäre? Wir kennen die Antwort: Es hätte das Leben von Millionen gerettet.
53. Die WSWS definierte die drei wichtigsten politischen Reaktionen auf die Pandemie: 1) die kapitalistische Regierungspolitik der „Herdenimmunität“; 2) die liberale-reformistische Antwort der „Mitigation“; und 3) das wissenschaftlich fundierte und notwendigerweise sozialistische Programm der Eliminierung und Ausrottung des Virus. Die WSWS richtete zwei internationale Webinare aus, an denen herausragende Wissenschaftler und Experten für öffentliche Gesundheit teilnahmen, um die Arbeiterklasse aufzuklären und breite Unterstützung für die Umsetzung der Eliminierungs- und Ausrottungspolitik zu gewinnen.[18]
54. Am 24. April 2021 rief das Internationale Komitee zur Gründung der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees auf, als unerlässliche Reaktion auf die Pandemie und die Notwendigkeit, die Kämpfe der Arbeiterklasse auf globaler Ebene zu koordinieren.[19]
55. Im November 2021, kurz vor dem Ausbruch der verheerenden Omikron-Variante, leitete die WSWS eine internationale Untersuchung der Pandemie ein. Diese Initiative, die noch andauert, ist die fortgeschrittenste und umfassendste Untersuchung der globalen gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie und der kriminellen Reaktion der kapitalistischen Regierungen.[20]
56. Die Reaktion des IKVI auf die Pandemie hat sich nicht auf Kommentare beschränkt. Genauer gesagt, ihre Analyse der Pandemie war untrennbar damit verbunden, den massenhaften Widerstand der Arbeiterklasse gegen die mörderische Politik aller Regierungen zu organisieren.
57. Am 6. Januar 2021 orchestrierte Donald Trump einen Sturmangriff auf das Kapitol, um die Ratifizierung von Bidens Sieg bei den Wahlen im November 2020 zu verhindern, seine Kontrolle über das Weiße Haus aufrechtzuerhalten und de facto eine Präsidialdiktatur zu errichten. Der Putschversuch – der von der World Socialist Web Site vorhergesagt worden war – war ein beispielloses Ereignis in der Geschichte der USA und bestätigte die Analyse der SEP über die tödliche Krise der amerikanischen Demokratie. Das Scheitern des Putsches war eher auf die taktische Unerfahrenheit des Mobs als auf den organisierten Widerstand der staatlichen Kräfte zurückzuführen und hat die politische Lage nicht stabilisiert. Die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen stehen unter dem Eindruck des Putsches von 2021.
58. Schließlich, wenn wir die Erfahrungen seit der Schulung von 2019 und unsere Identifikation des Beginns der fünften Phase betrachten: Am 24. Februar 2022 marschierte Russland in die Ukraine ein. Es handelte sich keineswegs um den plötzlichen und unerwarteten Beginn dessen, was die Biden-Regierung, ihre europäischen Amtskollegen und die Medien als „unprovozierten Krieg“ verurteilten, sondern um das Ergebnis gut vorbereiteter Nato-Provokationen, die auf den Maidan-Putsch von 2014 und sogar noch weiter in die Vergangenheit zurückgingen. Sie zielten darauf ab, Russland in einen verhängnisvollen Krieg hineinzuziehen, der das Regime destabilisieren und zum Zusammenbruch der Russischen Föderation führen sollte.
59. Wie wir bereits bei früheren Gelegenheiten festgestellt haben, stellen die Erklärungen, die in den letzten zehn Jahren auf der WSWS veröffentlicht wurden, die erdrückendste Widerlegung des Narrativs vom „unprovozierten Krieg“ dar. Die WSWS hat in hunderten Artikeln und Erklärungen ausdrücklich vor den unerbittlichen Kriegsvorbereitungen der Vereinigten Staaten gegen Russland und China gewarnt. Seit dem 24. Februar 2022 ist die Gesamtzahl der Artikel über den Krieg in der Ukraine auf fast 1.000 angewachsen. Selbst wenn wir uns entschlossen hätten, die gesamte Woche einer Betrachtung der WSWS-Berichterstattung über die Entwicklung des Krieges zu widmen, hätte dieser begrenzte Zeitrahmen eine sorgfältige Auswahl von Dokumenten erfordert.
60. Der Krieg ist der wichtigste Beweis für die Einschätzungen des Internationalen Komitees, dass die trotzkistische Bewegung in die fünfte Phase ihrer Geschichte eingetreten ist und dass die 2020er Jahre ein Jahrzehnt der revolutionären Kämpfe sein werden. Als äußerste Manifestation der Widersprüche des amerikanischen Kapitalismus und des kapitalistischen Weltsystems insgesamt stellt die unerbittliche Eskalation des Krieges die Arbeiterklasse vor die Alternative „Sozialismus oder Barbarei“.
61. Wenn man den seinem Wesen nach existenziellen Charakter der Krise verstehen möchte, setzt dies die Erkenntnis voraus, dass die bewusste Provokation dieses Krieges und die rücksichtslose Entschlossenheit, die Konfrontation sowohl mit Russland als auch mit China – zwei atomar bewaffneten Mächten – zu eskalieren, nicht einfach das Ergebnis einer irrationalen Aggression ist. Wie in den 1930er Jahren sehen die herrschenden Klassen keinen anderen Ausweg aus ihrer Krise als Krieg. Im Jahr 1938 schrieb Trotzki in der Einleitung des Übergangsprogramms, dass die imperialistischen Mächte noch weniger in der Lage seien, den Zweiten Weltkrieg zu verhindern, als sie es am Vorabend des Ersten Weltkriegs waren.
