Amnesty International und Human Rights Watch haben bestätigt, dass Griechenland direkt für den Untergang des Fischkutters Adriana und das Ertrinken von mehr als 600 Flüchtlingen verantwortlich ist.
Am 14. Juni sank die Adriana vor dem griechischen Hafen von Pylos. Die Katastrophe zählt zu den Einzelereignissen mit den höchsten Opferzahlen und schockierte die Welt. Sie reiht sich ein in die unzähligen Bootsunglücke und Schiffbrüche im Mittelmeer, bei denen in den letzten 20 Jahren mehr als 20.000 Menschen ertrunken sind.
Der Massenmord an Flüchtlingen ist das Ergebnis einer brutalen „Pushback“-Politik, mit der verzweifelte Flüchtlinge daran gehindert werden sollen, in die „Festung Europa“ zu gelangen. Mehr als ein halbes Jahr sind vergangen, ohne dass jemand für dieses abscheuliche Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wurde.
Akribische Recherchen und Untersuchungen des NDR, des Guardian, der Forschungsagentur Forensis und der griechischen Organisation Solomon ergaben, dass die Adriana von der griechischen Küstenwache in italienische Gewässer geschleppt wurde, was zum Kentern des Boots führte.
Diese Beweise werden durch den fast 4.000 Wörter umfassenden Bericht von Amnesty International/Human Rights Watch „Greece: 6 Months On, No Justice for Pylos Shipwreck“ untermauert.
Darin heißt es: „Die Adriana, ein stark überfüllter Fischtrawler, kenterte am frühen Morgen des 14. Juni 2023, was zum Tod von mehr als 600 Menschen führte. Das Schiff war fünf Tage zuvor von Libyen aus mit schätzungsweise 750 Migranten und Asylbewerbern, darunter auch Kinder, vor allem aus Syrien, Pakistan und Ägypten, aufgebrochen. Nur 104 der Menschen an Bord überlebten und 82 Leichen wurden geborgen.“
Die Menschenrechtsorganisationen „befragten 21 Überlebende, fünf Angehörige von fünf noch vermissten Personen sowie Vertreter der griechischen Küstenwache, der griechischen Polizei, von Nichtregierungsorganisationen, der Vereinten Nationen und internationaler Einrichtungen und Organisationen“.
Sie stellten fest, dass „es die griechischen Behörden in den 15 Stunden zwischen dem Eingang der ersten Meldung, dass sich die Adriana in ihrer [griechischen] Such- und Rettungsregion befand, und dem Kentern des Schiffs versäumt hatten, geeignete Ressourcen für eine Rettung zu mobilisieren“.
In dem Bericht heißt es: „Die Behörden wussten eindeutig, dass es Anzeichen für eine Notlage auf der Adriana gab, wie z. B. Überfüllung und unzureichende Versorgung mit Lebensmitteln und Wasser, und sie wussten nach Aussage von Überlebenden von Leichen an Bord und von Bitten um Rettung …“
„Die Überlebenden sagten, dass ein Patrouillenboot der Küstenwache ein Seil an der Adriana befestigte und zog, wodurch das Boot kenterte. Sie erklärten auch, dass das Boot der Küstenwache nach dem Kentern des Boots nur langsam die Rettungsmaßnahmen einleitete, es versäumte, die Anzahl der geretteten Personen zu maximieren und gefährliche Manöver durchführte.“
Nach dem Schiffsbruch begannen laufende Ermittlungen, darunter eine im November eingeleitete Untersuchung des Europäischen Ombudsmanns über das Vorgehen der Küstenwache und „die Rolle der EU-Grenzschutzagentur Frontex, deren Flugzeug das Schiff ursprünglich gesichtet hatte, während der Grundrechtsbeauftragte der Agentur seine eigene Untersuchung durchführt“.
In ihren Beiträgen zur Untersuchung des Europäischen Ombudsmanns „gehen die Organisationen davon aus, dass Frontex die Adriana weiter hätte beobachten und einen Notruf absetzen müssen. Frontex teilte den Organisationen mit, dass es in der Verantwortung der nationalen Behörden liege, Such- und Rettungsaktionen zu koordinieren, und dass es keinen Notruf abgesetzt habe, weil es keine ‚unmittelbare Gefahr für Menschenleben‘ gesehen habe.“
Griechenland ist für die Abriegelung der Südgrenze Europas von entscheidender Bedeutung. Alle Regierungen der letzten Jahrzehnte haben zahlreiche Verbrechen begangen, um Flüchtlinge fernzuhalten. Ein Beispiel ist der Schiffbruch von Farmakonisi vor fast zehn Jahren, als ebenfalls bei einem Schleppvorgang ein Schiff in Seenot gebracht wurde und mehrere Flüchtlinge ihr Leben verloren haben.
