Mit einem 20-stündigen, bundesweiten Warnstreik legten die Mitglieder der Lokführergewerkschaft GDL gestern den Bahnbetrieb lahm. Von Mittwochnacht 22 Uhr bis Donnerstagabend 18 Uhr waren der Fern- und Regionalverkehr, wie auch der S-Bahnverkehr aller größeren Städte massiv betroffen.
Im Raum München verkehrten die meisten S-Bahnen nur noch im 60-Minuten-Takt, und in den östlichen Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, in denen die GDL besonders stark vertreten ist, herrschte weitgehend Stillstand. Im bundesweiten Fernverkehr fuhren etwa noch 20 Prozent der Züge.
Die GDL hat als Forderung ein Lohnplus von 555 Euro im Monat bei einjähriger Laufzeit und eine Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 3000 Euro aufgestellt und verlangt, die Arbeitszeit für Schichtarbeit bei vollem Lohnausgleich schrittweise auf 35 Stunden abzusenken. Eine erste Verhandlungsrunde war vergangene Woche nach fünf Stunden abgebrochen worden. Die Bahn-Spitze hat sich offenbar geweigert, über die Arbeitszeitverkürzung auch nur zu sprechen, und stattdessen eine Liste von Angriffen auf bisherige Errungenschaften vorgelegt. So soll eine Urlaubsregelung aus dem letzten Tarifvertrag wieder abgeschafft werden.
In der Öffentlichkeit legte Bahn-Personalchef Martin Seiler das Angebot von elf Prozent Lohnerhöhung auf eine Laufzeit von 32 Monaten vor, das auf das Jahr gerechnet einer „Lohnerhöhung“ von etwa vier Prozent – angesichts der Inflation also einer massiven Reallohnsenkung – entspricht. Den Warnstreik bezeichnete Seiler als „einmalige Eskalation in unserer Sozialpartnerschaft“, und er quittierte die Streikankündigung mit der Absage der zweiten Verhandlungsrunde, die am gestrigen Donnerstag hätte beginnen sollen.
Mehrere Medien spucken Gift und Galle gegen den Streik. „GDL-Chef Weselsky lehnt den Weihnachtsfrieden ab“, titelte der Tagesspiegel. „Nur noch unverschämt!“ nannte die BILD-Zeitung den Streik und schrieb über Weselsky: „Dieser Mann will sich nicht einigen“. Viele Journalisten erwähnten das Angebot der Bahn von elf Prozent, ohne jedoch darauf hinzuweisen, dass es sich auf 32 Monate bezieht. BILD schrieb dazu: „Millionen Deutsche können von einem solchen Angebot nur träumen.“
Dagegen äußerten viele Bahnreisende Verständnis für den Streik, wie Julia S., die dem Kölner Stadt-Anzeiger gegenüber die Streikenden in Schutz nahm und sagte: „Es ist wichtig und richtig, dass die Lokführer so ein Signal für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn setzen. Sie leiden auch unter dem ganzen System.“ Im Internet schrieb Christina: „Ihre Forderungen sind vielleicht nicht alle verständlich für mich als Nicht-Eisenbahnerin, aber der Job ist definitiv hart und die Bedingungen mies, also sollen sie streiken, damit es besser wird.“
Auf der Facebook-Seite „Helden der Schiene“ äußerten sich zahlreiche Lokführer und Eisenbahner, ob GDL-Mitglied oder nicht. Steffen schrieb: „11 Prozent über 3 Jahre verteilt: Das ist ganz großes Tennis. Dreimal nix bleibt immer noch nix.“ Manuel kommentierte das Angebot der Bahn: „11 Prozent auf 3 Jahre, das heißt 4 Prozent pro Jahr. Und alle anderen Forderungen wurden abgelehnt. Wo ist da eine Verhandlungsbasis?? (…) Ich bin kein Lokführer und auch nicht für die GDL, aber dieses Angebot ist so dreist, dafür fehlen mir die Worte.“
Triebfahrzeugführer Peter schrieb: „Was meine Kollegen und ich zur Zeit durchmachen, ist heftig, und die Chefs da oben bekommen Bonus und Gehaltserhöhung. Aber wir Kleinen hier unten halten den Laden am Laufen.“ Manfred kommentierte: „Die DB AG haut sich in der Chefetage die Taschen voll, und die Arbeiter bleiben auf der Strecke.“
Andere berichteten, dass sie als Lokführer real weder eine 38- noch eine 39-, sondern eine 50-Stundenwoche hätten. So schrieb Frank: „Wir stehen um 1 Uhr auf, arbeiten auch am Wochenende und an Weihnachten oder Neujahr. Seit Jahrzehnten wird immer und immer wieder am Personal gespart. Ganz zu Schweigen davon, dass wir fast keine Schicht unter 10 Stunden und Früh- bzw. Spätschicht im Tageswechsel haben.“ Er vermutete: „Das wird sicherlich einer der härtesten Arbeitskämpfe seit Jahren. Aber es ist nötig.“
Am Frankfurter Hauptbahnhof erklärte Lokführer Engin, der für die S-Bahnbetriebe Rhein-Main arbeitet, der World Socialist Web Site (WSWS), worum es gehe: „Allein schon wegen der Inflation brauchen wir mehr Gehalt. Ich bin Alleinverdiener, habe Familie zu Hause und habe es momentan richtig schwer.“ Engin sagte, sein Grundgehalt bei der Bahn betrage 3000 Euro brutto, „und elf Prozent von 3000, und das auf fast drei Jahre, und es wird auch nur stückweise bezahlt – das reicht einfach nicht“.
