In seiner Weihnachtsansprache wird Bundespräsident Steinmeier (SPD) stellvertretend für die herrschende Klasse einige Krokodilstränen vergießen. Aber dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Regierungen in Bund und Ländern für das größte Massensterben seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die volle Verantwortung tragen. Für unzählige Familien gibt es in diesem Jahr keine frohes, sondern ein tödliches Weihnachtsfest. Tausende Menschen ringen auf Intensivstationen mit dem Erstickungstod, und viele Familien haben bereits Eltern, Großeltern, Brüder, Schwestern und sogar Kinder verloren.
Gestern meldete das Robert-Koch-Institut 24.470 Neuinfektionen und die Rekordzahl von 962 Corona-Toten in Deutschland an einem Tag. Damit ist der Dezember bereits jetzt der mit Abstand tödlichste Monat seit Ausbruch der Pandemie. In den ersten 22 Tagen des Monats sind 11.466 Menschen gestorben, und damit mehr als 520 am Tag. In den vergangenen acht Tagen lag der Schnitt über 682. Da die Todeszahlen das Infektionsgeschehen vor vier bis fünf Wochen widerspiegeln, ist bereits jetzt klar, dass allein bis zum Ende des Jahres zwischen 6000 und 9000 weitere Menschen an Corona sterben werden.
Die explosive Ausbreitung des Virus ist das direkte Ergebnis der rücksichtslosen „Profite vor Leben“-Politik, die darauf ausgerichtet war, Arbeiter auch unter unsicheren Bedingungen in die Fabriken zu schicken und die Schulen und Kitas unter allen Umständen offen zu halten. Damit hat die herrschende Klasse eine Situation wie in Italien im Frühjahr provoziert, als das Gesundheitssystem auf Grund explodierender Fallzahlen kollabierte und Zehntausende unter fürchterlichen Bedingungen starben.
In zahlreichen Städten und Regionen in Deutschland sind die Krankenhäuser komplett überlastet. Auf Grund der hohen Todeszahlen müssen die Leichen zwischengelagert werden. Die Toten würden „im Bereich des Hochwasserstützpunkts“ gelagert und erst „bei Freigabe zur Einäscherung“ ins Krematorium gebracht, teilte die Stadt Zittau in Sachsen am Dienstag mit. Im hessischen Hanau werden seit mehreren Tagen die Leichen von Corona-Toten in einem eigens dafür aufgestellten Kühlcontainer auf dem Hauptfriedhof der Stadt gesammelt.
Während sich Politik und Medien im März noch schockiert über die Bilder aus Bergamo zeigten, spielen sie jetzt das Massensterben herunter. In den Medien werden zwar täglich die Opferzahlen des RKI verlesen, Bilder über die schreckliche Situation in den Krankenhäusern oder ernsthafte Berichte über die dramatischen individuellen Schicksale finden sich kaum. Vor allem wird völlig ausgeblendet, dass Maßnahmen ergriffen werden könnten, um die Katastrophe zu stoppen. Der vermeidbare Tod von täglich fast 1000 Menschen allein in Deutschland gilt mittlerweile als „normal“.
„Im Westen sei nichts Neues zu melden“, heißt es im weltberühmten, gleichnamigen Roman von Erich Maria Remarque an dem Tag, an dem der 19-jährige Protagonist Paul Bäumer gegen Ende des Massensterbens im Ersten Weltkrieg an der Front fällt. Die heutige Indifferenz der herrschenden Klasse gegenüber dramatischen individuellen Schicksalen wie dem Corona-Tod des jungen Lehrers Soydan A. in Berlin vor wenigen Tagen lässt sich im Satz zusammenfassen: „In der Pandemie nichts Neues.“
Mit der Normalisierung des Todes verfolgt die herrschende Klasse definitive soziale und politische Interessen. Bereits im April warnte die Sozialistische Gleichheitspartei in einer Erklärung:
Das Ziel der herrschenden Klasse besteht darin, die Pandemie zum ‚Normalzustand‘ zu machen, d. h. die Bevölkerung an den Gedanken zu gewöhnen, dass das Sterben auf absehbare Zeit weitergeht. Die Arbeiter sollen dies als unvermeidlich hinnehmen. Deshalb rücken die Meldungen über die Zahl der Todesopfer in den Nachrichten auch immer mehr in den Hintergrund.
