Knapp 20.000 Flüchtlinge werden zur Zeit auf den griechischen Inseln Chios, Samos, Lesbos, Kos und Leros festgehalten. Die Zahl war bis Ende Oktober nochmals gestiegen. Die Menschen sind gefangen in Lagern, in denen katastrophale Zustände herrschen und die nur über eine Kapazität für 6.000 verfügen.
Besonders dramatisch ist die Situation im Moria-Camp auf Lesbos, das von der BBC jüngst als „schlimmstes Flüchtlingslager der Welt“ bezeichnet wurde. Obwohl es nur über eine Kapazität von 3.000 verfügt, werden dreimal so viele Menschen dort eingepfercht, ein Drittel davon Kinder. Auch das Lager auf Samos ist völlig überfüllt – mit knapp 5.000 Menschen bei einer Aufnahmekapazität von 648 Menschen.
Die erschreckenden Bedingungen sind eine direkte Konsequenz des kriminellen Abkommens zwischen der Europäischen Union, der Türkei und der Syriza-Regierung (Koalition der Radikalen Linken), das im März 2016 ausgehandelt wurde. Die Regierung von Alexis Tsipras, die ein Sparpaket nach dem anderen gegen die griechische Arbeiterklasse durchsetzt, ist zum eifrigen Gefängniswärter der EU geworden und hat die sogenannten „Hotspots“ für Flüchtlinge einrichten lassen, die man nur als Konzentrationslager beschreiben kann. Der EU-Türkei-Deal sieht vor, dass alle Flüchtlinge, die von Griechenland aus in die Türkei kommen, inhaftiert werden können, bis über ihr Asylgesuch entschieden wurde. Das Ziel ist es, sie schnellstmöglich wieder in die Türkei deportieren zu lassen.
Statistiken der UN Refugee Agency zufolge haben fast 30.000 Flüchtlinge, hauptsächlich Frauen und Kinder, das Ägäische Meer von der Türkei nach Griechenland überquert. Allein bis Oktober nahmen 23.500 die Gefahr der Überfahrt auf sich; mehr als die Hälfte von ihnen wurden auf Lesbos untergebracht. Die meisten kommen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak – alles Länder, die in jahrelangen Kriegen unter Führung der USA und der EU verwüstet wurden.
Der afghanische Farmer Rahmuddin Ashrafi erzählte in einem Artikel der New York Times, im Lager bestehe „das Leben aus Schlange stehen“. Rahmuddin traf mit seiner Frau und drei Kindern im Juni in Moria ein.
„Ein typischer Tag für diese Familie beginnt um 4 Uhr morgens, wenn sich Ashrafi für Wasser und Brot anstellt, die vier Stunden später um 8 Uhr ausgeteilt werden. Um ca. halb 10 stellt er sich erneut in eine Schlange für das Mittagessen, das gewöhnlich nach weiteren vier Stunden ankommt. Zwei Stunden später schließt er sich einer weiteren vierstündigen Schlange für das Abendessen an. An Tagen, an denen er anstehen muss, um offizielle Papiere zu holen oder den Arzt zu besuchen – seine dreijährige Tochter musste kürzlich wegen Appendizitis ins Krankenhaus –, muss er auf Mahlzeiten verzichten oder mit den Essensresten anderer Afghanen auskommen.“
„Bevor ich ankam, dachte ich, dass Griechenland einer der besten Orte zum Leben sein würde“, sagte Ashrafi gegenüber der Zeitung. „Aber jetzt denke ich, es wäre besser gewesen zu ertrinken, als wir das Meer überquerten.“
In einer gemeinsamen Erklärung prangern 19 NGOs die sanitären Bedingungen in Moria an: „Das Abwassersystem funktioniert nicht, dreckiges Toilettenwasser fließt in die Zelte und unter die Matratzen, auf denen Kinder schlafen – und das, obwohl Gelder für die Verbesserung des Abwassersystems längst genehmigt wurden.“
Liz Clark, eine britische Ärztin, die als Freiwillige auf Lesbos arbeitet, schrieb im September auf einem Blog von Ärzte ohne Grenzen (MSF): „62 bis 70 Menschen müssen sich mittlerweile eine Toilette teilen und 84 eine Dusche... Das ist zwei- bzw. dreimal soviel wie die internationalen Mindeststandards für eine humanitäre Notlage.“
Sie fügte hinzu: „Wer medizinische Versorgung bekommen will, muss sich mit einem Terminschein ausweisen oder auf irgendeinem Weg den Polizisten, die den Eingang zur Klinik kontrollieren, beweisen, dass sie einen Arzt brauchen.“
Die entsetzlichen Lagerbedingungen sowie das langsame und komplizierte Asylverfahren, das nur wenige Flüchtlinge vollständig verstehen, setzen die Menschen, die oft bereits traumatisiert sind und in ihren Heimatländern furchtbare Gräueltaten erlebt haben, unter immensen psychologischen Druck.
