„Es gilt nicht mehr als schändlich, sich dem Militärdienst zu entziehen“

Untergrund-Journalisten über Kriegsmüdigkeit und das Abgleiten der Ukraine in die Diktatur

Die World Socialist Web Site führte kürzlich ein Interview mit Journalisten des in Charkiw ansässigen Untergrund-Journalistenkollektivs assembly.org.ua. Die Website veröffentlicht Nachrichten über soziale und ökologische Probleme und Kämpfe in der Ostukraine. Sie tritt für die Beendigung des Krieges von unten ein, von den Soldaten selbst, die sich gegen sowohl die ukrainische als auch die russische Regierung wenden. Die Journalisten haben sich klar auch für die Freilassung des ukrainischen Anti-Kriegs-Sozialisten Bogdan Syrotjuk ausgesprochen.

Im Folgenden veröffentlichen wir das Interview mit geringfügigen Änderungen, um seine Länge und Klarheit zu verbessern. Das Interview wurde schon vor dem 16. Juli geführt, als die neuen Gesetze für die aktuelle Massenmobilisierung in Kraft traten. Wie die Journalisten erklären, haben diese Gesetze die Situation für Tausende Arbeiter und junge Menschen in der Ukraine über Nacht dramatisch verschlechtert. Sie können nun strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie nicht von sich aus die Daten ihrer militärischen Registrierung aktualisieren.

Clara Weiss: Eure Redaktion konzentriert sich auf die Situation in Charkiw, das im Zentrum des Krieges steht. Könnt ihr die Situation in Charkiw beschreiben, mit der die einfachen Menschen konfrontiert sind? Wie sehen die sozialen Bedingungen aus?

Assembly: Charkiw ist jetzt nicht wirklich im Zentrum des Krieges. Nach dem 24. Februar 2022 verlief die Frontlinie direkt entlang der Ringstraße und der nächstgelegenen nördlichen Außenbezirke. Im September desselben Jahres zog sie sich bis zur russischen Grenze zurück (30 km von der Stadt entfernt in gerader Linie). Nach dem Angriff der russischen Truppen auf die Grenze am 10. Mai 2024 blieb die Front 20 km vor der Stadt stehen.

Tagtäglich gibt es Angriffe mit ballistischen Raketen und gelenkten Fliegerbomben. Ziele der russischen Truppen sind militärische Infrastruktur, Energieanlagen, Industrieunternehmen, und es stört sie überhaupt nicht, wenn auch Wohngebäude in der Umgebung getroffen werden. Hier haben sich alle mehr oder weniger an die täglichen Stromausfälle gewöhnt, die von mehreren Stunden bis zu einem halben Tag andauern. Die Blackouts gibt es seit dem Raketeneinschlag am 22. März dieses Jahres. Seither kommt der Strom aus anderen Regionen.

Von den rund zwei Millionen Einwohnern der Vorkriegszeit leben etwa noch die Hälfte in Charkiw. Es gibt keine große Abwanderung mehr, weil diejenigen, die wussten, wohin sie gehen sollten, größtenteils schon lange weg sind. Diejenigen, die übrig geblieben sind, haben mehrere Möglichkeiten: Entweder sie sind obdachlos und leben in einem Keller oder Zelt von den 2.000 Griwna (etwa 44 Euro) im Monat, die die Binnenvertriebenen erhalten. Oder sie gehen ins Gefängnis, weil sie sich der Mobilisierung entzogen haben, oder sie treten in die Armee ein. Und von dort kehrt man nur in einem Sarg zurück, oder wenn man desertiert ist, oder wenn man ein Bestechungsgeld abliefern konnte.

