Etwas mehr als drei Wochen sind vergangen, seit der Mord an George Floyd Massenproteste in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt auslöste. Die politischen Vertreter der herrschenden Klasse reagierten einerseits mit brutaler Gewalt und der Androhung militärischer Repression und andererseits mit Versprechen für „Reformen“ und „Rechenschaftspflicht“.
Am Dienstag verfügte US-Präsident Donald Trump, mehr Sozialarbeiter und Fachkräfte für psychische Gesundheit in die Polizei einzubinden, eine nationale Datenbank einzurichten, um entlassene oder wegen exzessiver Gewaltanwendung verurteilte Beamte zu verfolgen und Würgegriffe zu verbieten – es sei denn, „das Leben eines Beamten ist in Gefahr“, wie Trump einschränkte.
Der Präsident gab seine Verordnung in einer Rede vor Polizeibeamten bekannt, in der er unablässig zu „Recht und Ordnung“ aufrief und die Demonstranten anprangerte. Trumps Einschränkung im Bezug auf Würgegriffe öffnet der weiteren Anwendung dieser tödlichen Polizeimethode Tür und Tor, weil Polizisten immer wieder behaupten, dass sie Angst um ihr Leben hatten und deshalb jemanden schwer verletzten oder töteten.
Die Vorschläge der Demokraten für kosmetische Änderungen decken sich weitgehend mit denen von Trump, zum Beispiel das Verbot von Würgegriffen und die Einrichtung einer nationalen Datenbank übergriffiger Beamte. Die Forderung, die Finanzmittel der Polizei zu kürzen, die bei den Demonstranten beliebt ist, lehnen sie hingegen ausdrücklich ab. Der ehemalige Vizepräsident Joe Biden – jetzt designierter Präsidentschaftskandidat der Demokraten – hat sogar zusätzliche Bundesmittel in Höhe von 300 Millionen Dollar gefordert, um die Polizeidienststellen im ganzen Land zu stärken. Und Vermont-Senator Bernie Sanders erklärte, Polizisten sollten höhere Gehälter bekommen.
Die genannten Maßnahmen werden keinerlei Wirkung zeigen. Sie könnten ebenso gut vorschlagen, die Farbe der Polizeiuniformen zu ändern. Die „Reformen“, die diese Vertreter der herrschenden Klasse anbieten, werden unweigerlich dazu führen, dass die Polizei als Unterdrückungsapparat des Staats gestärkt wird.
Die herrschende Klasse hat schon oft eine Polizeireform als vermeintliche Lösung für exzessive Gewalt versprochen. Nach den Rebellionen der 1960er Jahre in US-Städten behaupteten die Demokraten, dass mehr schwarze Polizisten auf der Straße, mehr schwarze Polizeichefs und mehr schwarze Bürgermeister das Problem lösen würden.
Ein halbes Jahrhundert später machen Afroamerikaner mehr als 13 Prozent der Polizeibeamten aus, womit sie im Vergleich zur Gesamtbevölkerung in der Polizei überrepräsentiert sind. Viele Polizeibehörden im ganzen Land werden von schwarzen Polizeichefs geleitet und große wie kleine Städte haben schwarze Bürgermeister gewählt. In den letzten zehn Jahren wurde die Einführung von Körper- und Fahrzeugkameras der Polizei als ein weiteres Allheilmittel präsentiert.
Und doch geht das Morden und Misshandeln weiter, ja es eskaliert sogar.
Was in allen Medienkommentaren über Polizeigewalt fehlt, ganz zu schweigen von den Äußerungen bürgerlicher Politiker, ist eine Analyse des Charakters der Polizei und ihres Verhältnisses zur kapitalistischen Gesellschaft.
Die einhellige Darstellung der Polizeigewalt als Ausdruck von Rassismus erklärt nichts. Natürlich gibt es Rassismus in der Polizei. Faschistisches Gedankengut ist unter jenen, die für die Polizei rekrutiert werden, allgegenwärtig. Opfer von Polizeigewalt sind jedoch arme und unterdrückte Schichten aller Hautfarben und Ethnien. Noch während die Proteste sich ausweiteten, ging das Töten weiter – unter den Opfern waren Rayshard Brooks in Atlanta, Georgia, der schwarz war, und Hannah Fizer in Sedalia, Missouri, die weiß war.