In einem offenen Brief, der auf der MSF-Webseite im September publiziert wurde, schreibt Dr. Alessandro Barberio, ein Psychiater der für Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos arbeitet: „In all den Jahren als Mediziner habe ich noch nie eine so hohe Anzahl von Menschen mit schweren psychologischen Erkrankungen gesehen, wie gegenwärtig unter den Flüchtlingen auf der Insel Lesbos. Die überwältigende Mehrheit der Menschen, die ich untersuche, weisen psychotische Symptome, suizidale Gedanken – sogar Selbstmordversuche – auf und sind verwirrt. Viele sind nicht in der Lage, die einfachsten, alltäglichen Dinge auszuführen, wie Schlafen, ausreichend Essen, Hygiene und Kommunikation.“
Gewalt und Konflikte unter den eingepferchten Menschen, einschließlich sexueller Gewalt gegen Frauen, sind in Moria weitverbreitet, genauso wie Selbstmordversuche und Selbstverletzung, auch bei Kindern.
Seit 2015 wurden 1,6 Milliarden Euro von der EU bereitgestellt, die angeblich für die Bewältigung der Flüchtlingskrise in Griechenland gedacht sind. Das wären 2017 umgerechnet etwa 7.000 Euro pro Flüchtling gewesen. Doch wie eine Reportage des Guardian im September aufzeigte, sind „von den 561 Millionen Euro der langfristigen Förderung von der Europäischen Kommission bis jetzt nur 153 Millionen ausgezahlt worden“.
Gleichzeitig mehren sich Korruptionsvorwürfe hinsichtlich der ausgezahlten Fördermittel. Im Mittelpunkt steht der Verteidigungsminister Panos Kammenos, Parteichef der ultrarechten Unabhängigen Griechen, dem Koalitionspartner von Syriza. Die griechische Tageszeitung Fileleftheros hat Informationen publiziert, die darauf hinweisen, dass Firmen, die enge Beziehungen zu Kammenos pflegen, regelmäßig überhöhte Preise für Dienstleistungen im Moria-Lager verlangt haben – von der Verpflegung bis zu sanitären Leistungen. Kammenos reagierte darauf, indem er gegen drei Journalisten der Zeitung Klage wegen angeblicher Verleumdung einreichte. Sie wurden daraufhin festgenommen und mussten eine Nacht in Haft verbringen. Nach dem Bericht eröffnete das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung Ermittlungen.
Kammenos’ autoritäre Maßnahmen und Angriffe auf die Pressefreiheit sorgten in Griechenland und international für Empörung.
Die Syriza-Regierung begegnet der humanitären Katastrophe hingegen, indem sie jeglichen Widerstand gegen die Flüchtlingspolitik brutal unterdrückt. In einem Brief an den Bürgermeister von Lesbos brüstete sich der Migrationsminister Dimitris Vitsas im September damit, dass die Regierung die Polizeipräsenz im Moria-Lager erhöht hat.
Der Leiter des Lagers ist der ehemalige General Ioannis Balpakakis, der 2014 bei den Wahlen für Syriza kandidierte.
Gegenüber dem Syriza-nahen Radiosender Sto Kokkino stritt Balpakakis im September Berichte über die schrecklichen Bedingungen ab – trotz aller Beweise. Er behauptete, die Toiletten und Unterkünfte in Moria seien sauber und das Essen werde in 45-minütigen Abständen serviert. Schlangen gäbe es nur, weil „viele einfach hingehen und in der Schlange stehen, um zu plaudern, weil sie nichts anderes zu tun haben“. Weiter erklärte er: „Viele NGOs, die jetzt das Jahr 2019 planen und versuchen, Spender zu werben, stellen die Situation völlig negativ dar, damit sie als Retter angesehen werden und Gelder bekommen.“
Balpakakis’ provokative Aussagen stehen im Kontext der Kriminalisierung von Rettungshelfern durch die Syriza-Regierung, die in Absprache mit der EU stattfindet, deren Abschottungspolitik Griechenland umsetzt.
