Perspektive

Das Paradox des Börsenbooms

Am Montag ereignete sich ein scheinbar verblüffendes Paradox. Während die Forschungseinrichtung National Bureau of Economic Research an diesem Tag bekannt gab, dass die USA in einer Rezession sind und damit den voraussichtlich schlimmsten Wirtschaftseinbruch seit der Großen Depression der 1920er Jahre erleben werden, erreichten die Aktienindizes an der Wall Street wieder das Niveau vom Jahresanfang.

Seit dem Börsenabsturz Mitte März, als die Finanzmärkte in den USA und international erstarrten, hat die Wall Street einen spektakulären Anstieg erlebt. Der US-Aktienindex Dow Jones ist seit dem 23. März um 48 Prozent nach oben geklettert; der auf Technologiekonzerne orientierte Nasdaq ist um 45 Prozent gestiegen und liegt nun 1.000 Punkte höher als zu Jahresbeginn. Der S&P-500-Aktienindex hat mit 45 Prozent Zuwachs ebenfalls wieder den Stand vor der Corona-Pandemie erreicht.

Der Boom an der Wall Street steht in krassem Gegensatz zur realen Wirtschaft und findet inmitten der tiefsten Gesundheitskrise eines ganzen Jahrhunderts statt. Die Corona-Infektionen und Todeszahlen steigen in den USA und weltweit weiter an.

Anzeige der Aktienkurse vor einer Bank in Hongkong, 3. März 2020. (AP Photo/Kin Cheung)

In der vergangenen Woche warnte die Haushaltsbehörde des US-Kongresses davor, dass die Auswirkungen der Pandemie noch mindestens zehn Jahre andauern werden. Damit widersprach sie den Behauptungen von Präsident Trump und seinen Anhängern, dass die Wirtschaft wieder mit Macht zurückkehren werde.

Die Folgen der Pandemie auf die fünf größten europäischen Volkswirtschaften sind Prognosen zufolge gewaltig. In Großbritannien wird ein Rückgang von 14 Prozent erwartet, in Spanien 11,6 Prozent, in Frankreich 10,3 Prozent, in Italien 9,2 Prozent und in Deutschland 6,1 Prozent. Die Weltbank schätzt, dass das globale Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr um 5,2 Prozent schrumpfen wird.

Unter diesen Bedingungen hat man die üblichen Messgrößen für die Einschätzung der Aktienkurse – wie das Kurs-Gewinn-Verhältnis – verworfen. Unternehmen, die entweder Verluste verzeichnen oder aufgrund der Pandemie gar keine Zukunftsprognosen über ihre Einnahmen abgeben können, haben trotzdem steigende Aktien.

Was steht hinter dieser Spekulationsorgie im Angesicht des Todes, der Zerstörung von Millionen Arbeitsplätzen und der rasanten Verarmung immer breiterer Massen der arbeitenden Bevölkerung?

Die Antwort liegt in der Reaktion der herrschenden Elite auf die Pandemie. Von Anfang an betrachtete sie Covid-19 nicht als Gesundheitskrise, die durch wissenschaftlich fundierte Maßnahmen bewältigt werden muss, sondern als Gefahr für die Profitakkumulation – und sie handelte entsprechend.

Die Trump-Regierung brachte mithilfe des gesamten politischen Establishments ein Rettungspaket von über drei Billionen für die Konzerne auf den Weg. Die Federal Reserve sprang ein und pumpte Billionen an frischem Geld in die Märkte.

Die Fed hatte das Limit für ihren Bestand an Finanzanlagen bereits in der Wirtschaftskrise von 2008 von 800 Milliarden Dollar auf 4 Billionen angehoben. Jetzt hat sie ihre Bestände nochmal auf bis zu 7 Billionen erhöht, und sie könnten sogar auf 9 Billionen steigen. Notenbankchef Jerome Powell hat bereits klar gemacht, dass es bei der Fed „kein Limit“ geben wird. Sie fungiert als Garant für die Finanzmärkte in allen Bereichen.

Überall auf der Welt machen es die Zentralbanken der Fed nach. Laut einer Veröffentlichung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich werden die Maßnahmen der fünf großen Zentralbanken der Welt zusammengenommen dazu führen, dass ihre Bilanzen bis Ende 2020 auf bis zu 23 Prozent des BIP anwachsen und für unbestimmte Zeit auf diesem historisch beispiellosen Niveau bleiben. Zum Vergleich: Nach der Krise von 2008 gab es einen Anstieg von 10 Prozent.