62. Man muss davon ausgehen, dass sich die Biden-Regierung der hohen Wahrscheinlichkeit bewusst ist, dass ein Atomkrieg den Tod von Dutzenden Millionen Menschen und die Zerstörung der Vereinigten Staaten zur Folge hätte – wir sollten sagen, von Hunderten Millionen Menschen allein in den Vereinigten Staaten. Dies kann jedoch nur bedeuten, dass ein Atomkrieg von den herrschenden Eliten als ein Risiko betrachtet wird, das eingegangen werden muss, um Ziele zu erreichen, die für das Überleben des amerikanischen Kapitalismus noch wichtiger sind. Darüber hinaus wäre ein Amerika ohne Kapitalismus aus Sicht der herrschenden Klasse ein Land, das es nicht wert wäre zu retten.
63. In der Analyse des amerikanischen Imperialismus, die das Internationale Komitee über viele Jahrzehnte hinweg entwickelt hat, haben wir betont, dass die Vereinigten Staaten systematisch versuchen, ihren langfristigen wirtschaftlichen Niedergang gegenüber ihren wichtigsten kapitalistischen Konkurrenten durch den Einsatz militärischer Gewalt auszugleichen.
64. Dieser Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Abstieg und dem Rückgriff auf militärische Lösungen ist gewissermaßen zu einem Gesetz der zeitgenössischen Geopolitik geworden. Die Aufrechterhaltung der zentralen Rolle der Vereinigten Staaten in der globalen Geopolitik – ganz zu schweigen von ihrem Streben nach Hegemonie – ist vollständig mit der Aufrechterhaltung des US-Dollars als unbestrittene Weltreservewährung verbunden. Dies ist die zentrale Grundlage nicht nur für die Dominanz Amerikas im Weltgeschehen, sondern auch für die Abwendung des finanziellen Bankrotts im eigenen Land.
65. Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass die Grundlage des Bretton-Woods-Systems, das von 1944 bis 1971 bestand, die Konvertierbarkeit des Dollars in Gold zum Kurs von 35 Dollar pro Unze war. Die Lebensfähigkeit dieses Systems hing von der industriellen und finanziellen Dominanz der Vereinigten Staaten ab, die dem Land Handels- und Zahlungsbilanzüberschüsse garantieren würde. Die Verschlechterung dieser wichtigen Indizes in den 1960er Jahren zwang die Vereinigten Staaten schließlich im August 1971, die Goldbindung des Dollars aufzuheben.
66. Einfach ausgedrückt: Als sich die Verbindlichkeiten im Ausland anhäuften – und ich erinnere mich, dass es 1971 einen sogenannten Überhang von 80 Milliarden Euro-Dollar gab, der es unmöglich machte, weiterhin zu garantieren, dass die Rückführung dieser Dollar aus Europa in die Vereinigten Staaten in Gold beglichen werden konnte – waren die Vereinigten Staaten gezwungen, die offizielle Goldbindung des Dollars aufzugeben und zu einem System freier Wechselkurse überzugehen. Vor fünfzig Jahren! Das heißt, der tägliche Wechselkurs der Währungen würde vom Markt bestimmt und von Faktoren wie der Handelsbilanz eines Landes, den Leistungsbilanzen und der Lage des Staatshaushalts beeinflusst.
67. In den Jahrzehnten, die auf den Zusammenbruch von Bretton Woods folgten, häuften die Vereinigten Staaten immer höhere Schulden und Defizite an. Dennoch wurde die Rolle des Dollars als Weltreservewährung beibehalten, und sei es nur deshalb, weil es keine andere nationale Währung gab, die den Dollar verdrängen könnte. Dies hat den Vereinigten Staaten immense Privilegien verschafft. Als Herausgeber der wichtigsten Währung der Welt durften sie riesige Haushalts-, Handels- und Zahlungsbilanzdefizite anhäufen.
68. Die Ereignisse der letzten 15 Jahre haben jedoch ernsthafte Zweifel am Fortbestehen der einzigartigen globalen Rolle des Dollars aufkommen lassen. Erstens ist das Ausmaß der US-Staatsverschuldung exponentiell angestiegen. Erst 1982 überschritt die Staatsverschuldung die Marke von 1 Billion Dollar. Sie beträgt jetzt über 32 Billionen Dollar. Die Staatsverschuldung beträgt mehr als 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Vereinigten Staaten.
69. Die Explosion der Staatsverschuldung in den letzten 15 Jahren steht in direktem Zusammenhang mit zwei massiven Rettungspaketen für die Wall Street: das erste im Jahr 2008 und die zweite, noch größere Rettungsaktion als Reaktion auf den durch die Pandemie ausgelösten Wall-Street-Crash 2020.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
70. Ein weiterer Faktor, der sich auf den Status des Dollars auswirkt, ist sein zunehmender Einsatz als Waffe der Vereinigten Staaten in Form finanzieller Sanktionen gegen ausländische Konkurrenten, die mit ihren Interessen in Konflikt geraten. So schrieb der einflussreiche US-Außenpolitiker Fareed Zakaria am 24. März 2023 in der Washington Post:
Der Dollar ist die Superkraft der USA. Sie verleiht Washington eine unübertroffene wirtschaftliche und politische Macht. Die Vereinigten Staaten können einseitig Sanktionen gegen Länder verhängen und sie damit von großen Teilen der Weltwirtschaft ausschließen. Und wenn Washington großzügig Geld ausgibt, kann es sicher sein, dass seine Schulden, meist in Form von Schatzbriefen, vom Rest der Welt aufgekauft werden.
