Tausende protestieren in Deutschland gegen Bildungsnotstand

Am vergangenen Samstag fanden in rund 30 Städten Deutschlands Demonstrationen gegen den verheerenden Zustand im öffentlichen Bildungssektor statt. Dem Aufruf des Bündnisses „Schule muss anders“, dem 170 Bildungsorganisationen und Initiativen angehören, folgten bundesweit zwischen 15.000 und 20.000 Teilnehmer (Berlin rund 7.000, München 2.000, Köln 3.000 Teilnehmer).

Ein Ausschnitt der Demonstration in Köln

Im Aufruf zum Bildungsprotesttag „Bildungswende JETZT“ wenden sich die Initiatoren an die Bundes- und Landesregierungen sowie die Kultusministerkonferenz (KMK) und stützen sich dabei auf ihre gleichnamige Online-Petition, die mehr als 70.000 Menschen unterzeichnet haben.

Mit ihren vier zentralen Forderungen, darunter mindestens 100 Milliarden Euro „Sondervermögen Bildung“, „für ein gerechteres, zukunftsfähiges und inklusives Bildungswesen, das auf die Zukunft vorbereitet, wollen sie einer der aktuell „schwersten Bildungskrisen seit Gründung der Bundesrepublik“ entgegentreten.

Video der Demonstration in Berlin

Bundesweit fehlen hunderttausende Kita-Plätze sowie 300.000 Erzieher in Deutschland. Im Bereich der Schulen werden bis 2035 insgesamt mehr als 160.000 Lehrkräfte fehlen. Laut Lehrerverband werden allein für das kommende Schuljahr bereits bis zu 40.000 Lehrkräfte fehlen.

„Ein enormer und sich vergrößernder Mangel“ an Lehrkräften und Erziehungspersonal „trifft auf ein veraltetes, unterfinanziertes und segregiertes Bildungssystem, das sozial ungerecht ist“, konstatiert das Bündnis.

Doch die Gewerkschafter und Politiker, die das Bündnis führen, sind selbst für die Misere im Bildungssystem verantwortlich, die sie lauthals beklagen. Sie sehen in den Protesten nicht mehr als eine Gelegenheit, Dampf abzulassen und ihre eigene rechte und bildungsfeindliche Politik zu kaschieren.

Geleitet wird das Bündnis von den Vorständen Philipp Dehne (Lehrer), Sprecher der Linksfraktion in der BVV Berlin-Neukölln für Bildung und Kultur, und Ahmed Abed (Rechtsanwalt), Fraktionsvorsitzender der BVV Linkspartei in Berlin-Neukölln, sowie von Jörg Tetzner, Mitglied der Bezirksleitung GEW Berlin-Neukölln, und Annick Hartmann vom Eltern-Netzwerk.

Damit wird der Vorstand ausgerechnet von Mitgliedern der Partei geleitet, die in Berlin seit den 2000ern fast zwanzig Jahre lang für den sozialen und kulturellen Niedergang verantwortlich ist.

Gemeinsam mit ihren Koalitionspartnern SPD und Grünen und in enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften haben sie Berlin zur „Hauptstadt der Armut“ gemacht. Drastische Haushaltskürzungen in allen sozialen Bereichen und Milliarden Euro an Subventionen und Unterstützung für Unternehmen haben in Berlin Kinderarmut, Wohnungsnot und Niedriglohnarbeit explodieren lassen. Kinder und ihre Bildung sind die Hauptleidtragenden dieser Politik. Viele Schulen sind marode und gerade in den sozialen Brennpunkten ist der Lehrermangel eklatant.

Nun sollen auf Bundesebene erneut über eine Milliarde Euro bei der Bildung gespart werden, um neue Milliardengeschenke an die Unternehmen und die größte Aufrüstung seit Hitler umzusetzen.

Die Demonstrationen waren daher von einem scharfen Widerspruch geprägt. Die enorme Wut unter Eltern, Erziehern und Lehrern über die horrenden Missstände im Bildungsbereich kam nur bedingt zum Ausdruck. Weil Parteien und Gewerkschaften kaum dafür mobilisiert hatten, kamen vor allem Personen aus deren eigenem Umfeld zu den Protesten. Rechtfertigungen für die Politik der Linkspartei, der SPD und der Grünen und sogar Unterstützungsbekundungen für die Aufrüstung waren überdurchschnittlich oft anzutreffen.

