Die Corona-Krise und die Strangulierung der Kunst

Anfang Juni kündigte die Bundesregierung im Rahmen des Corona-Konjunkturprogramms Hilfsgelder für Kultur in Höhe von einer Milliarde Euro an. Es gehe um einen „Neustart Kultur“, erklärte Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) mit großer Geste. Man wolle „unsere einzigartige Kulturlandschaft retten“.

Beim näheren Hinsehen erweist sich dieses Finanzpaket jedoch als Mogelpackung und ein Schritt zur Beschneidung und Strangulierung einer vielfältigen Breitenkultur.

Ein Vergleich ist aufschlussreich: Im Rahmen desselben Konjunkturpakets erhalten ein einziges Unternehmen, die Lufthansa, 9 Milliarden, die Autokonzerne 50 Milliarden und die Bundeswehr, die bereits in den vergangenen Jahren massiv aufgerüstet wurde, 10 Milliarden Euro! Die Schlusslichter mit je einer Milliarde bilden die Kultur und die Kitas.

Dabei sind im Kulturbereich rund 1,7 Millionen Menschen beschäftigt, fast so viel wie in der Autoindustrie und dem Maschinenbau zusammengenommen. Nahezu jeder Vierte davon lebt in prekären Verhältnissen.

Die Kriterien, nach denen die eine Milliarde Kulturhilfe verteilt wird, sollen noch genauer ausgearbeitet werden. Nach der bisher bekannten Liste werden rund 250 Millionen Euro an größere teilprivate und private Kultureinrichtungen für Modernisierungen fließen, 450 Millionen an kleinere und mittlere privatwirtschaftlich finanzierte Kulturstätten und -projekte, aufgeteilt auf 150 Millionen für Livemusikstätten, 150 Millionen für Theater und Tanz, 120 Millionen für Kinos und Filmproduktion bzw. -verleih, und 30 Millionen, die sich Galerien, soziokulturelle Zentren sowie die Buch- und Verlagsszene teilen müssen. Weitere 150 Millionen sind für die Digitalisierung von Museen vorgesehen, 100 Millionen für bundesgeförderte Kultureinrichtungen und 20 Millionen für private Hörfunksender.

Angesichts der massiven Ausfälle durch Schließungen von Theatern, Opern, Konzertsälen, Kinos, Absage von Buchmessen, Lesungen, Musik- und Theaterfestivals und anderen Kulturveranstaltungen, darunter die Aktivitäten zum 250. Beethoven-Jubiläumsjahr, sind diese Beträge minim. Dabei ist bereits jetzt klar: Bei den Kulturschaffenden selbst, den Künstlerinnen und Künstlern, wird kaum ein Cent ankommen.

Das Konzerthaus Berlin (Ansgar Koreng/CC BY 3.0 de)

Wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen hat die Corona-Pandemie katastrophale Zustände im Kunstbetrieb der vielbeschworenen Kulturnation Deutschland ans Licht gebracht, die sich durch jahrzehntelange Sparmaßnahmen, Privatisierungen und Outsourcing entwickelt haben.

Laut den Zahlen des Statistischen Bundesamts von 2018 arbeiten rund 34 Prozent der Beschäftigten in der Kulturbranche als Solo-Selbstständige. In den fünf Berufsgruppen Kunsthandwerk und bildende Kunst, Fotografie, Musik und Gesang, Schauspielkunst, Tanz und Choreografie sowie Theater-, Film- und Fernsehproduktion sind es sogar mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen.

An den Opern herrscht die pure Ausbeutung. Selbst gefragte Sängerinnen und Sänger sind überwiegend freiberuflich und müssen sich für jede Inszenierung neu bewerben. Die kleinste Erkältung bedeutet, dass sie die Rolle und ihre Gage verlieren. Laut der Programmzeitschrift „Tip Berlin“ verdienen sie durchschnittlich 11.200 Euro im Jahr, weniger als die festangestellten Chormitglieder.

Schauspielern geht es nicht besser. Sie hangeln sich von Auftritt zu Auftritt. Während einer Inszenierung gelten sie als Angestellte, zahlen Sozialabgaben ohne Anrecht auf Arbeitslosengeld, danach sind sie wieder ohne Einkommen und haben keine Versicherung. Unter Musikern ist es nicht anders. Den wenigsten gelingt es, eine feste Stelle in größeren Orchestern zu erhalten. Ebenso sind die meisten Lektoren, Übersetzer und Autoren Freiberufler mit geringen Einnahmen, selbst Kuratoren von Museumsausstellungen haben meist keine Festanstellung mehr.

Hinter den namhaften freischaffenden Künstlern stehen zudem viele prekär arbeitende Mitarbeiter wie Maskenbildner, Kameraleute, Produktionsfotografen, Textgestalter, Übersetzer, Caterer, Kartenabreißer im Kino, darunter Werkstudenten.