Schon vor der großen russischen Invasion waren Straßen und Stadtteile von Charkiw aufgrund der ungleichen Bevölkerungsverteilung fast leer. Heute versuchen die wehrpflichtigen Bürger, ihre Häuser überhaupt nicht mehr zu verlassen: Am 16. Juli läuft die 60-Tage-Frist für Männer zwischen 18 und 60 Jahren ab, in der sie ihre militärische Registrierung aktualisieren müssen. Und dann beginnt die große Safari-Saison: Wer seine Registrierung nicht aktualisiert hat, gilt offiziell als Wehrdienstverweigerer mit allen Konsequenzen – von einer zwangsweisen Entführung von der Straße weg zum territorialen Rekrutierungszentrum, bis hin zu einer Geldstrafe von 17.000 bis 25.500 Griwna (zwischen 377 Euro und 565 Euro). Zum Vergleich: das Durchschnittsgehalt in der Ukraine lag im letzten Jahr bei 17.400 Griwna (385 Euro).

Wenn die Ukraine der Hinterhof Europas ist, ist Charkiw der Hinterhof der Ukraine. Hier leben Menschen nur aus Liebe zum Nervenkitzel oder aus völliger Hoffnungslosigkeit. Im Jahr 2020 lag das Durchschnittsalter in Charkiw, so der damalige Bürgermeister Gennadi Kernes, bei 35 Jahren, doch als der Krieg begann, blieben vor allem die Rentner hier. Heute liegt das Durchschnittsalter der Bevölkerung wohl bei 50 Jahren, wobei das bloß der visuelle Eindruck ist, den man auf öffentlichen Plätzen gewinnt, was mit der Mobilisierung zu tun hat. Natürlich gibt es auch Orte, an denen die Razzien der Rekrutierungsteams keine Bedrohung darstellen, wie Strände und Cafés, von deren Besitzern man munkelt, dass sie Schmiergelder zahlen. Dort sind viele Menschen zu sehen, besonders an den Wochenenden.

Wie schon vor dem Krieg kommt es in Charkiw regelmäßig zu Umweltkatastrophen. Ende Februar 2024 färbten sich alle vier Flüsse der Stadt schwarz, nachdem russische Drohnen ein Öllager angegriffen hatten. Es liegt zwischen Wohngebäuden und war zuvor schon mit einer Geldstrafe belegt worden, weil die normale Infrastruktur zum Feuerlöschen fehlt.

Einer der beiden Kiefernwälder der Stadt ist in letzter Zeit aufgrund der globalen Erwärmung abgestorben. Als dieser Sommer begann, ging man daran, den letzten noch verbleibenden Wald abzuholzen, um einen Steinbruch zu erweitern. Das haben die Anwohner eines nahe gelegenen Viertels gestoppt, und seither wachen sie darüber, dass der Wald nicht weiter abgeholzt wird.

Anwohner von Charkiw protestieren gegen das Abholzen des Waldes. Bild: Assembly.org.ua

Unsere Publikation ist praktisch die einzige, die die Protestierenden unterstützt. Die Betreiber des Steinbruchs rechtfertigen das Abholzen damit, dass Sand, Steine und Holz für den Bau von Festungsanlagen benötigt werden und sich niemand mehr dafür interessiert, ob ein durch internationale Abkommen geschütztes Ökosystem zerstört wird.

Vergiftete Flüsse und Quellen in Charkiw. Bild: Assembly.org.ua

Es gibt keinen Grund zu glauben, dass sich im Falle einer russischen Besetzung von Charkiw die offizielle Haltung gegenüber der Umwelt ändern würde. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die Sprengung des Kachowka-Staudamms durch ihre Soldaten nicht bewiesen ist, so hält allein schon das barbarische Abholzen Sibiriens dem Vergleich mit der Umweltzerstörung durch das US-Militär in Vietnam stand. Es ist schwer vorstellbar, dass sie sich, da sie im eignen Land einen derartigen Umgang mit der Natur pflegen, um die ukrainische Ökologie kümmern würden.

Clara Weiss: Hat sich die Stimmung in der Bevölkerung in Bezug auf den Krieg seit der gescheiterten Nato-unterstützten Gegenoffensive im letzten Jahr verändert?

Assembly: Das Scheitern der Gegenoffensive hat zu Apathie und dem Wunsch geführt, die Ukraine zu verlassen. Viele Menschen in Charkiw und anderen russischsprachigen Städten, die 2022 ihre Muttersprache als „Sprache des Feindes“ abgelegt hatten, sind wieder dazu übergegangen, sie zu verwenden. Die Beliebtheit von Trump, Erdogan, Orban und anderen ausländischen Politikern, die von einer friedlichen Lösung des Konflikts sprechen, wächst ebenfalls.