Diejenigen, die trotz der schwachen Werbung eher spontan auf die Demonstrationen gekommen waren, brachten hingegen ihre Wut über die Politik sämtlicher Parteien zum Ausdruck, verbanden die Forderung nach Milliarden für die Bildung mit der Ablehnung der Kriegspolitik und sahen sich als Teil der wachsenden Arbeitskämpfe auf der ganzen Welt.

Isolde kam auf die Demonstration in Stuttgart, weil sie um die Zukunft ihrer Enkel sehr besorgt ist: „Die Bildung geht den Bach runter. Ich weiß nicht, wo das hingehen soll.“ Aus ihrer Sicht fehle das Geld nicht nur in der Bildung, sondern „überall“. Inflation, steigende Miet- und Energiekosten, immer schlechtere Arbeitsbedingungen und schlechte Löhne träfen immer mehr Arbeiter und Angestellte hart. Statt einer angemessenen Bezahlung der Fachkräfte in den Kitas und Schulen, sorgten die Gewerkschaften, die eigentlich die Interessen ihrer Mitglieder vertreten müssten, für eine Reallohnsenkung nach der anderen. Deshalb greift Isolde auch die Rolle der Gewerkschaften an: „Die könnten so viele Menschen auf die Straße bringen, aber das machen sie nicht. Die sind staatskonform.“

Ein Schild auf der Demonstration in Berlin

Christian (Stuttgart), der im Vorfeld von der geplanten Demonstration nichts gehört hatte und nur zufällig dazustieß, erklärte, vom Reporterteam angesprochen: „Es fließt immer weniger Geld in die Bildung, obwohl Bildung eigentlich ein Grundrecht für jeden ist.“

Die Auswirkungen der fehlenden Mittel für den Bildungsbereich, der auch Freizeit- und Sozialbetreuung für Kinder und Jugendliche umfasst, liegen für Christian auf der Hand. „Die Probleme werden überall ersichtlich. Auch die Krawalle, die es hier gab, waren eine Folge von Einsparungen bei Bildung und anderen sozialen Bereichen.“

Anka vom „Stadtteilzentrum Steglitz“, einem freien Träger der Jugendhilfe, die fünf Kindertagesstätten, ergänzende Förderung an Grundschulen und Jugendhäuser organisieren, weist auf der Berliner Demonstration darauf hin, dass es dringend „nötig wäre, dass wir ausreichende Finanzierung haben“.

Die wachsende Armut in der Stadt ist gerade für die Träger der Jugendhilfe deutlich. Noch lassen sich mit Hilfe von „Netzwerken, Unterstützungsprojekten“ die materiellen Auswirkungen der Armut ausgleichen. „Die Armut auszugleichen oder zu merken, dass Kinder bestimmte Dinge nicht haben, manchmal vielleicht auch zu wenig zu essen bekommen, und man merkt, die essen besonders viel in der Einrichtung - das sind Dinge, die kriegen wir noch mit“, so Anka. „Aber dass Kinder begleitet werden, dass Kinder Ansprechpartner haben, dass sie die Sprache haben, dass sie Zeit haben, sich zu entwickeln, diese Dinge, die kann man nicht mit Geld ausgleichen oder mit materiellen Dingen … dafür brauchen wir Menschen, die Zeit haben, sich auch tatsächlich mit den Kindern zu beschäftigen.“

In Berlin hatten in den letzten Monaten mehrere Kitas ihre Standorte verloren oder mussten ganz schließen, weil sie die explodierenden Mieten nicht mehr zahlen konnten. Deshalb fordert Anka eine ausreichende Finanzierung, damit „die Träger in der Lage sind, die Mieten und die Nebenkosten gut zu tragen, und dass die Mitarbeitenden vernünftig bezahlt werden.“