In dem Bericht heißt es: „Überlebende des Schiffsunglücks von Farmakonisi im Jahr 2014 sagten aus, dass die griechische Küstenwache ein Seil spannte, um ihr Boot in die Türkei zu schleppen. Im Jahr 2021 wurden weitere Fälle bekannt, in denen die griechische Küstenwache Migrantenboote aus ihren Gewässern geschleppt hat.“
Weiter heißt es: „2022 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Griechenland wegen der Mängel bei den Rettungsbemühungen und den anschließenden Untersuchungen im Zusammenhang mit dem Schiffsunglück von Farmakonisi im Jahr 2014, bei dem 11 Menschen starben.“
Es ist erwiesen, dass die verspätete und unernste Reaktion der griechischen Behörden auf Anrufe, die sie auf die Gefahr der Adriana aufmerksam machten, ein wesentlicher Faktor für den Untergang des Schiffs war. Das griechische Joint Rescue Coordination Center (JRCC Piräus) wurde erstmals am 13. Juni um 11:01 Uhr MESZ – einen Tag vor dem Untergang des Schiffs – vom italienischen Maritime Rescue Coordination Center (MRCC Rom) über die Adriana alarmiert.
In dem Bericht heißt es: „Das vom JRCC Piräus entsandte Patrouillenboot, die PPLS920, war nicht für eine groß angelegte Rettung ausgerüstet. Nach offiziellen Angaben verfügte das Boot nur über 43 einzelne Rettungswesten, 8 Rettungsringe, 2 aufblasbare Rettungsinseln, die 39 Personen transportieren können, und ein Hilfsschlauchboot. Das JRCC Piräus mobilisierte keine anderen Hilfsmittel, obwohl Berichten zufolge Schiffe in nahegelegenen Häfen zur Verfügung standen, und gab die beiden Tanker [die zuvor mit der Überwachung und Unterstützung des Fischkutters beauftragt waren] trotz der begrenzten Rettungskapazität der PPLS920 frei.“
Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits Tote an Bord des Schiffs, das fünf Tage lang in glühender Hitze unterwegs war, während die Flüchtlinge wie Sardinen im Laderaum und auf dem Deck zusammengepfercht waren. Frontex bestätigte auf Anfrage von Amnesty International und Human Rights Watch, dass in dem Alarm, den sie erhielten, bereits zu diesem frühen Zeitpunkt zwei Leichen auf der Adriana gemeldet wurden.
Der Bericht fasst zusammen: „Bis zum Kentern und Sinken der Adriana kurz nach 02:00 Uhr MESZ am 14. Juni ergriff die griechische Küstenwache nur begrenzte Maßnahmen, um die Sicherheit der Menschen an Bord zu gewährleisten, obwohl sie offiziell die Koordinierung des Vorfalls übernommen und Hinweise auf einen Notfall erhalten hatte.“
Was die griechische Küstenwache unternahm, war eine Politik des sozialen Mordes. Der Auftrag der Küstenwache bestand darin, dafür zu sorgen, dass das Boot nicht in griechische Gewässer einfuhr.
In dem Bericht heißt es: „Sieben Überlebende sagten, dass die griechischen Behörden die Adriana per Satellitentelefon angewiesen hatten, der PPLS920 in Richtung Italien zu folgen. Einige von ihnen sagten, dass die Adriana nicht mit der PPLS920 mithalten konnte oder Motorprobleme hatte“.
Gamal aus Ägypten erinnerte sich: „Als sie das Seil festmachten … zogen sie unser Boot sehr schnell nach links ... Sie steuerten nach links, das Boot kippte nach links, dann steuerten sie nach rechts, das Schiff kippte nach rechts ...“
Nach dieser rücksichtslosen Aktion der griechischen Küstenwache sank das Schiff innerhalb von 20 Minuten. „Die meisten Überlebenden gaben an, dass die Besatzung der PPLS920 nach dem Kentern keine sofortigen Maßnahmen zur Rettung der Menschen ergriffen hat. Mehrere sagten, dass das Schiff erst 20 bis 60 Minuten später Beiboote aussetzte. Abbas aus Syrien sagte: ‚Wenn sie es ernst gemeint hätten und sofort gekommen wären, hätten mindestens 300 Menschen gerettet werden können.‘“
Die Behauptungen der griechischen Behörden, wonach die Menschen an Bord gesagt hätten, dass sie keine Hilfe wollten oder benötigten, werden durch den Bericht und die Aussagen der Augenzeugen als Lügen widerlegt.