Eine europaweite Umfrage durch den EWC (European Writers Council) im April, an der 33 Organisationen teilnahmen, zeigte auch unter freiberuflichen Autor*innen und Übersetzer*innen ein katastrophales Bild. 97 Prozent von ihnen erwarten extreme Verluste durch die Absage von Lesungen, Vorträgen und Workshops und durch die Verschiebung oder Stornierung von Publikationen. Von normalerweise rund 500.000 bis 600.000 neuen Buchtiteln pro Jahr in Europa wird für 2020 und 2021 eine Verringerung um 150.000 Titeln vorhergesagt.

„‚Mit Wumms aus der Krise‘: Diese Ankündigung von Vizekanzler Olaf Scholz hätte Potenzial für einen Bestseller-Titel,“ spöttelt das Netzwerk Autorenrechte (NAR) über das Ein-Milliarden-Hilfspaket für Kultur. Die Summe, die sich für die Buchsparte letztlich nur auf einen einstelligen Millionenbetrag belaufen würde, wirke „allenfalls wie ein Wümmchen“. Die Arbeit an Büchern sei „kein Luxus“ und stehe für „Wissen und Pluralismus, für emotionalen, intellektuellen und kulturellen Austausch, Innovation im Denken und die geistige Schaffung neuer – und manchmal besserer – Welten“.

Bundesstaatsministerin Monika Grütters, Wirtschaftsminister Peter Altmaier (beide CDU) und Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) haben jedoch die Forderung nach mehr Unterstützung für die Künstler wiederholt zurückgewiesen. Sie verweisen auf die Soforthilfen für Solo-Selbstständige über 5000 Euro, die Ende März beschlossen wurden.

Die Soforthilfen – eine Falle

Allerdings sehen sich viele Betroffene um diese Hilfen betrogen. Denn wie sich herausstellte, dürfen sie nur für Betriebskosten und nicht für die Finanzierung des Lebensunterhalts verwendet werden. Für diesen sollten die Künstler den vereinfachten Zugang zur vorübergehenden Grundsicherung nutzen, so die Bundesregierung.

Ein freier Musiker, der neben Auftritten mit mehreren Bands auch Geigenunterricht in seiner Wohnung durchführt, schrieb der WSWS:

„Die Auftritte sind alle eingebrochen, auch der Unterricht. Ich habe vor allem Erwachsene und ältere Schüler, die es nicht so mit Skype und dieser Technik haben. Die Einnahmen sind also seit Mitte März gleich Null. Natürlich habe ich das Geld [die Soforthilfe, die Red.] für die Ausfälle genommen, schon weil gar nicht abzusehen ist, wie lange der Zustand anhält.

Inzwischen hat sich unter meinen Kollegen Unsicherheit und auch Angst verbreitet. Vor einigen Tagen erhielt nun auch ich eine E-Mail von der Bank, wo darauf hingewiesen wurde, dass das Geld nicht für Verdienstausfälle, sondern für laufende Kosten gedacht ist, also Gewerbemiete, Versicherungen für Instrumente u.a. Damit gehöre ich zu sogenannten unberechtigten Empfängern. In dem Schreiben wird auch darauf hingewiesen, dass das Finanzamt bei der nächsten Steuererklärung rausbekommt, wie das Geld verwendet wurde. Plötzlich steht man als Betrüger dar!“

Im Internet kursieren anhaltende Proteste und Petitionen für eine Änderung der Betriebskosten-Regelung, die Hunderttausende unterzeichnet haben. Prominente Stars der Musikwelt richteten im April einen Offenen Brief ans Bundeskultusministerium, in dem sie sich für „unzählige selbstständige und freischaffende Künstler“ einsetzen, „nicht bekannt und ohne internationales Standing – die gleichwohl die kulturelle Landschaft hier in Deutschland maßgeblich prägen.“

Initiiert wurde der Brief vom Sänger Matthias Görne, unterzeichnet haben auch die Geigerinnen Anne-Sophie Mutter und Lisa Batiashwili, die Dirigenten Thomas Hengelbrock und Christian Thielemann und der Opernsänger René Pape.

Sie schreiben: „Sind wir nur beliebt, wenn die Zeiten rosig sind? Fühlt sich keiner unserer kulturellen Leistung verpflichtet?“ Sie verweisen auf die Hilfsgelder der Regierung für Zahnärzte, die 90 Prozent ihres Vorjahreseinkommens erhielten, und auf den Sportartikelhersteller Adidas, der für die Mieten seiner europäischen Verkaufsläden öffentliche Gelder kassieren wollte. Letzteres sorgte für Empörung unter Sportfans, und Adidas machte einen Rückzieher.