Ein Kriegsveteran, der ein Bein verloren hat, und eine Frau stehen vor einem Friedhof mit Kriegstoten in der Ukraine. Bild: Assembly.org.ua [Photo: Assembly.org.ua ]

Umgekehrt hat jedes Sprachrohr des Präsidenten und der Oligarchie begonnen, Wehrdienstverweigerer zu beschimpfen (d.h. alle, die nicht der High Society angehören und die nicht in der Armee dienen möchten), ebenso Emigranten oder Ausreisewillige sowie russischsprachige Ukrainer. In Bezug auf diese Personengruppen wurde ganz klar die altbekannte stalinistische Rhetorik wederbelebt, und es wird von den „Volksfeinden“, den „Geächteten“ gesprochen und es heißt: „Der Staat steht an erster Stelle“, „Keinen Schritt zurück“ etc.

Es ist aber keine Rede von einer Öffnung der Grenzen, damit all diese „falschen Ukrainer“ das Land den „würdigsten Bürgern“ überlassen könnten. Das Kassieren von Lösegeld gegen Gefangennahme ist für Beamte zu einem kolossal lukrativen Geschäft geworden. Als Konsequenz dieser Hysterie gilt es heute nicht mehr als schändlich, wenn sich jemand dem Militärdienst entzieht. Bereits im April dieses Jahres, als das Mobilisierungsgesetz verabschiedet wurde, erreichten Videos mit stolzen ukrainischen Männern, die Lieder wie „I'm an evader“ [ich bin ein Aussteiger / Verweigerer] singen, Millionen von Aufrufen in den sozialen Netzwerken.

Schließlich gibt es seit dem Winter bis zum heutigen Tag eine spontane Welle direkter Straßenaktionen gegen das Regime und seine Vertreter. Erst vor kurzem hat Assembly das Stück „Mit Bajonett und Granate“ vorgestellt. Darin haben wir Dutzende solcher Vorfälle untersucht, die wir klar von Vorfällen russisch unterstützter Sabotage unterscheiden, und daraus einige politische Schlussfolgerungen gezogen.

In einer Umfrage des Rasumkow-Zentrums vom letzten Monat wurden die Ukrainer gefragt, ob sie es für beschämend hielten, sich dem Militärdienst zu entziehen. 29,1 Prozent der Befragten stimmten zu, dass das eine Schande sei, aber 46,1 Prozent waren der Meinung, dass dies nicht der Fall sei, und ein weiteres Viertel war unentschlossen (oder hatte vermutlich Angst, die zweite Antwort zu wählen). Unter den Älteren (den über 60-Jährigen) war die Quote derjenigen, die die Wehrdienstverweigerer am meisten verurteilten, mit 37 Prozent am höchsten.

Die im Juni 2024 durchgeführte Meinungsumfrage. Die Frage war, ob die Ukrainer es für „beschämend“ hielten, sich jetzt, in Kriegszeiten, dem Wehrdienst zu entziehen. 46,1 Prozent antworteten mit „Nein“, 29,1 Prozent mit „Ja“ und 24,8 Prozent gaben an, sie hätten „Schwierigkeiten, die Frage zu beantworten“. Grafik: Assembly.org.ua

Clara Weiss: Wie würdet ihr beschreiben, was heute typischerweise in einem durchschnittlichen Arbeiterhaushalt in Charkiw diskutiert wird? Was treibt die Leute um?

Assembly: Da sich die Menschen jetzt sehr zurückgezogen haben, kann keine Beschreibung wirklich repräsentativ sein. Auf jedenfall spielt die Regierung, indem sie bei der Aufstockung der Armee und der gesamten Landesführung stark auf Gewalt setzt, Russland direkt in die Hände: Es herrscht eine Atmosphäre der völligen Demoralisierung, der Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Stadt und des Wunsches, die Stadt zu verlassen und so weit wie möglich wegzugehen. Viele Menschen sehen in einem Einmarsch der russischen Armee das kleinere Übel, weil die Russen bei sich selbst kein Ausreiseverbot für Männer zwischen 18 und 60 Jahren verhängt haben.