Die Polizei fungiert als Instrument der Klassenherrschaft, nicht der Rassenunterdrückung. Da Floyd in Minneapolis getötet wurde, lohnt es sich, an die Rolle der dortigen Polizei vor 86 Jahren zu erinnern. 1934 schlug sie mit brutaler Gewalt den Generalstreik von Minneapolis nieder.
Das ist nur ein Beispiel von vielen. In allen größeren Klassenkämpfen und sozialen Konflikten in Amerika – vom Großen Eisenbahnerstreik 1877 und dem Haymarket-Massaker 1886 bis hin zum historischen Streik der Bergarbeiter in der Arizona Kupfermine der Phelps Dodge Corporation 1983 – waren die Arbeiter mit der Polizei als Instrument der herrschenden Klasse konfrontiert, die ihr „Recht“ durchsetzen wollte. Ein erneutes Aufleben von Streiks wird mit Sicherheit dazu führen, dass die Polizei wieder ihre „traditionelle“ Rolle spielt, nämlich Streikposten zu attackieren.
Die Demonstranten, die jüngst Gelegenheit hatten, die Polizisten in Aktion zu erleben, sollten sich auch an ein weiteres historisches Beispiel erinnern, das zeigt, wie die Polizei versucht, die kapitalistische Ordnung durchzusetzen: die berüchtigten Polizeiausschreitungen in Chicago 1968. Tausende Demonstranten gegen den Vietnamkrieg wurden damals bei einem Protest vor dem Nationalkonvent der Demokraten von der Polizei zusammengeschlagen.
Mit der Zunahme der sozialen Ungleichheit und der Klassenspannungen in den letzten vierzig Jahren wuchs proportional dazu auch die Polizei und ihr Budget. 20 bis 45 Prozent der frei verfügbaren Finanzmittel der Haushalte großer US-Städte entfallen auf die Polizei. Insgesamt belaufen sich die Ausgaben für die Polizei inflationsbereinigt auf 115 Milliarden Dollar, gegenüber 42 Milliarden Dollar vor vierzig Jahren.
Die Mittel für die Bundespolizei, darunter für das FBI sowie Zuschüsse für staatliche und lokale Polizeibehörden, haben sich im gleichen Zeitraum mehr als verfünffacht. Seit 1980 stiegen die Gesamtausgaben für die Polizei und verwandte Institutionen von einem Prozent des Nationaleinkommens auf zwei Prozent, während die Sozialausgaben von einem Prozent auf 0,8 Prozent sanken.
Darüber hinaus wird die Polizei immer stärker mit dem Militär verbunden, dem Instrument des US-Imperialismus im Ausland. In den letzten zwanzig Jahren haben lokale Polizeikräfte militärische Ausrüstung im Wert von etwa 7 Milliarden Dollar erhalten. Wenn Trump die Demonstranten als „inländische Terroristen“ bezeichnet, wendet er damit lediglich die Logik des „Kriegs gegen den Terror“ auf die Opposition innerhalb der Vereinigten Staaten an. Szenen, in denen paramilitärische SWAT-Teams Sturmgewehre tragen und in gepanzerten Fahrzeugen gegen Demonstranten Stellung beziehen, erinnern in jeder Hinsicht an eine Besatzungsmacht.
Polizeibrutalität ist ein weltweites Phänomen, auch wenn das Ausmaß der Polizeimorde in den USA im Vergleich zu den anderen entwickelten Industriestaaten einzigartig ist.
Brasilien, wo die korrupte Polizei in den verarmten Favelas wütet, steht beim Thema Polizeigewalt weltweit oft an der Spitze. Jedes Jahr werden dort mehrere Tausend Menschen ermordet. Auf den Philippinen werden Tausende verarmte Arbeiter Opfer des „Kriegs gegen Drogen“, den der faschistische Präsident Rodrigo Duterte ausgerufen hat.