71. Zakaria zeigte sich jedoch besorgt darüber, dass die aggressiven Maßnahmen der Vereinigten Staaten eine gefährliche Reaktion hervorrufen. Er schrieb:
Washington hat den Dollar in den letzten zehn Jahren als Waffe benutzt, was viele wichtige Länder dazu veranlasst hat, nach Wegen zu suchen, wie sie sicherstellen können, dass sie nicht das nächste Russland werden. Der Anteil des Dollars an den weltweiten Zentralbankreserven ist von rund 70 Prozent vor 20 Jahren auf heute weniger als 60 Prozent gesunken, Tendenz fallend. Die Europäer und die Chinesen versuchen, internationale Zahlungssysteme außerhalb des auf Dollar lautenden SWIFT-Systems aufzubauen. Saudi-Arabien hat mit der Idee geliebäugelt, seinen Ölpreis in Yuan anzugeben. Indien wickelt den Großteil seiner Öleinkäufe aus Russland in anderen Währungen als dem Dollar ab. Digitale Währungen, die von den meisten Ländern ausgelotet werden, könnten eine weitere Alternative sein; die chinesische Zentralbank hat bereits eine solche geschaffen. Alle diese Alternativen sind mit Kosten verbunden, aber die letzten Jahre sollten uns gelehrt haben, dass die Länder zunehmend bereit sind, einen Preis zu zahlen, um politische Ziele zu erreichen.
72. Die herrschende Klasse in den USA ist zunehmend besorgt, dass Chinas Aufstieg zu einem wichtigen wirtschaftlichen Konkurrenten eine Abkehr vom Dollar beschleunigen könnte; dass ein anderes System zur Finanzierung des Welthandels – möglicherweise auf der Grundlage eines Währungskorbs oder, was noch bedrohlicher ist, auf der Grundlage der verstärkten Verwendung von Gold – dem Dollar seinen einzigartigen Status nehmen würde.
73. Eine im Juni abgehaltene Anhörung des Unterausschusses für Finanzinstitute und Geldpolitik des Ausschusses für Finanzdienstleistungen des Repräsentantenhauses trug den Titel: „Dominanz des Dollars: Den Status des US-Dollars als globale Reservewährung bewahren“. In ihrer Eröffnungsrede erklärte die Kongressabgeordnete Joyce Beatty, eine Demokratin aus Ohio:
Der US-Dollar gilt als die globale Reservewährung, da rund 60 Prozent der weltweiten Zentralbankreserven in US-Dollar gehalten werden. Der Dollar ist die bevorzugte Währung im internationalen Handel. Der Ölpreis wird in US-Dollar festgesetzt und abgerechnet, und ja – fast 90 Prozent der Transaktionen auf den Devisenmärkten betreffen den Dollar. Der Markt für US-Schatzbriefe ist außerdem der tiefste und liquideste Markt der Welt, und die Zuverlässigkeit und Stabilität der US-Kapitalmärkte macht den Dollar zur bevorzugten Währung der Anleger.
Die Dominanz und Vorherrschaft der Währung bringt den Vereinigten Staaten zahlreiche Vorteile, von geringeren Kreditkosten über eine größere finanzielle Stabilität bis hin zum Einfluss auf die globalen Finanzmärkte. Sie ermöglicht es uns auch, wirtschaftliche Maßnahmen gegen diejenigen zu ergreifen, die versuchen, unsere nationale Sicherheit und Außenpolitik zu bedrohen. Angesichts des unbestreitbaren Werts des US-Dollars als dominierende Währung ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir uns mit der Währung und den gegenwärtigen Bedrohungen für sie befassen.
Während wir hier sprechen, arbeiten ausländische Gegner wie Russland und China aktiv daran, den US-Dollar zu untergraben und unsere globale Macht und unseren Einfluss zu schwächen. Dies zeigt sich an der rasanten Anhäufung von Goldreserven in Russland im letzten Jahrzehnt sowie an der Entwicklung von Zahlungssystemen außerhalb von SWIFT in China zur Abwicklung und Verrechnung von Transaktionen.
74. Bei derselben Anhörung äußerte Marshall Billingslea – der im Krieg gegen den Terrorismus an der Entwicklung von „erweiterten Verhörtechniken“ beteiligt war und viele hochrangige staatliche Positionen bekleidete – seine Sorge, dass der Dollar das Schicksal des spanischen Silberdollars des 16. Jahrhunderts, des niederländischen Gulden des 17. Jahrhunderts und schließlich des britischen Pfund Sterlings erleiden werde. Er erklärte: „Der Zusammenhang zwischen der Landeswährung, die bei der Abwicklung des Handels bevorzugt wird, und der relativen Dominanz dieses Landes auf der Weltbühne ist eindeutig.“ Er fuhr fort:
Und deshalb streben Führer wie Lula, Putin und Xi danach, die Rolle des Dollars als Weltreservewährung zu untergraben, ebenso wie sie danach streben, den internationalen Sicherheitsrahmen zu untergraben, den wir nach dem Zweiten Weltkrieg so mühsam aufgebaut haben. Letztlich sehen sie darin eine Möglichkeit, die Vereinigten Staaten als Führer der freien Welt abzulösen. Kurzfristig sehen sie darin eine Möglichkeit, unsere Fähigkeit zu untergraben, Finanzen als Instrument zur Wahrung unserer nationalen Sicherheit einzusetzen.
