Perspektive

US-Repräsentantenhaus rügt Rashida Tlaib: Präzedenzfall für Kriminalisierung von Widerstand gegen den Völkermord in Gaza

Die Abgeordnete Rashida Tlaib während einer pro-palästinensischen Demonstration in Washington D.C. am 20. Oktober 2023 [AP Photo]

Das Votum des US-Repräsentantenhauses, der Abgeordneten Rashida Tlaib (Demokraten) wegen ihrer Opposition gegen den Völkermord in Gaza eine Rüge zu erteilen, ist ein beispielloser Angriff auf demokratische Rechte. Tlaib, die einzige Amerikanerin palästinensischer Abstammung im Repräsentantenhaus, ist die erste Abgeordnete seit dem Bürgerkrieg, die wegen ihrer politischen Überzeugungen gerügt wird. 22 Demokraten und fast alle Republikaner stimmten für den Tadel.

Die World Socialist Web Site und die Socialist Equality Party lehnen diese Zensur ab und verurteilen sie. Als Sozialisten haben wir grundlegende Differenzen mit der Abgeordneten der Demokratischen Partei. Dennoch betrachten wir das Vorgehen gegen sie als Teil des systematischen Versuchs der Biden-Regierung, ihrer Nato-Verbündeten und kapitalistischer Regierungen auf der ganzen Welt, die massive Protestbewegung zu unterdrücken, die sich gegen den Völkermord Israels an den Palästinensern entwickelt. Mit ihrer Forderung nach einem Waffenstillstand in Gaza verleiht Tlaib einer Stimmung Ausdruck, die nicht nur ihre Wähler, sondern auch die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung teilen.

Das Weiße Haus schickt ungehindert Bomben, um palästinensische Kinder abzuschlachten – ohne auch nur die Zahl dieser Toten zu berichten –, und Senator Lindsey Graham fordert ungehindert einen „totalen Krieg“ gegen die „extremistischste Bevölkerung der Welt“. Aber die Äußerung von Kritik an einem eindeutigen Völkermord und einer massiven Verletzung des Völkerrechts wird nicht geduldet.

Zu der Rüge kam es inmitten des Massenmords im Gazastreifen, dem mehr als 10.000 Palästinenser – größtenteils Frauen, Kinder und Ältere – durch israelische Bomben, Raketen und Artilleriegeschosse zum Opfer gefallen sind. Die Zahl der Toten wird nochmals in die Höhe schnellen, wenn die israelischen Streitkräfte ihre Bodeninvasion fortsetzen und die Schlinge um Gaza-Stadt, das größte Bevölkerungszentrum der winzigen Enklave, enger ziehen.

Als Reaktion darauf sind Millionen weltweit zu Massenprotesten auf die Straße gegangen. Erst am vergangenen Wochenende demonstrierten 300.000 Menschen in Washington D.C. und beschuldigten US-Präsident Joe Biden des Völkermords.

Das Vorgehen des US-Repräsentantenhauses gegen Tlaib ist Teil weltweiter Angriffe auf demokratische Rechte. Alle Großmächte versuchen, die wachsenden Proteste gegen den israelischen Militärangriff auf eine weitgehend wehrlose Bevölkerung zu unterbinden. Diese Regierungen befinden sich im Krieg mit der eigenen Bevölkerung, in der Widerstand gegen den Völkermord in Gaza weit verbreitet ist.

In Großbritannien versucht die konservative Regierung, Demonstrationen zu verbieten, an denen bis zu einer halben Million Menschen teilgenommen haben. Innenministerin Suella Braverman sprach diffamierend von „Hassmärschen“.

In Deutschland wurde das Zeigen von palästinensischen Flaggen und anderen Symbolen verboten. Auch Fotos von Opfern aus dem Gazastreifen durften nicht gezeigt werden. Flugblätter und Plakate mit Slogans zur Unterstützung des palästinensischen Widerstands wurden zensiert. In ganz Europa stoßen die Massenproteste gegen das Blutbad in Gaza auf staatliche Repression. In Indien, wo mehr als 200 Millionen Muslime leben, hat die Regierung von Narendra Modi Proteste in Kaschmir, dem einzigen Bundesstaat mit einer muslimischen Mehrheit, verboten.