In Frankreich wurde die ganze Macht des Staates sowohl gegen die Proteste der „Gelbwesten“ (die meist weiß waren) als auch gegen afrikanische Einwanderer mobilisiert, die für Gleichheit protestieren. In Osteuropa sieht sich die ungarische Polizei jedes Jahr mit fast eintausend Anzeigen wegen übermäßiger Gewaltanwendung konfrontiert, ohne dass dies nennenswerte Folgen für die beschuldigten Beamten hätte.
Auch in Kenia, Ghana, Nigeria und Südafrika sind größere Proteste gegen Polizeigewalt in Solidarität mit George Floyd ausgebrochen – alles Länder, in denen die Polizei für ihre notorische Brutalität bekannt ist und jedes Jahr Hunderte Menschen durch staatliche Sicherheitskräfte getötet werden. In einem Bericht der BBC News vom April heißt es, dass „mehr Nigerianer von Sicherheitskräften als von Covid-19 getötet werden“:
Mindestens 1.476 Menschen wurden im vergangenen Jahr von staatlichen Akteuren Nigerias getötet, so der Council on Foreign Relations. In ihrem Bericht über Nigerias Corona-Lockdown erklärte die Regierungsbehörde NHRC, sie habe „8 separate Vorfälle von außergerichtlichen Tötungen festgestellt, die zu 18 Todesfällen führten“.
Wie kann man das mit Rassismus erklären? Der internationale Charakter der Polizeigewalt – genau wie die Ausbreitung der Gewalt in Städten, die von schwarzen Polizeichefs und schwarzen Bürgermeistern regiert werden – widerlegt den rassistischen Mythos, dass es um die Unterdrückung des „schwarzen Amerika“ durch das „weiße Amerika“ gehe.
Polizeigewalt wurzelt im Charakter der kapitalistischen Gesellschaft. Die besondere Brutalität der Polizei in den Vereinigten Staaten lässt sich mit der besonderen Brutalität der Klassenverhältnisse in Amerika erklären, dem Land der Ungleichheit und der Heimat der Finanzoligarchie.
Friedrich Engels lieferte 1884 in seinem Werk Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staatseine grundlegende marxistische Erklärung des Staats:
Der Staat ist also keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungene Macht […] Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, dass diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. (MEW, Bd. 21, S. 165)
Ein wesentliches Merkmal des Staats, so Engels, ist die Einrichtung einer „öffentlichen Gewalt“, die „nicht bloß aus bewaffneten Menschen, sondern auch aus sachlichen Anhängseln, Gefängnissen und Zwangsanstalten aller Art“ besteht. „Sie [die öffentliche Gewalt] verstärkt sich aber in dem Maß, wie die Klassengegensätze innerhalb des Staats sich verschärfen und wie die einander begrenzenden Staaten größer und volkreicher werden.“
Das heißt, der Staat ist keine neutrale Instanz. Der Staat und mit ihm die „Zwangsanstalten aller Art“ sind politische Instrumente der herrschenden Klasse, die aus der Unvereinbarkeit der Klasseninteressen entstehen.
Die Socialist Equality Party fordert die Abschaffung der Polizei. Aber diese Forderung ist direkt mit der Abschaffung der Klassengesellschaft verbunden. Weder die Hautfarbe und Herkunft der Polizisten oder lokalen Regierungsbeamten noch diese oder jene symbolische Reform wird etwas verändern.
Ein Ende der Polizeigewalt und die Verteidigung demokratischer Rechte erfordert die Mobilisierung der Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten und auf Weltebene. Sie muss für die Abschaffung des kapitalistischen Staats, die Enteignung der herrschenden Oligarchen und die demokratische Kontrolle über das Wirtschaftsleben auf der Grundlage sozialer Bedürfnisse, nicht privaten Profits kämpfen – das heißt, für eine sozialistische Revolution.