75. Bezeichnenderweise äußerte Billingslea große Besorgnis über die Anhäufung von Gold durch Russland und China. Er sagte:
Im März 2018 begann Russland damit, seinen Besitz an US-Staatsanleihen von 96 Milliarden Dollar auf 15 Milliarden Dollar zu reduzieren. Auch Russland begann, große Mengen Gold zu kaufen und wurde zum fünftgrößten Goldbesitzer der Welt (mit 2.300 Tonnen) …
China beginnt nun ebenfalls, massenhaft Gold zu kaufen. Ich habe die Daten für Mai noch nicht gesehen, aber der April war der sechste Monat in Folge, in dem China seine Goldreserven vergrößert hat, wobei die Bestände auf über 2.000 Tonnen anstiegen. Zumindest sind das die offiziellen Zahlen. Ich vermute, dass die Zahl in Wirklichkeit viel höher ist und dass sie die Mengen verschweigen, die durch den chinesischen Goldabbau auf der ganzen Welt erzeugt werden; China ist der größte Goldproduzent der Welt und die Hälfte davon ist in Staatsbesitz. China ist auch der größte Goldimporteur der Welt, wobei ein Großteil des Goldes nicht deklariert wird. Zumindest baut die VR China eine Kriegskasse mit Vermögenswerten auf, die durch Finanzsanktionen schwerer zu erreichen sein werden. Wenn China jedoch damit beginnt, Yuan-Kontrakte mit Gold zu unterlegen, könnte dies auch ein wesentliches Hindernis dafür beseitigen, dass der Yuan den Dollar herausfordern kann, indem Bedenken hinsichtlich der Konvertibilität ausgeräumt werden.
76. Jeffrey A. Frankel von der Harvard Kennedy School präsentierte am 24. März 2023 ein Papier auf einer Konferenz des Peterson Institute for International Economics in Washington DC. Die Sitzung, auf der er sprach, trug den Titel: „Kann das auf dem Dollar basierende System verbessert oder ersetzt werden?“
Er wies auf die neuerliche Bedeutung von Gold hin. Nationale Währungen sind nicht notwendigerweise die einzige Art von internationalen Reserven und auch nicht die einzige Art von internationalen Rechnungseinheiten oder Zahlungsmitteln. Eine alternative Anlageform, die bis vor kurzem von den meisten Ökonomen als „Relikt der barbarischen Vergangenheit“ betrachtet wurde, spielt nun wieder eine aktive Rolle als Bestandteil der internationalen Reserven: Das Gold. Die andere Alternative ist eine neue: Kryptowährungen (ein Symbol für eine barbarische Zukunft?)
Lange waren wir der Meinung, dass die Goldbestände der Zentralbanken ein Anachronismus sind. Die Währungsbehörden vieler Länder besaßen noch etwas Gold, behandelten es aber nicht als aktiven Teil ihrer internationalen Reserven. Das heißt, sie haben es weder gekauft noch verkauft. In den letzten Jahren haben die Zentralbanken, insbesondere in Asien, jedoch aktiv Gold gekauft (und verkauft).
77. Der Krieg in der Ukraine ist mitten in seinem zweiten Jahr. Das Ausmaß von Tod und Zerstörung übersteigt alles, was es in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegeben hat. Die Zahl der gefallenen oder verwundeten ukrainischen und russischen Soldaten ist nicht bekannt. Weder das ukrainische noch das russische Regime geben genaue Zahlen an. Es liegen jedoch genügend Informationen vor, um die Zahl der ukrainischen Todesopfer plausibel auf mindestens 200.000 und möglicherweise deutlich höher zu schätzen. Die Zahl der russischen Todesopfer dürfte sich der Zahl von 100.000 nähern. Praktisch alle, die getötet wurden, tragen keine Verantwortung für diesen Krieg. Die ukrainischen und russischen Toten sind die unschuldigen Opfer der Entscheidungen der imperialistischen Mächte der Nato, ihrer Handlanger in Kiew und des politisch bankrotten Regimes in Moskau.
78. Es ist richtig, dass die Vereinigten Staaten und die Nato den Krieg angezettelt haben. Die reaktionäre Entscheidung des Putin-Regimes zum Einmarsch ist jedoch das Endprodukt der Auflösung der Sowjetunion, der Restauration des Kapitalismus und der Übertragung der politischen Macht an eine Bande korrupter Oligarchen. Alle verhängnisvollen Fehlkalkulationen der Putin-Regierung haben ihren Ursprung in der wahnhaften Vorstellung, dass die Wiederherstellung des Kapitalismus zu Wohlstand und einer wohlwollenden Integration Russlands in die Bruderschaft der kapitalistischen Nationen führen würde. Putin glaubte, es würde ausreichen, den Marxismus und die Oktoberrevolution zu denunzieren, um das Vertrauen und die Freundschaft seiner so genannten „westlichen Partner“ zu gewinnen … Doch der amerikanische und europäische Imperialismus will Putins Freundschaft nicht. Er will uneingeschränkten Zugang zu russischem Gold, Platin, Lithium, Molybdän, Titan, Kobalt und anderen wichtigen strategischen Metallen und Mineralien, die im Boden dieses riesigen Landes zu finden sind.
79. Dieser Krieg ist keine vorübergehende Episode. Unabhängig vom kurzfristigen Ausgang der Kämpfe ist der Konflikt ein Meilenstein in der Normalisierung von Krieg und der Akzeptanz von Massenvernichtung für die Verfolgung geopolitischer Ziele. Die US-amerikanische herrschende Klasse versucht kaum, ihre Pläne für eine globale Kriegskampagne zu verbergen. Ein Krieg gegen Russland und China ist keine Frage des „ob“, sondern des „wie“ und „wann“. In einer unverblümten Zurschaustellung geopolitischer Ziele vertrat die einflussreiche Zeitschrift The National Interest die Auffassung, dass das Hauptziel der amerikanischen Diplomatie nicht darin bestehen sollte, einen Krieg mit Russland und China zu verhindern, sondern „einen Weg zu finden, die Auseinandersetzungen mit diesen beiden Mächten zu staffeln, um sicherzustellen, dass man nicht beiden gleichzeitig in einem Krieg gegenübersteht“.