Er fuhr fort: „Was oft nicht gesehen wird: Wir tragen als Lokführer große Verantwortung, wir fahren nicht nur die Züge hin und her. Wir sind für alles verantwortlich und müssen für alles grade stehen, was an der Bahn kaputtgeht. Vor dem Losfahren muss ich meinen Zug vorbereiten, da wird alles kontrolliert, von der Bremse bis zu jeder anderen sicherheitsrelevanten Sache.“
Dann berichtete er, dass er beim S-Bahnverkehr im Rhein-Main-Gebiet immer alleine im Zug sei: „Wir sind Zugchef und Lokführer gleichzeitig. Und das sind oft lange und volle Züge, in denen es eine Menge Probleme geben kann. Theoretisch hätten wir bei Notfall eine Ablöse, dafür ist eine Bereitschaft vorgesehen, aber die gibt es längst nicht überall. Oft fehlt sie gerade, wenn man sie braucht.“
Schließlich bemerkte Engin, er könne nicht verstehen, dass die deutsche Regierung, der ja immer noch das gesamte Schienennetz und ein großer Teil der Bahn gehöre, zwar hunderte Milliarden Euro in die Kriegsvorbereitungen stecke, „aber für die Bahn ist kein Geld da. Da fragt man sich schon: Muss das so eine hohe Summe für die Verteidigung sein?“
„Ich bin generell gegen Krieg“, ergänzte Engin. „Wenn es nach mir ginge, müsste überhaupt kein Geld in die Rüstung fließen. Deutschland ist nicht bedroht. Wenn sich die Regierung nicht immer irgendwo einmischen würde, bräuchten wir das alles gar nicht. Wenn Menschen im Krieg sterben, läuft grundsätzlich was falsch.“
Der Warnstreik hat erneut gezeigt, welche Macht das Bahnpersonal und die Arbeiterklasse als ganze haben. Er macht deutlich, was erreicht werden könnte, wenn es Lokführern, Zugbegleitern und Eisenbahnern gelingen würde, einen gemeinsamen Kampf aller Bahnbeschäftigten Deutschlands zu führen, deren Zahl weit über 200.000 beträgt, und gleichzeitig gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen in anderen europäischen Ländern zu kämpfen. Gerade am heutigen Freitag findet in Italien ein landesweiter Verkehrsarbeiterstreik statt, der sich nicht zuletzt gegen die Kriegspolitik und den Völkermord im Gaza richtet.
Davon ist die GDL-Spitze um Claus Weselsky meilenweit entfernt. „Wir sind nicht im Klassenkampf unterwegs“, sagte Weselsky vor einigen Monaten, als er die GDL-eigene Leihfirma Fair Train vorstellte. Der Warnstreik war für die GDL-Führung vor allem eine Reaktion auf die große Unzufriedenheit und Kampfbereitschaft, die an der Basis brodelt.
Gleichzeitig gab es keinen Versuch der Gewerkschaftsführung, an andere Teile der Bahnbelegschaft, geschweige denn der Arbeiterklasse, zu appellieren und den Kampf auszuweiten – im Gegenteil: Die GDL ließ Anfragen der WSWS, wo die Streikposten in den jeweiligen Städten zu finden seien, unbeantwortet und versuchte in Berlin sogar, die Lokführer zu isolieren und Gespräche der WSWS-Reporter mit den Streikenden zu unterbinden.
Um die Kämpfe der Arbeiterklasse zum Erfolg zu führen, hat die WSWS die Initiative zum Aufbau der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees (IWA-RFC) ergriffen. Wir rufen alle Kolleginnen und Kollegen dazu auf, sich unabhängig von den national und kapitalistisch orientierten Gewerkschaften in Aktionskomitees zusammenzuschließen. In Deutschland wurde das Aktionskomitee Bahn während des EVG-Streiks gegründet, um der Gewerkschaft das Misstrauen auszusprechen, den Streik in die eigene Hand zu nehmen und Eisenbahner zusammenzuschließen, unabhängig davon, ob und in welcher Gewerkschaft sie Mitglied sind.
Wenn ihr beim Aktionskomitee Bahn mitmachen wollt, meldet euch per Whatsapp unter +49-163-337 8340 und registriert euch auch über das unten stehende Formular.