Unsere Zeitschrift versucht, diesen Gefühlen entgegenzuwirken und zu zeigen, dass man sich nicht auf die Gnade des Kremls verlassen, sondern sein Leben selbst in die Hand nehmen muss. Aber auch bei Leuten, die in dieser Hinsicht keine Illusionen haben und einfach nur kriegsmüde sind, sind rechtsextreme Verschwörungstheorien weit verbreitet, wie zum Beispiel die Vorstellung, es werde „ein Krieg zur Beseitigung der Ukrainer geführt, um Juden in der Ukraine anzusiedeln“ etc.

Linkes Gedankengut nimmt ebenfalls zu, aber bisher in viel geringerem Maße. Höchstwahrscheinlich liegt dies daran, dass westliche Sozialisten und Anarchisten es vorziehen, sich darauf zu beschränken, den Krieg verbal zu verurteilen, was in der Ukraine aber nichts bewirkt, anstatt zu ukrainischen Botschaften hinzugehen und die Öffnung der Grenzen zu verlangen. Natürlich ist es schwer vorstellbar, dass eine Diktatur auf solche Forderungen eingehen würde. Aber diese Aktionen würden der ukrainischen Arbeiterklasse zeigen, dass sie mit ihren Problemen nicht allein ist. Ohne dies haben wir, was wir haben.

Die Situation auf dem Arbeitsmarkt stellt sich derzeit etwa wie folgt dar:

Obwohl eine hohe Zahl von Charkiwer Betrieben zerstört oder evakuiert worden ist, fehlt es auch den hier Verbliebenen an Personal. Anfang 2023 setzte in der gesamten Ukraine ein Arbeitskräftemangel ein, und es fehlte auch an ungelernten Kräften. Männer verstecken sich en masse, Frauen wollen keine harte Arbeit machen oder verfügen nicht über die nötigen Qualifikationen, und Arbeitsmigranten aus Drittländern gibt es landesweit nur einige Hundert.

Um Personal anzuziehen, erhöhen einige Unternehmen die Löhne. Dieses Anwachsen führt vor dem Hintergrund einer rückläufigen Wirtschaft zu einer Erhöhung der Lebenshaltungskosten in der Ukraine. Außerdem hat sich die Regierung gegenüber dem IWF verpflichtet, die Gas- und Stromtarife zu erhöhen, um einen Zahlungsausfall bei den Auslandsschulden zu vermeiden. Die Erhöhung der Energiepreise führt wiederum zu einem noch stärkeren Anstieg der Lebensmittelpreise. Und gleichzeitig ist im Zusammenhang mit den Militärausgaben eine Steuererhöhung geplant.

Natürlich sind die Kriegsmüdigkeit und die Diskussionen darüber, wann endlich Friedensverhandlungen beginnen, jetzt für die Arbeiterklasse sehr wichtige Themen. Wir hoffen, dass unsere Zeitung dazu beiträgt, dass wenigstens einige derjenigen, die nicht für die Yachten und Villen anderer sterben wollen, ihr Leben retten können.

Clara Weiss: Unser Genosse Bogdan Syrotjuk wurde verhaftet, weil er sich dem Krieg widersetzt hat, und dies auf einer sozialistischen und internationalistischen Grundlage. Gibt es noch andere Fälle von Verhaftungen von Kriegsgegnern?

Assembly: Allein 2023 haben ukrainische Gerichte insgesamt 1.274 Urteile in Strafsachen wegen Wehrdienstverweigerung (Art. 336 des Strafgesetzbuches) gefällt. Das ist ein Drittel der 3.746 Urteile, die seit Beginn der russischen Invasion 2014 verhängt wurden. Darunter sind sowohl Bewährungsstrafen als auch tatsächliche Haftstrafen.

Zum Beispiel gibt es in unserer Region seit Herbst 2023 am Gericht keine Bewährungsstrafen nach diesem Artikel mehr. Jeder wird zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Dabei haben viele Wehrdienstverweigerer dieser Option sogar zugestimmt in der Hoffnung, der Armee zu entgehen und vielleicht sogar im Rahmen der Amnestie früher entlassen zu werden.