80. Der Ukrainekrieg ist die stärkste Bestätigung dafür, dass das Internationale Komitee den revolutionären Charakter des gegenwärtigen Jahrzehnts erkannt hat. Doch wie verhält sich dies zu seiner Einschätzung der fünften Phase der Geschichte der Vierten Internationale? Die Antwort auf diese Frage erfordert ein marxistisches Verständnis der Beziehung zwischen der objektiven Entwicklung der kapitalistischen Krise und der unvermeidlichen Verschärfung des Klassenkonflikts und der subjektiven Praxis der revolutionären Partei im Kontext einer revolutionären Epoche.
81. In all seinen wichtigen Erklärungen zur Kriegsfrage betonte Trotzki immer wieder zwei grundlegende Punkte. Der erste Punkt ist, dass der Drang zum imperialistischen Krieg nur durch den revolutionären Sturz des Kapitalismus durch die Arbeiterklasse gestoppt werden kann. Der zweite Punkt ist, dass dieser Sturz nur durch den Aufbau der Vierten Internationale als revolutionärer Führung der Arbeiterklasse erreicht werden kann. Die Entwicklung der spontanen Bewegung der Arbeiterklasse ohne revolutionäre Führung wird weder dem Krieg Einhalt gebieten noch die Errichtung des diktatorisch-faschistischen Regimes stoppen, das für die herrschende Klasse erforderlich ist, damit sie einen totalen Krieg führen kann.
82. In seiner abschließenden vierstündigen Rede vor der Dewey-Kommission im April 1937 antwortete Trotzki auf die stalinistische Lüge, er begrüße den Krieg als Mittel zur Beschleunigung des Ausbruchs der Revolution. Seine folgende Aussage war eine prägnante Darstellung der Beziehung zwischen Krieg und Revolution.
Der Krieg hat in der Tat oft die Revolution beschleunigt. Aber gerade deshalb hat sie oft zu misslungenen Ergebnissen geführt. Der Krieg verschärft die sozialen Widersprüche und die Unzufriedenheit der Massen. Aber für den Triumph der proletarischen Revolution reicht dies nicht aus. Ohne eine in den Massen verwurzelte revolutionäre Partei führt die revolutionäre Situation zu den grausamsten Niederlagen. Die Aufgabe besteht nicht darin, das Herannahen des Krieges zu „beschleunigen“ – daran arbeiten die Imperialisten aller Länder leider nicht ohne Erfolg. Es geht darum, die Zeit, die die Imperialisten den arbeitenden Massen lassen, für den Aufbau einer revolutionären Partei und revolutionärer Gewerkschaften zu nutzen.
Es liegt im vitalen Interesse der proletarischen Revolution, dass der Ausbruch des Krieges so lange wie möglich hinausgezögert wird, dass möglichst viel Zeit für die Vorbereitung gewonnen wird. Je entschlossener, je mutiger, je revolutionärer das Verhalten der Werktätigen, desto mehr werden die Imperialisten zögern, desto sicherer wird es möglich sein, den Krieg zu verschieben, desto größer wird die Chance sein, dass die Revolution vor dem Krieg stattfindet und vielleicht den Krieg selbst unmöglich macht …
Krieg und Revolution sind die schlimmsten und tragischsten Phänomene der Menschheitsgeschichte. Mit ihnen darf man nicht scherzen. Sie dulden keinen Dilettantismus. Nicht weniger klar muss man die Wechselbeziehung zwischen den objektiven revolutionären Faktoren, die nicht beliebig herbeigeführt werden können, und dem subjektiven Faktor der Revolution – der bewussten Avantgarde des Proletariats, seiner Partei – verstehen. Es ist notwendig, diese Partei mit äußerster Energie vorzubereiten.
83. Das ist die Perspektive, auf die unsere Partei ihre Arbeit stützen muss. Das ist die einzige realistische Perspektive. Unsere Arbeit geht von der fundamentalen und historisch belegten Prämisse aus, dass die Arbeiterklasse die grundlegende revolutionäre Kraft in der Gesellschaft darstellt, die aufgrund ihrer objektiven Rolle im Produktionsprozess in der Lage ist, das kapitalistische System zu stürzen und eine Alternative zu diesem System zu schaffen, den Sozialismus. Es ist keine müßige Spekulation, ob die Arbeiterklasse ein politisches Selbstbewusstsein und ein Verständnis ihrer historischen Aufgaben erlangen kann. Was erreicht werden kann oder nicht, wird sich in der Praxis zeigen. Wie Trotzki gesagt hätte, wird diese Frage im Kampf entschieden. Es ist zweifellos richtig, dass Revolutionen Niederlagen erlitten haben. Aber es hat sich gezeigt – vor allem in der Erfahrung von 1917 –, dass die Arbeiterklasse, wenn sie die notwendige Führung hat, die herrschende Klasse stürzen kann.
84. Wir werden keine Zeit mit Spekulationen darüber verschwenden, ob die Arbeiterklasse kämpfen wird oder nicht, oder ob die amerikanische Arbeiterklasse die sozialistische Lösung für die Krise akzeptieren wird. Unsere Anstrengungen müssen sich darauf konzentrieren, die Arbeit der Partei auf das höchstmögliche Niveau zu heben. Doch wenn die Skeptiker immer noch eine eindeutigere Antwort verlangen, werde ich antworten, dass wir genügend Beispiele für soziale Massenkämpfe in den Vereinigten Staaten und auf internationaler Ebene haben, die das Vertrauen in das Potenzial der Arbeiterklasse rechtfertigen. Die Welt brodelt vor revolutionärem Zorn. Auf der ganzen Welt herrscht eine aufrührerische Stimmung. Die Straßen von Paris haben sich immer wieder mit Hunderttausenden Demonstranten gefüllt. Das Haupthindernis für die Entwicklung der Revolution ist nicht die mangelnde Kampfbereitschaft der Arbeiter, sondern ihre Sabotage durch die Gewerkschaften und reaktionären politischen Organisationen, die in vielen Fällen von den pseudolinken Tendenzen aus der wohlhabenden Mittelschicht dominiert werden.