In jedem Fall sind solche Begründungen rechtlich nicht haltbar. In dem Bericht heißt es: „Die griechischen Behörden sind nach dem Internationalen Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See und dem Internationalen Übereinkommen über den Such- und Rettungsdienst auf See verpflichtet, in Notfällen auf See zu handeln ...“
„In der EU-Verordnung über die Überwachung der Seegrenzen sind Faktoren aufgeführt, die für die Feststellung einer Situation der Unsicherheit, des Alarms oder der Seenot relevant sind, darunter ein Hilfeersuchen, die Seetüchtigkeit des Schiffs, die Anzahl der Personen an Bord im Verhältnis zum Schiffstyp und die Existenz von Toten. Selbst wenn einige Personen an Bord der Adriana Hilfe abgelehnt haben, entbindet dies die zuständigen Behörden vor Ort nicht von ihrer Pflicht, Menschenleben auf See zu schützen. In der Verordnung heißt es, dass die Verpflichtung, ‚alle für die Sicherheit der betroffenen Personen erforderlichen Maßnahmen‘ zu ergreifen, auch dann besteht, ‚wenn ... die an Bord befindlichen Personen sich weigern, Hilfe anzunehmen‘.“
Die jüngsten Opfer der „Festung Europa“ sind 61 Menschen, hauptsächlich aus Nigeria, Gambia und anderen afrikanischen Ländern, deren Boot in der vergangenen Woche vor der libyschen Küste gekentert ist. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) befanden sich 86 Menschen an Bord des Schiffs, das in der Nacht vom 13. auf den 14. Dezember aus Zuwara auslief.
IOM-Sprecher Flavio Di Giacomo erklärte, dass damit in diesem Jahr mehr als 2.250 Menschen auf dieser speziellen Mittelmeer-Route ums Leben gekommen sind. Nach Angaben des IOM-Projekts für vermisste Migranten wurden zwischen dem 1. Januar und dem 18. November vor Libyen mindestens 940 Migranten als tot und 1.248 als vermisst gemeldet. Dies ist ein deutlicher Anstieg gegenüber den 529 Toten und 848 Vermissten vor Libyen im Jahr 2022.
Von der Bourgeoisie wird dies als Erfolg gewertet. Das griechische Migrationsministerium berichtete im November über einen Rückgang der Zahl angekommener Migranten um 33 Prozent – 4.584 im Vergleich zu 6.863 im Oktober. Das Ministerium führte den Rückgang auf seine „umfassende und mehrstufige Strategie“ zur Bekämpfung von „irregulärer Migration und Menschenhandel“ zurück. Dies sei „bemerkenswert, wenn man es mit dem Anstieg des Phänomens in anderen Ländern wie Italien, Kroatien und auch Spanien vergleicht“, prahlte das Ministerium.
Vergangene Woche schrieb der Europäische Rat für Flüchtlinge und im Exil lebende Personen: „In den letzten Tagen meldete Alarm Phone – die Hotline zur Unterstützung von Menschen, die über das Mittelmeer in die EU kommen – mehrere Vorfälle von Pushbacks und unterlassener Hilfeleistung durch griechische Behörden.“ Dazu gehörten:
- „Am 5. Dezember informierte die Hotline die griechische Küstenwache über eine Gruppe von 43 Personen, die in der Nähe von Lesbos in Seenot geraten waren. Die Küstenwache ließ die Gruppe treiben, bis sie die türkischen Gewässer erreichte ...“
- „Am 7. Dezember riefen 22 Menschen in der Nähe von Lesbos um Hilfe und berichteten, dass ein Militärboot in ihrer Nähe sei. Alarm Phone sagte, dass das Militärboot ‚keine Hilfe leistet und sie (die Menschen in Not) stattdessen weiter von der Küste wegdrängt‘, obwohl es sah, dass Wasser in das Boot der Flüchtlinge eindrang ... Bereits in der ersten Dezemberwoche hat die griechische Küstenwache sechs Gruppen zurückgedrängt, die Alarm Phone kontaktiert hatten‘, fügte die Organisation hinzu.“
- „Am 11. Dezember gab die türkische Küstenwache in einer Pressemitteilung bekannt, dass sie insgesamt 122 Migranten gerettet habe, die von den griechischen Behörden in türkische Hoheitsgewässer zurückgedrängt wurden.“
- „Am 13. Dezember veröffentlichte die Hotline eine E-Mail einer Gruppe von 17 Personen, darunter eine bewusstlose Frau, in der es hieß: ‚Wir wurden von der griechischen Küstenwache in der Nähe der Insel Kos gefangen genommen, unser Boot wurde zerstört und wir wurden auf dem Meer zurückgelassen, wo wir um dringende Hilfe flehten, denn wir werden vor Kälte sterben.‘“
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