Hinter diesen Bestrebungen steht eine bösartige Klassenlogik. Die Arbeiter werden als eine Art Wegwerfprodukt behandelt. Ihr Tod gilt als normaler Begleitumstand der Erwirtschaftung von Profiten. Wer dem Virus erliegt, kann ersetzt werden.
Und vor wenigen Tagen erklärte die World Socialist Web Site in einem Perspektivartikel:
Im Kapitalismus ist mit ‚Wirtschaft‘ die Ausbeutung der Arbeiterklasse gemeint. In dem Maße, wie die ‚Heilung‘ – d.h. die elementarsten Maßnahmen zur Rettung von Leben – den Prozess der Profitakkumulation behindert, ist sie inakzeptabel. In diesem Sinn muss alles abgelehnt werden, was die Kapitalisten daran hindert, Mehrwert aus der Arbeiterklasse zu pressen, oder was dazu führt, dass dieser Mehrwert durch Notfallmaßnahmen und Sozialleistungen nicht in den Taschen der Kapitalisten landet.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Die Regierungen weltweit haben bereits mehr als 1,7 Millionen Menschenleben für ihre kapitalistischen und imperialistischen Interessen geopfert und sind gewillt, diesen Kurs auch im neuen Jahr fortzusetzen. Die herrschende Klasse in Deutschland spricht dies offen aus.
„Diese Pandemie ist ja etwas, was die Kräfteverhältnisse auf der Welt durchaus erst einmal ökonomisch, aber vielleicht auch gesellschaftspolitisch neu ordnet“, betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in ihrer letzten Regierungserklärung im Bundestag. Deutschland müsse „schauen, wie wir eingebettet sind in die globalen Zusammenhänge“, und „alles tun, damit der Weg der Erholung, auf den wir im dritten Quartal nach einem massiven Einbruch im zweiten Quartal gekommen sind, auch fortgesetzt werden kann“.
Mit anderen Worten: Es darf und wird keine Maßnahmen geben, die die Profite der deutschen Wirtschaft und die Bereicherungsorgie an den Börsen gefährden. Im Gegenteil: die hunderte Milliarden Euro, die im Zuge der sogenannten Corona-Rettungspakete an die Großunternehmen und Banken geflossen sind, sollen wieder aus der Arbeiterklasse herausgeholt werden. „Öffentliche Schulden bedeuten… natürlich die Belastung künftiger Haushalte“ und „die Notwendigkeit, das zurückzuzahlen“, betonte Merkel.
Auch mit dem Haushalt für das nächste Jahr hat die Regierung ihre Entschlossenheit unterstrichen, ihren Kurs zu verschärfen, dessen Grundrichtung von allen Bundestagsparteien sowie den Gewerkschaften unterstützt wird. Während die Etats für Gesundheit, Bildung und Soziales im Vergleich zu diesem Jahr um insgesamt fast zwölf Milliarden Euro gekürzt werden, steigen die Ausgaben für das Militär und die innere Sicherheit um mehr als vier Milliarden an. Das ist eine Warnung: anstatt auf Notfallmaßnahmen zur Rettung von hunderttausenden Menschenleben setzt die herrschende Klasse auf Diktatur und Krieg.
Daraus müssen am Ende des ersten Jahres der Pandemie, die allein in Europa bisher eine halbe Million Todesopfer gefordert hat, weitreichende politische und historische Schlussfolgerungen gezogen werden. Das Gemetzel des Ersten Weltkriegs wurde durch die Oktoberrevolution in Russland 1917 und eine Welle revolutionärer Kämpfe in ganz Europa und auf der ganzen Welt beendet. Auch heute erfordert der Kampf gegen das Massensterben, soziale Ungleichheit, Krieg und Diktatur einen revolutionären Kampf gegen das gesellschaftliche System, das die Katastrophe verursacht hat. Der Kapitalismus, der sich in den Augen von Millionen diskreditiert hat, muss durch den Sozialismus ersetzt werden.
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