85. Darüber hinaus hat die Intervention der Partei bei den UAW-Wahlen im vergangenen Jahr einen Einblick in das Bewusstsein der Arbeiterklasse vermittelt. Die Kandidatur des Genossen Will Lehman, der sich offen zu seinen sozialistischen Überzeugungen bekannte und die Abschaffung des Apparats forderte, erhielt die Unterstützung von 5.000 Autoarbeitern. Und Tausende weitere hätten für ihn gestimmt, wenn sie überhaupt von der Wahl gewusst hätten. Die Bürokratie, die das Wachstum der politischen Radikalisierung und einer Bewegung in Richtung des Sozialismus erkannt hat und fürchtet, hat jedoch alles in ihrer Macht Stehende getan, um die Wahlbeteiligung der Arbeiter zu senken.
86. Die Lehman-Kampagne ist ein bedeutender Beweis dafür, dass die SEP eine zum Kampf entschlossene Opposition innerhalb der Arbeiterklasse anführt, die sich gegen die bürokratischen Apparate der reaktionären Gewerkschaften richtet. Die von der Partei initiierte Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees (IWA-RFC) entwickelt sich in den Vereinigten Staaten und international zu einer echten Bewegung kämpfender Arbeiter in Betrieben und an Arbeitsplätzen im ganzen Land.
87. Das Wachstum der Massenbewegung der Arbeiterklasse stellt aber immer größere Anforderungen an die Mitglieder der Partei. Die Bewältigung dieser Herausforderungen erfordert eine verstärkte Aufmerksamkeit für die Bildung der Parteimitglieder. Das wichtigste Element dieser Ausbildung besteht darin, die Kenntnisse und das Verständnis der Kader über die Geschichte der trotzkistischen Bewegung zu verbessern.
88. Für die marxistische Bewegung war historisches Wissen immer die Grundlage der revolutionären Praxis. Die Aufarbeitung historischer Erfahrungen ist die Grundlage für eine theoriegeleitete Praxis. Sie muss über einen pragmatischen Politikansatz hinausgehen, der in der Regel individuelle Erfahrungen und persönliche Eindrücke zum Ausgangspunkt politischen Handelns macht. In einem wichtigen Aufsatz über die philosophischen Tendenzen des Bürokratismus schrieb Trotzki:
...[A]ber haben die Empiriker nicht recht, die sich von der „direkten“ Praxis als höchster Instanz leiten lassen? Sind sie dann nicht die konsequentesten Materialisten? Nein, sie stellen eine Karikatur des Materialismus dar. Sich von der Theorie leiten zu lassen, bedeutet, sich von Verallgemeinerungen leiten zu lassen, die auf allen bisherigen praktischen Erfahrungen der Menschheit beruhen, um das eine oder andere praktische Problem des Tages so erfolgreich wie möglich zu bewältigen. Durch die Theorie entdecken wir also genau den Vorrang der Praxis als Ganzes vor bestimmten Aspekten der Praxis.
89. Die Verallgemeinerungen, auf die die revolutionäre Partei zurückgreift, um ihre Antwort auf die Probleme der gegenwärtigen Krise und die Entwicklung des Klassenkampfs zu finden, beruhen auf dem Durcharbeiten eines großen historischen Erfahrungsschatzes. Bei dem Versuch, die Degeneration der Bolschewistischen Partei zu erklären, griff Trotzki, der einst als Mann der Geschichte bezeichnet wurde, auf die Ereignisse der Französischen Revolution zurück und verwendete den Begriff Thermidor – die Periode der politischen Reaktion, die im Juli 1794 mit der Hinrichtung Robespierres begann –, um die Vorgänge in der Regierungspartei des sowjetischen Arbeiterstaats zu erklären.
In den Monaten unmittelbar vor der Oktoberrevolution widmete sich Lenin dem erneuten Studium der Schriften von Marx und Engels über die Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871. Aus dieser Studie ging nicht nur Lenins brillanter Beitrag zur marxistischen Wissenschaft, Staat und Revolution, hervor, sondern auch die politische Machteroberung der Bolschewistischen Partei.
90. Marxisten sind nicht einfach Bücherwürmer. Trotzki hat sich einmal sarkastisch über den Akademiker geäußert, der lesend über den Zustand der Menschheit grübelt, während er mit dem Finger in seiner Nase herumstochert. Parteimitglieder, die mit ihrer täglichen Arbeit beschäftigt sind, können sich nicht den Luxus leisten, unbegrenzt Zeit für die Lektüre aufzuwenden. Die Zeit, die ihnen zur Verfügung steht, sollte jedoch in erster Linie dazu genutzt werden, die Geschichte der Partei, für deren Aufbau sie kämpfen, gründlich aufzuarbeiten und die Lehren aus den wesentlichen historischen Erfahrungen zu ziehen, die sie in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gemacht hat.
91. Natürlich wirft die politische Bildung der jungen Generation besondere Probleme auf. Erstens steht das allgemeine politische Umfeld – unter dem Einfluss der Frankfurter Schule und der Postmoderne – dem Studium der Geschichte feindlich gegenüber. Die Postmodernisten haben die Notwendigkeit verkündet, das Konzept der objektiven Wahrheit und das Studium der so genannten „Großen Erzählungen“ aufzugeben, womit sie im Allgemeinen die materialistische Geschichtsauffassung und im Besonderen Werke wie das Kommunistische Manifest, das Kapital und natürlich Trotzkis Geschichte der Russischen Revolution und Die verratene Revolution meinten. Um es offen zu sagen: Wir leben in einem Zeitalter von Lügen, die von den Akademikern gebilligt werden. Wie der Krieg in der Ukraine und die Karriere von Schurken wie Timothy Snyder gezeigt haben, wird der Unterschied zwischen Geschichtsschreibung und Propaganda von einem großen Teil der akademischen Gemeinschaft ignoriert.