Eine Mutter, die mit ihren vier Kindern an der Demonstration teilnahm, erklärte, dass die „Schulen dringend mehr Personal und bessere Ausstattung brauchen. Die Gebäude sind marode. Also es ist wirklich an allen Ecken und Enden schwierig.“ Die Kinder, die zwischen neun und 17 Jahre alt sind, besuchen Schulen, wo „die Klassenstärken wahnsinnig groß [sind], auf den weiterführenden Schulen teilweise über 30 Kinder in einer Klasse.“ Außerdem falle „viel Unterricht aus … wegen Krankheit, überlastetem Personal. Im Hort haben wir zum Beispiel gerade eine Krankenquote an der Grundschule von 50 Prozent.“

An den Grundschulen gebe es „zusätzlich das Problem, dass immer noch Erzieherinnen und auch Lehrerinnen teilweise nicht so gut bezahlt sind. Auch, weil viele [berufliche] Quereinsteiger von den Schulen [Schulleitungen] dazu überredet werden, erstmal zu arbeiten, bevor sie ihre wirkliche Qualifikation nachholen.“

Mehrere Teilnehmer betonten, dass „es nicht nur an den Brennpunkt-Schulen brennt“, sondern „überall“ und sehen bei den Regierenden kein politisches Interesse für die Kinder und Jugendlichen Investitionen zu betreiben oder überhaupt sich zu engagieren.

Entgegen den Pro-Regierungs-Positionen der Initiatoren lehnten viele einfache Teilnehmer die Kriegspolitik ab. So antwortete Isolde, darauf angesprochen: „In der Ukraine bomben sie alles kaputt und bei uns fehlt dann das Geld.“ Christian steht auch der Aufrüstung der Bundeswehr sehr ablehnend gegenüber: „Das führt zu Kettenreaktionen. Wenn die einen aufrüsten, rüsten auch alle anderen auf. Dann muss es irgendwann zu einem großen Knall kommen.“

Darüber hinaus ist Christian überzeugt, dass bei der Bildung auch gespart werde, damit die Menschen „gar nicht richtig“ über bestimmte geschichtliche Zusammenhänge Bescheid wüssten, wie zum Beispiel über den Grund des jetzigen Ukraine-Kriegs. „Der Ukraine-Krieg hätte nicht stattfinden müssen. Der wurde von uns herbeigeführt. Wenn man sich die Geschichte der westlichen Welt anschaut, dann ist die von Machthaberei geprägt. Als Kind war ich hier auf dem Schlossplatz bei einer Demo gegen den Irak-Krieg. Seit ich auf der Welt bin, werden von hier [Deutschland aus] Kriege geführt, zum Beispiel in Jugoslawien und Kosovo.“

Ein Transparent auf der Demonstration in Berlin

Mit ihrem selbst gefertigten großen Transparent „100 Mrd. für die Bildung - nicht für den Krieg!“ machten auch drei andere Teilnehmer ihrem Unmut Luft. Angesprochen auf das Plakat, erklärte einer von ihnen, der als Erzieher an einer Schule tätig ist: „Wir haben jetzt einen Sparhaushalt in Berlin, der ist nicht von ungefähr. Das Geld geht halt in den Krieg – zerstört die Schulen da und hier!“ „Ohne Frieden ist alles nichts, also Waffenstillstand und Schluss mit dem Krieg!“

Vertreter der Sozialistischen Gleichheitspartei diskutierten eine sozialistische Perspektive gegen Krieg und Kürzungen mit Teilnehmern in Köln, Stuttgart und Berlin und sammelten dutzende Unterschriften für ihre Teilnahme an den Europawahlen. Angela Niklaus, die für die SGP zu den Europawahlen antritt, betonte den engen Zusammenhang zwischen Kriegspolitik und Sozialangriffen und erklärte:

„Die Proteste für eine gute Bildung für alle müssen sich gegen sämtliche Bundestagsparteien richten und die Gewerkschaften, die sie stützen. Sie müssen sich als Teil der wachsenden Klassenkämpfe in Europa und auf der ganzen Welt verstehen, in denen sich Arbeiter gegen die horrenden Reallohnkürzungen und gegen die Kriegspolitik zur Wehr setzen. Das erfordert eine sozialistische Perspektive gegen Kapitalismus und Krieg.“

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