Im Herbst wurden über 30 Mitglieder der NGO Emergency Response Centre International (ERCI) wegen Menschenhandel angeklagt, darunter die 23-jährige Profischwimmerin Sara Mardini. 2015 floh Mardini selbst aus Syrien nach Griechenland. Als das Boot in Seenot geriet, retteten sie und ihre Schwester sich selbst und die anderen 18 Flüchtlinge vor dem Ertrinken, indem sie das vollgelaufene Boot über Stunden schwimmend ans Ufer von Lesbos zogen. Die Schwestern Mardini flohen weiter nach Deutschland, wo sie für ihre mutige Tat ausgezeichnet wurden und ihre Schwimmkarriere wieder aufnehmen konnten. Sara kehrte aber bald nach Lesbos zurück, um dort anderen Flüchtlingen zu helfen. Ihr wird nun vorgeworfen, als Mitglied der NGO Teil einer kriminellen Vereinigung zu sein und mit Schmugglern zusammengearbeitet zu haben.
Mardinis Anwalt, Haris Petsalnikos, erklärte: „Bei den Anschuldigungen geht es vor allem darum, humanitäre Hilfe zu kriminalisieren. Sara war nicht einmal anwesend, als diese angeblichen Verbrechen stattfanden, doch die Anklagen sind schwerwiegend, vielleicht die schwerwiegendsten, denen sich ein Rettungshelfer jemals stellen musste.“
Anfang Dezember wurden Mardini und weitere Rettungshelfer vorerst gegen eine Kaution von 5.000 Euro freigelassen, ihr Verfahren läuft jedoch weiter. Einer der Anwälte der Rettungshelfer in Athen, Zacharias Kesses, sagte dem Guardian: „Die zeitgleiche Freilassung von allen zeigt, dass es nicht genug Beweismaterial gegen sie gibt.“ Ihm zufolge haben die Behörden ihr Ziel trotzdem erreicht: Hunderte Freiwillige sind entmutigt und haben Lesbos verlassen. „Die Anklage wurde verändert, aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass das Verfahren eingestellt wird.“
Die Einschüchterung von Helfern, vor allem denjenigen, die sich an Rettungspatrouillen im Ägäischen Meer beteiligen, ist ein wesentliches Element der Abschottungspolitik der EU. Sie lässt Menschen, die vor Krieg und Elend fliehen, im Meer ertrinken, um sie abzuschrecken und ihre Flucht nach Griechenland zu verhindern.
Anfang Oktober jährte sich zum fünften Mal das Bootsunglück vor der Küste Lampedusas, bei dem 369 Migranten ihr Leben verloren. Seitdem sind weitere Tausende im Mittelmeer ertrunken – laut der International Organization for Migration waren es in diesem Jahr mindestens 2.242 (Stichtag: 25. Dezember).
Die Flüchtlinge in Moria und anderen Lagern müssen leiden, weil ihnen das Leben so hart wie möglich gemacht wird, um andere Flüchtlinge von der Überfahrt nach Griechenland abzuhalten. Ein britischer Vertreter der Europäischen Kommission gab dies Anfang September in einem privaten Treffen griechischer, europäischer und NGO-Repräsentanten zu. Laut der New York Times empfahl er, „die Standards in Moria niedrig zu halten, um weitere Einwanderung nach Griechenland zu verhindern“.
Die herrschende Klasse nutzt die flüchtlingsfeindliche Politik als Mittel, um die weit verbreitete Wut über die Sparmaßnahmen in Griechenland, die Syriza auf Geheiß der EU sogar noch verschärft hat, abzulenken und die lokale Bevölkerung gegen die Flüchtlinge auszuspielen.
Deutlich wurde diese Taktik vor kurzem, als das Militär nach starkem Regenfall erst anbot, 1.200 Migranten aus Moria zu beherbergen, aber dann den Vorschlag wieder zurückzog. Der Zeitung Kathimerini zufolge wollten die Behörden nicht den Eindruck erwecken, dass sie den Flüchtlingen Priorität gegenüber der lokalen Bevölkerung geben.
Siehe auch:
Syriza-Regierung inhaftiert Flüchtlinge in Griechenland
[24. März 2016]
Syriza beteiligt sich an historischen Verbrechen gegen Flüchtlinge
[6. April 2016]