92. Dieses reaktionäre Umfeld hat zu einer allgemeinen Verschlechterung des historischen Wissensstands beigetragen. Für viele Mitglieder beginnt ihre historische Bildung mit dem Eintritt in das Internationale Komitee der Vierten Internationale.
93. Doch wie sollen neue Mitglieder, die einer Sektion des Internationalen Komitees beigetreten sind, die umfangreichen Erfahrungen der trotzkistischen Bewegung assimilieren? Als meine Generation der Workers League beitrat, lag kaum mehr als ein halbes Jahrhundert zwischen uns und der Oktoberrevolution. Zwischen der Gründung der Linken Opposition im Jahr 1923 und der Welt von 1970 oder 1971 liegen nur 47 oder 48 Jahre – also die gleiche Zeitspanne, die uns heute von 1976 trennt! Unsere Ausbildung konzentrierte sich auf das Studium der Ursprünge der trotzkistischen Bewegung, die Gründung der Vierten Internationale, den historischen Fraktionskampf von 1939-1940 gegen die kleinbürgerliche Minderheit von Shachtman, Burnham und Abern, die Entwicklung des pablistischen Revisionismus, die zur Herausgabe des Offenen Briefes und zur Spaltung von 1953 führte, und den anschließenden Kampf der britischen Trotzkisten gegen die Wiedervereinigung. Natürlich gab es viele Lücken in unserem Wissen. Aber das, was wir studierten – die verfügbaren Schriften Trotzkis und die wichtigsten Dokumente des Internationalen Komitees der Vierten Internationale – ermöglichte uns, das theoretische und programmatische Erbe des Trotzkismus gegen den Verrat der Workers Revolutionary Party zu verteidigen.
94. Wir haben alles, was wir konnten, aus den Erfahrungen der revolutionären marxistischen Bewegung abgeleitet und übernommen. Ich erinnere mich an eine Episode. Ende Oktober 1985 wurde uns klar, dass viele Mitglieder der WRP in die Bewegung hineingebracht worden waren, ohne dass sie die Geschichte des Internationalen Komitees kannten oder sich überhaupt bewusst waren, dass sie Teil einer internationalen Bewegung waren, und dass sie nicht als trotzkistische Kader wirken konnten. Wir hatten keine Ahnung, wo ihre politischen Sympathien lagen. Und so schlug das Internationale Komitee – ich glaube, es war am 25. Oktober 1985 – vor, dass alle Mitglieder, die Mitglied der Workers Revolutionary Party sein wollten, auf der Grundlage der ausdrücklichen Erklärung neu registriert werden sollten, dass sie die politische Autorität des Internationalen Komitees anerkennen. Banda und Slaughter sahen sich gezwungen, diesen Vorschlag anzunehmen, den sie übrigens später ablehnten. Banda kam nach dem Treffen auf mich zu und fragte: „Wie bist du darauf gekommen?“ Und ich sagte: „Mike, das war eine Grundvoraussetzung für die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Internationale.“ Die Grundlage für die Aufnahme war die Zustimmung zu den 21 Punkten der Kommunistischen Internationale. Auf dieser Grundlage versuchten sie, den Reformismus und Zentrismus der Zweiten Internationale zu bekämpfen. Banda war überrascht. Wahrscheinlich hatte er zu diesem Zeitpunkt seiner politischen Degeneration bereits sämtliche Lehren der Kommunistischen Internationale vergessen.
95. Für uns waren die Erfahrungen der revolutionären marxistischen Bewegung die Substanz, das Fundament unserer Praxis. Als wir uns in den 1970er Jahren der Bewegung anschlossen, gab es viel zu lernen. Aber wir haben uns dieser großen Erfahrung intensiv gewidmet. Kürzlich stieß ich auf ein Dokument, das vom Zentralkomitee der Workers League im November 1979 zu Ehren des hundertsten Geburtstages von Leo Trotzki vor 44 Jahren verfasst wurde. In diesem Dokument heißt es an einer Stelle:
Die Sowjetunion war ein Übergangsregime, in dem der Kapitalismus zwar gestürzt, der Sozialismus aber noch nicht aufgebaut worden war und in dem die Bürokratie den Kampf für den Sozialismus täglich untergrub. Der degenerierte Arbeiterstaat stand vor der Alternative, entweder durch den Sturz der Bürokratie und die Ausweitung der Revolution zum Sozialismus vorzustoßen oder durch die vom Stalinismus unterstützte Konterrevolution den Kapitalismus zu restaurieren. Trotzki sagte die politische Revolution voraus und forderte sie, um den Stalinismus zu zerschlagen, die Planwirtschaft zu verteidigen und die Sowjetunion wieder auf den Weg zum Sozialismus zu bringen. An dieser grundlegenden Sichtweise ist nichts – kein einziges Komma – zu ändern.
So dachten wir über die Geschichte der trotzkistischen Bewegung und ihr Programm. Nichts war Gegenstand von Revision, nicht einmal ein Komma. Man konnte das Programm der trotzkistischen Bewegung entwickeln. Man konnte es erweitern. Aber wir würden keinen Versuch dulden, es zu verändern, abzuschwächen oder zu zerstören. Und dieser Geist, der nach meinem Dafürhalten die Stimmung und den Geist der Workers League in den 1970er Jahren zum Ausdruck brachte, trug nicht unwesentlich zu der Entschlossenheit bei, mit der wir in den 1980er Jahren den Kampf gegen die WRP-Renegaten führten.