In all diesen Ländern verbreiten die Regierungen und Leitmedien dieselbe falsche Behauptung: dass der Widerstand gegen das israelische Gemetzel Antisemitismus darstelle, dass diejenigen, die gegen den Völkermord demonstrieren, in Wirklichkeit durch Judenhass motiviert seien – selbst dann, wenn die Demonstranten selbst Juden sind!

Eine wichtige Waffe dieser Verleumdungskampagne ist die Behauptung, dass die von vielen Demonstranten aufgegriffene und auf zahllosen Plakaten abgebildete Parole „From the river to the sea – Palestine will be free“ ein verkappter Aufruf zur Ausrottung der in Israel lebenden Juden sei. Dies war das Hauptargument in der Debatte des US-Repräsentantenhauses über die Rüge gegen Rashida Tlaib.

„From the river to the sea“ ist seit langer Zeit eine Parole der palästinensischen Widerstandsbewegung und bringt zum Ausdruck, dass das palästinensische Volk auf dem gesamten Gebiet vom Jordan bis zum Mittelmeer von zionistischer Unterdrückung befreit werden soll. In diesem Gebiet liegen das Westjordanland, Gaza und der heutige Staat Israel.

Die WSWS fordert das Ende des reaktionären zionistisch-kapitalistischen Staats, dessen Existenz auf dem kolonialistischen Raub palästinensischen Bodens beruht. Dieser Staat wird seit 75 Jahren durch eine brutale Unterdrückung aufrechterhalten, die nun in direktem Völkermord gipfelt. Die Behauptung, dass der Widerstand gegen diesen Massenmord „Antisemitismus“ sei, ist eine erbärmliche Lüge und eine Verleumdung jüdischer Menschen.

Wir setzen uns für die Schaffung eines demokratischen, säkularen Staates auf dem gesamten Gebiet Palästinas ein, in dem die heutigen Israelis und Araber, unabhängig von ihrem Glauben, gleichberechtigt gemeinsam leben. Dieses Ziel ist unauflöslich mit dem Kampf für Vereinigte Sozialistische Staaten des Nahen Ostens als Teil der sozialistischen Weltrevolution verbunden.

Die Rüge gegen Rashida Tlaib ist de facto ein Verbot von Kritik an der Politik der israelischen Regierung. Sie dient jedoch nicht nur der Unterstützung von Benjamin Netanjahu und seiner Bande von Faschisten und religiösen Fanatikern. Schließlich fungiert Israel als Instrument der amerikanischen Außenpolitik. Die Rüge ist Teil der größeren Kriegsplanung des amerikanischen Imperialismus, zu dem auch der Stellvertreterkrieg von USA und Nato gegen Russland in der Ukraine und mittlerweile die Drohung eines direkten Konflikts mit dem Iran gehören, für den die Gaza-Invasion als Auslöser dienen soll. Hinzu kommen die verstärkten militärischen Vorbereitungen auf einen Krieg gegen China.

Am Dienstag wiederholte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats, John Kirby, das Mantra, das aus dem Weißen Haus ertönt, seit die israelischen Bomben und Raketen – meist vom Pentagon geliefert – auf Gaza niederregnen: Gegenüber Israel hat die US-Regierung keine „roten Linien“. Es hat freie Hand, alles zu tun, um Palästinenser zu vertreiben oder zu töten. Massenmord ist die Politik nicht nur des israelischen Regimes, sondern auch der Biden-Regierung.

Die Kriegstreiberei der USA wird, je weiter sie fortschreitet, zu noch viel mehr Widerstand der Bevölkerung führen. Dazu gehören auch Streiks, um die Produktion und den Vertrieb von Waffen und Kriegsmaterial aus amerikanischer Produktion zu stoppen. Die Rüge gegen Rashida Tlaib ist ein Präventivschlag gegen solche „Einmischungen“ von unten.