Alexei Matukhno aus Charkiw drohen bis zu 8 Jahre Haft wegen „Behinderung der rechtmäßigen Tätigkeit der Streitkräfte der Ukraine und anderer militärischer Formationen während eines besonderen Zeitraums“ (Art. 114-1 des Strafgesetzbuchs). Der Grund war, dass er Ende 2023 Kommentare in einem lokalen Chat über die Standorte veröffentlicht hat, wo man vorgeladen wird. Dies ist offenbar der erste Präzedenzfall einer solchen strafrechtlichen Verfolgung in dem Land, außer den Fällen, die mit Kanälen auf der Social-Media-App Telegram zusammenhingen, wo solche Orte häufig angegeben wurden (Verurteilungen für solche Fälle sind in verschiedenen Regionen bereits recht häufig.)

Die Verfolgung derjenigen, die den Krieg von einem sozialistischen und internationalistischen Standpunkt aus ablehnen, ist in der Ukraine noch nicht häufig genug, um eine ernsthafte Bedrohung für das Regime darzustellen. Deshalb sind das Hauptziel der Repressionen Menschen, die der Politik fern stehen und einfach nicht kämpfen wollen. Außerdem, ist es, wenn man einen Fall nicht persönlich kennt, oft unmöglich zu verstehen, ob eine bestimmte Person wirklich gegen den Krieg ist: Sowohl in der Ukraine als auch in Russland bezeichnen sich Leute, die tatsächlich die andere Kriegspartei unterstützen, manchmal öffentlich als „Kriegsgegner“.

Die Szene rechts zeigt einen Mann, der im Winter 2024 mit Gewalt von einer Straße in Charkiw weg zwangsverpflichtet wurde. Links die klassische Karikatur „Auf, zur Offensive“ aus dem Ersten Weltkrieg. Bild: Assembly.org.ua

Clara Weiss: Könnt ihr die Veränderungen beschreiben, die in den letzten Jahren in der Ukraine stattgefunden haben, nicht nur seit 2022, sondern auch seit dem Putsch von 2014, in Bezug auf die Meinungs-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit. Würdet ihr sagen, dass in der Ukraine Demokratie herrscht?

Assembly: Wenn man die öffentlichen Plätze sieht, auf denen sich so wenige Männer zeigen, und die Kleinbusse sieht, die – wie zur Zeit der Hitler-Besatzung - durch die Straßen Charkiws fahren und Passanten verhaften, um sie in Kellern gefangen zu halten, zu verprügeln und zu foltern, dann spricht das Bände über den Zustand der Rechte und Freiheiten. Natürlich begann dieses Abgleiten in die Diktatur schon unmittelbar nach dem Maidan [2014], als die abtrünnige Hälfte der Bürger zu „Falschen“ erklärt wurde mit dem Ziel, sie gewaltsam zu assimilieren oder aus dem Land zu treiben.

Heute trägt die Ukraine Züge eines totalitären Staates, der der Bevölkerung offen vorschreibt, welche Musik sie zu hören, welche Sprache sie zu sprechen und welche Kirche sie zu besuchen hat. Allerdings sind wir nicht der Meinung, dass die Situation – wäre der Maidan unterdrückt worden – viel besser gewesen wäre: Die gleiche Politik wäre gegen den pro-westlichen und nationalistischen Teil der Gesellschaft durchgeführt worden, wie es in Weißrussland nach der Niederschlagung der Proteste 2020 und der faktischen Besetzung des Landes durch Russland der Fall gewesen ist.

Gleichzeitig tauchen im gesamten von der Regierung kontrollierten Gebiet der Ukraine täglich Videos auf, die zeigen, wie besorgte Passanten dabei helfen, die auf der Straße Entführten gegen die Rekrutierungspatrouillen zu verteidigen. Und wir kennen nur ein einziges Beispiel für eine strafrechtliche Verfolgung in diesem Zusammenhang: Als am 2. in der Region Chmelnyzkij eine Gruppe von Frauen bei der Verteilung von Vorladungen einen Kleinbus des Militärs zertrümmerte, wurde eine von ihnen wegen Rowdytums zu einer Geldstrafe von 85 Griwna (etwa 2 Dollar) verurteilt (das waren die Kosten für den Stock, mit dem sie die Scheibe zerbrochen hatte).