96. Seit der Spaltung mit der WRP sind fast vierzig Jahre vergangen. Die Ursprünge und die Entwicklung dieses Kampfs sind nun ein entscheidendes Element der historischen Erfahrung, das von den Kadern des Internationalen Komitees studiert und verarbeitet werden muss. Ja, Genossinnen und Genossen, besonders die jüngeren unter euch, wir haben viel in den Lehrplan aufgenommen, das die Grundlage für eure Leseliste bilden muss. Was euch helfen kann, ist die Tatsache, dass die Konflikte der Zeit von 1982 bis heute immer wieder auf die vorangegangene historische Erfahrung der trotzkistischen Bewegung verweisen. Bei der Lektüre dieser Dokumente kann man zugleich die Erfahrungen der gesamten Geschichte des Trotzkismus aufarbeiten und daraus lernen. Aus diesem Grund ist das Studium der Geschichte des Internationalen Komitees die wesentliche Grundlage für die Ausbildung der Kader der Weltpartei der sozialistischen Revolution. Und wir sind überzeugt, dass die Arbeit der bevorstehenden Woche eine wichtige Rolle dabei spielen wird, das theoretische Niveau jedes Mitglieds unserer Partei in den Vereinigten Staaten und weltweit anzuheben.
Internationales Komitee der Vierten Internationale, »Wie die Workers Revolutionary Party den Trotzkismus verraten hat, 1973–1985«, in: Vierte Internationale, Jg. 13, Nr. 1 (Sommer 1986)
https://www.wsws.org/de/special/library/ikvi-wie-die-wrp-den-trotzkismus-verraten-hat/00.html
David North, »M. Banda wird zum Stalinisten«, in: Das Erbe, das wir verteidigen, Mehring Verlag 2019
https://www.mehring-verlag.de/library/north-erbe-das-wir-verteidigen/00.html
Internationales Komitee der Vierten Internationale, »Marxismus, Opportunismus und die Balkankrise«, Arbeiterpresse Verlag 1994
https://www.mehring-verlag.de/library/ikvi-marxismus-opportunismus-und-die-balkankrise/00.html
David North, »Die politischen Ursachen und Folgen der Spaltung von 1982–1986 im Internationalen Komitee der Vierten Internationale«, in: Die Vierte Internationale und die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution 1986–1995, https://www.wsws.org/de/articles/2019/08/10/ikvi-a10.html
Leo Trotzki, »Das Übergangsprogramm«, Arbeiterpresse Verlag 1997
https://www.mehring-verlag.de/library/trotzki-uebergangsprogramm-der-vierten-internationale/00.html
David North, »Bericht über das 8. Plenum des Internationalen Komitees der Vierten Internationale an die Mitgliederversammlung in Detroit«, in: Bund Sozialistischer Arbeiter, Internes Bulletin, Nr. 2, 1989, S. 5.
David North, »Die politischen Ursachen und Folgen der Spaltung von 1982–1986 im Internationalen Komitee der Vierten Internationale«, in: Die Vierte Internationale und die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution 1986–1995, https://www.wsws.org/de/articles/2019/08/10/ikvi-a10.html
Ebd.
The 1619 Project, New York Times, https://www.nytimes.com/interactive/2019/08/14/magazine/1619-america-slavery.html
Niles Niemuth, Tom Mackaman, David North, »‘The 1619 Project‘: New York Times veröffentlicht rassistische Geschichtsfälschung«
https://www.wsws.org/de/articles/2019/10/02/proj-o02.html
David North, Thomas Mackaman (Eds.), »The New York Times’ 1619 Project and the Racialist Falsification of History«, Mehring Books 2021
https://www.wsws.org/en/special/library/nyt-1619-project-racialist-falsification-history/00.html
Wadim S. Rogowin, »Gab es eine Alternative?«, Mehring Verlag 2010
https://www.mehring-verlag.de/library/rogowin-paket-6-buecher/00.html
David North, »Verteidigung Leo Trotzkis«, Mehring Verlag 2012
https://www.mehring-verlag.de/library/in-defense-of-leon-trotsky/00.html
David North, Joseph Kishore, »Das Jahrzehnt der sozialistischen Revolution ist angebrochen«, World Socialist Web Site 4. Januar 2020, https://www.wsws.org/de/articles/2020/01/04/pers-j04.html
Internationales Komitee der Vierten Internationale, »Für global koordinierte Notfallmaßnahmen gegen die Coronavirus-Pandemie!«, World Socialist Web Site, Februar 2020, https://www.wsws.org/de/articles/2020/02/29/pers-f29.html
Socialist Equality Party, »Shut down the auto industry to halt the spread of coronavirus!«, World Socialist Web Site, März 2020, https://www.wsws.org/en/articles/2020/03/14/awnl-m14.html
»Wie die COVID-19-Pandemie zu bekämpfen ist: Ein Aktionsprogramm für die Arbeiterklasse«, World Socialist Web Site, März 2020 https://www.wsws.org/de/articles/2020/03/18/pers-m18.html
Siehe: »How to end the pandemic – an international webinar with scientists and workers«, World Socialist Web Site, Oktober 2021
https://www.wsws.org/en/special/pages/how-to-end-the-pandemic.html
Internationales Komitee der Vierten Internationale, »Vorwärts zur Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees!«, World Socialist Web Site, April 2021, https://www.wsws.org/de/articles/2021/04/24/pers-a25.html
Internationale Redaktion der World Socialist Web Site, »Für globale Ermittlungen zur Covid-19-Pandemie durch die Arbeiter«, World Socialist Web Site, November 2021, https://www.wsws.org/de/articles/2021/11/23/pers-n23.html