Es gibt eine historische Parallele zu dieser Politik, die freie Meinungsäußerung zu unterbinden, weil man befürchtet, dass sie eine politische Bewegung anfachen könnte, die Unterstützung durch die Massen erfährt. Rashida Tlaib ist zwar das erste Mitglied des US-Repräsentantenhauses, das ausschließlich wegen politischer Äußerungen gerügt wurde, doch es gab einmal einen Abgeordneten, der eine Rüge wegen seines politischen Handelns erhielt. Es war Joshua Giddings aus Ohio, der 1842 wegen Verstoßes gegen die so genannte „Gag Rule“ gerügt wurde. Diese „Knebelregel“ war 1836 von der Demokratischen Partei eingeführt worden, die die Sklaverei unterstützte. Sie reagierte damit auf eine Flut von Petitionen und Resolutionen, die im Repräsentantenhaus gegen die Sklaverei eingebracht worden waren. Die Gag Rule, die bis 1844 in Kraft war, verhinderte jede Diskussion oder jeden Vorschlag zum Thema Sklavenbefreiung im Parlament.

Giddings brachte eine Reihe von Resolutionen zur Unterstützung von 128 Sklaven ein, die in einer Rebellion 1841 die Kontrolle über das amerikanische Sklavenschiff „Creole“ übernommen hatten. Sie brachten das Schiff von seinem Kurs ab, der von Virginia zum Sklavenmarkt in New Orleans führte, und zwangen die Besatzung, auf die Bahamas zu segeln, die damals britisches Territorium waren und auf denen die Sklaverei abgeschafft worden war. Die britischen Kolonialbehörden erklärten die Sklaven für frei, doch die US-Regierung unter Präsident John Tyler klagte auf ihre Auslieferung an die Sklavenhalter.

Der Historiker James Oakes schreibt dazu:

Giddings’ Kollegen stimmten sofort mit einer Mehrheit von mehr als zwei zu eins dafür, seine neun Entschließungen einzubringen, und rügten ihn anschließend dafür, dass er solch skandalöse Ideen im Repräsentantenhaus eingebracht hatte. Aber die 53 Stimmen, die für die Resolutionen abgegeben wurden, waren ein weiteres Indiz dafür, dass die abolitionistischen Grundsätze in den politischen Mainstream vordrangen … Giddings legte sein Mandat nieder und kehrte nach Ohio zurück. Dort trat er zur Wiederwahl an und zog mit einer überwältigenden Mehrheit wieder ins Repräsentantenhaus ein (Freedom National: The Destruction of Slavery in the United States, 1861-1865, S. 25-26).

Die Mitglieder des Repräsentantenhauses, die für die Rüge gegen Rashida Tlaib gestimmt haben, die Beamten der Regierung Biden, die versuchen, pro-palästinensische Proteste zu kriminalisieren, und alle Regierungen weltweit, die versuchen, die Massenproteste gegen den Völkermord zu unterdrücken, treten damit in die Fußstapfen der Verteidiger der Sklavenherrschaft vor dem Bürgerkrieg. Sie haben Angst, dass jede Äußerung, selbst die einer Abgeordneten, die gesellschaftliche Opposition entzünden könnte.

Es ist aber schon zu spät. Obwohl die Regierungen Gegner des israelisch-imperialistischen Völkermordes in Gaza einschüchtern und Proteste kriminalisieren wollen, ist eine mächtige Massenbewegung gegen den imperialistischen Krieg entstanden und gewinnt an Stärke.

Dennoch muss die Rüge gegen Tlaib als Warnung verstanden werden: Die herrschende Klasse wird in ihrer Verzweiflung über die Massenopposition zu jedem Mittel greifen, um den Widerstand der Bevölkerung zu unterdrücken. Es ist dringend notwendig, die globale Bewegung gegen den Völkermord in Gaza zu vertiefen und auszuweiten, indem sie mit der wachsenden Streikbewegung der Arbeiterklasse zusammengeführt und mit einer sozialistischen Perspektive bewaffnet wird.

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