Viele der betroffenen Künstler wollen sich nicht mit dieser Situation abfinden und entwickeln Initiativen im Internet. Die Berliner Schaubühne zeigt kostenlos ihre Inszenierungen und Diskussionen mit internationalen Theatermacher*innen. Der gefeierte Pianist Igor Levit gab über Twitter Hauskonzerte. Einige Jugendorchester, die zum diesjährigen Young Euro Classic Festival in Berlin eingeladen waren, posten Programmausschnitte über Facebook („Tunes for Sanity“), das Tbilisi Youth Orchestra aus Georgien präsentiert Beethovens „Ode an die Freude“. Auch andere kleine Orchester versuchen, über Internet das Publikum zu erreichen. So hat das Laienorchester „Klangkraft“ aus Duisburg sein abgesagtes Familienkonzert „Beethovens 9. Sinfonie der Tiere“ in ein internationales Online-Projekt verwandelt. Beethovens Glaube an Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit seien „heute aktueller denn je“, sagt Dirigent Henry Cheng dazu.

Doch drohen solche zukunftsweisenden Aktivitäten wieder unterzugehen, wenn die Bundesregierung die Milliardensummen, die sie an die Finanzwelt und die Großkonzerne ausgeteilt hat, durch Sparmaßnahmen aus der Bevölkerung herauspresst.

Gefahr für die Freiheit der Kunst

Die Erfahrung von Kulturschaffenden muss im Zusammenhang mit der Erfahrung von Millionen Arbeitern gesehen werden. Wie das Beispiel Lufthansa und Autoindustrie zeigt, die nun massive Entlassungen ankündigen, dienen die staatlichen Gelder dazu, lang gehegte Umbaupläne umzusetzen. Dies droht auch im Kulturbereich.

Bereits jetzt wird dies in den Leitmedien diskutiert. Bezeichnend ist ein Kommentar des leitenden Redakteurs im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, Thomas Steinfeld, vom 6. Juni. Der Artikel „Die Seuche, die Kunst und das Geld“ trieft nur so von snobistischem Naserümpfen über Künstler, die doch nur „Collagen von Gelegenheitsarbeiten“ schaffen, über „Puppenspielerinnen“, „Büttenredner“, „Game-Designerinnen“ oder auch das „Internationale Literaturfestival“ in Berlin, das konzeptlos sei.

Steinfeld behauptet, in Deutschland habe es seit dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere seit der Wende 1989/1990 eine massive Expansion von Kultur, eine „Kulturalisierung“ gegeben, die die Unterschiede der verschiedenen Kunsterzeugnisse verwischt hätte. Die Corona-Pandemie, so Steinfeld, schaffe nun die Möglichkeit für eine Veränderung.

Man müsse klare Aussagen treffen: „Welche Kunst oder Kultur will man fördern – und aus welchen Gründen?“ Wenn nach Corona „gründlich gespart werden soll“ und Verteilungskämpfe kommen, bei denen „Tausend und Abertausende von Institutionen, Projekten und Freischaffenden … um die schwindenden finanziellen Ressourcen kämpfen“, müsse man „Kriterien für die Vergabe von Subventionen“ einführen wie beim Hilfspaket der Europäischen Union. Auf jeden Fall, so endet Steinfeld seinen Kommentar, sollte man „sich beizeiten mit guten Argumenten“ wappnen.

Das Wort vom „Neustart Kultur“ klingt hier wie eine Drohung. Soll nur die Kunst gefördert werden, die den Bestrebungen und Interessen der reichen Eliten gefällig ist? Oder, wie der Hamburger Kabarettist Lutz von Rosenberg Lipinsky sagte, nur noch die sogenannte Hochkultur?

Hand in Hand mit einer Wirtschafts-, Außen- und Verteidigungspolitik, die immer offensichtlicher das Ziel einer hochgerüsteten deutschen Großmacht verfolgt, und einer Politik nach innen, die autoritäre Formen annimmt, droht auch die Unterdrückung der Freiheit der Kunst.

Viele kreative Initiativen, die breiten Schichten der Bevölkerung und Jugend zugutekommen, könnten bald von öffentlichen Mitteln abgeschnitten sein; es könnte die alte Zweiklassenkultur des 19. Jahrhunderts zurückkehren, die Bildung und Kunstgenuss den oberen Schichten vorbehalten hatte; und erneut könnten junge kritische und unliebsame Künstler und ihre Werke aus dem kulturellen Leben verbannt werden, wie unter der Nazi-Diktatur geschehen.

Wie die WSWS bei einem Online-Forum am 29. März betonte, hat die Corona-Pandemie nicht nur den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bankrott einer auf dem Kapitalismus basierenden Gesellschaft offenbart, sondern auch ihren kulturellen und moralischen Bankrott.

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