Menschen warten in einer Schlage vor einem Karrierecenter in Las Vegas, um Arbeitslosenhilfe zu erhalten (AP Photo/John Locher)

Aus Sicht der Finanzhäuser und Spekulanten an der Wall Street war die Pandemie eine Win-Win-Situation. Sie fühlen sich ermutigt dank der mörderischen Back-to-Work-Kampagne und der vollsten Unterstützung von Seiten des politischen Establishments, das die Umsätze und Profite der Konzerne höherstellt als das Leben der Arbeiter.

Sie wissen auch, dass die Fed bei einem signifikanten Einbruch der Börse eingreifen wird, um noch mehr Geld zur Verfügung zu stellen.

Außerdem haben sie erkannt, dass sie in dem wirtschaftlichen Ruin enorme Gewinne machen können. Die Krise schafft Bedingungen, in denen Großkonzerne jene Firmen verschlingen können, die dem Untergang geweiht sind. Wer überlebt, kann die Größe des Unternehmens und seine Gewinnmargen noch weiter erhöhen.

Gleichzeitig dient ihnen die Arbeitslosigkeit, die sich den Rekordzahlen der Nachkriegszeit annähert, als Hebel, um die Axt an die Löhne und Arbeitsbedingungen zu setzen. Mithilfe der neuen Technologien werden die Betriebe umstrukturiert, um noch weniger Personal zu noch niedrigeren Löhnen zu beschäftigen.

Kurzum: Die Unternehmens- und Finanzoligarchen lernen gerade, dass sie mit dem Coronavirus nicht nur leben, sondern auch gedeihen und profitieren können.

Allerdings gibt es objektive Grenzen für die Bacchusfeste der Spekulanten. Der Berg an fiktivem Kapital, erzeugt durch Geldspritzen mit nur einem Klick am Computer, schafft an und für sich keinen realen Wert. Finanzielle Vermögenswerte, einschließlich aufgeblähter Aktienportfolios, stellen einen Anspruch auf einen künftigen Wert dar, der noch aus der Arbeiterklasse gepresst werden muss.

Das erfordert eine verschärfte Ausbeutung der Arbeiterklasse in gigantischem Ausmaß. Die herrschende Klasse in den USA und weltweit bereitet sich auf die massiven Klassenkämpfe vor, die ihr bevorstehen.

Das sind die treibenden Faktoren hinter Trumps Versuch, eine Polizei- und Militärdiktatur aufzubauen und die Verfassung auszuhöhlen. Um mit den Worten von Trumps Verteidigungsminister Mark Esper zu sprechen: Der Prozess der Profitanhäufung ist das „Schlachtfeld“, das der kapitalistische Staat mit Gewalt „beherrschen“ muss.

Die Explosion der Proteste nach dem Polizeimord an George Floyd ist ein Vorgeschmack auf noch größere Klassenauseinandersetzungen. Floyds letzte Worte „Ich kann nicht atmen“ haben in den USA und überall auf der Welt einen Nerv getroffen, weil sie die Lage der Arbeiter weltweit auf den Punkt bringen.

Man kann im Kapitalismus immer weniger „atmen“. In einem System zu leben, in dem die herrschende Klasse mit allen Mitteln und um jeden Preis ihren Profit sichern will, wird zunehmend unmöglich.

Die Arbeiterklasse steht vor der drängenden Aufgabe, sich die objektive Logik der Situation, mit der sie jetzt konfrontiert ist, bewusst zu machen und zu verstehen, welchen Charakter der Kampf gegen die blutige und diktatorische herrschende Klasse hat, in dem sie bereits mittendrin ist.

Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung berief sich in erster Linie auf das unveräußerliche Recht auf Leben. Heute kann dieses Recht nur verwirklicht werden, wenn ein bewusster politischer Kampf für die Machteroberung geführt wird, der das Profitsystem stürzt und einen Arbeiterstaat errichtet. Das sind die ersten und entscheidenden Schritte bei der Reorganisation der Wirtschaft auf sozialistischer Grundlage.

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