Das heißt, dass die Versammlungsfreiheit in gewisser Weise in der Ukraine noch immer gilt. Anders als in Russland, wo es keine offiziell verbotenen Sprachen und Nationalkulturen gibt: dort sind die Grenzen für Männer zum Weggehen offen (außer für diejenigen, die eine Vorladung zur Armee erhalten haben), und die gewaltsame Zusammenrottung von Männern für den Militärdienst wird nur für die Wehrpflicht durchgeführt, während die Front mit Vertragssoldaten besetzt ist. Andrerseits kann man dort wegen eines unbefugten Streikpostens strafrechtlich verfolgt werden und ins Gefängnis kommen.

Offenbar wird der Umfang der Rechte und Freiheiten im Kapitalismus durch die Größe des Geldbeutels bestimmt. Die herrschende Klasse hat viel mehr Möglichkeiten, ihre Kinder in ihrer Muttersprache zu erziehen oder sich die Möglichkeit zu erkaufen, die Ukraine zu verlassen. Dennoch hat der Ukrainische Wirtschaftsrat, in dem 113 führende Industrieverbände mit 28.000 Unternehmen vertreten sind, das Parlament Anfang dieses Jahres aufgefordert, den Gesetzentwurf zur Mobilisierung zu revidieren.

Allerdings hat niemand die Sperrung von Bankkonten oder das Verbot von Immobilientransaktionen für Verweigerer wieder aufgehoben oder die Beschlagnahmung ihrer Führerscheine rückgängig gemacht. Auch nicht das Recht, Transportmittel, die Unternehmen gehören, willkürlich für militärische Zwecke zu beschlagnahmen, oder andere Regelungen, die die Bourgeoisie als „verfassungswidrig“ bezeichnet. Der ukrainische Staat kann es sich leisten, sogar seine eigene Meinung zu ignorieren, weil er auf Kosten der wirtschaftlichen Basis seiner westlichen Partner lebt. Kurz: die Ukraine befindet sich heute auf halbem Weg zwischen den USA und Nordkorea.

Clara Weiss: Wie wirkt sich dieses „Abgleiten in die Diktatur“, wie ihr es nennt, auf die Arbeit von Journalisten wie euch aus?

Assembly: Erstens ist der Journalismus praktisch ausgestorben (dieser Prozess war Anfang 2022 abgeschlossen). Social Media und Massenmedien haben sich im Allgemeinen zu Nachrichtenmedien entwickelt, die lediglich offizielle Pressemitteilungen verbreiten. Unter diesen Bedingungen gibt es zu den Veröffentlichungen von Assembly auch landesweit keinen Vergleich. Unsere ukrainischen Leser beschweren sich manchmal darüber, dass sie keinen Zugriff auf die Website von Assembly haben.

Screenshot einer Seite, die einen ukrainischen Leser daran hindert, auf Assembly.org.ua zuzugreifen. Bild: Assembly.org.ua

Wir erhalten kein Geld aus dem Ausland – andere Organisationen wollen nicht riskieren, durch die Finanzierung einer Initiative für Gegeninformation Ärger mit den Behörden zu bekommen. Unsere Hoffnung liegt ganz bei den Gleichgesinnten. Unter diesem Link kann man sich mit Gleichgesinnten zusammenschließen, und wenn ihr uns eine einmalige Spende zukommen lasst oder euch zu einer monatlichen Spende verpflichtet, ist jeder Betrag sehr wichtig. Assembly ist für uns wichtig, weil sie den Menschen da unten die Augen für diese Gesellschaft öffnet und Dinge publiziert, die ihnen helfen, Leben zu retten. Keiner weiß, welche Auswirkungen unsre Worte haben werden!

Clara Weiss: Vielen Dank für das Interview

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