Perspektive

Die Amtseinführung 2021: Am Rande des Abgrunds

Als Franklin Delano Roosevelt im März 1933 inmitten der Großen Depression seine erste Amtszeit antrat, sprach er die berühmten Worte: „Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst.“ Ein solcher Satz würde Zuhörern im Jahr 2021 am Tag der Amtseinführung nicht als optimistisch, sondern eher als wahnhaft erscheinen. Wenn Präsident Biden am Rednerpult steht, wird er auf ein leeres und stilles Feld blicken, das von Soldaten umringt und voll von aufgestellten Flaggen ist – ein Platz, der weit mehr einem Friedhof gleichen wird, denn einem historischen Ort öffentlicher Feierlichkeiten. Sollte er dennoch versuchen, sich in Roosevelts Pose zu werfen, so würde Bidens Version des berühmten Satzes lauten: „Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Realität selbst.“

Was sind die wichtigsten Bestandteile dieser Realität?

Militärisch bewachter Kontrollpunkt als Teil der erhöhten Sicherheitsmaßnahmen vor der Amtseinführung des designierten Präsidenten Joe Biden und der designierten Vizepräsidentin Kamala Harris. Dienstag, 19. Januar 2021, Washington (AP Photo/John Minchillo) (AP Photo/John Minchillo)

Erstens ist das amerikanische politische System mit der größten Krise seit dem Bürgerkrieg konfrontiert. Die Vereidigung findet nur zwei Wochen nach dem faschistischen Aufstand vom 6. Januar statt, der darauf abzielte, die Zertifizierung von Bidens Sieg im Electoral College durch den Kongress zu stoppen.

Donald Trump, der Hauptverantwortliche für die Anstiftung und Leitung des Putschversuchs, wird an den heutigen Veranstaltungen nicht teilnehmen. Es ist das erste Mal, dass ein scheidender Präsident die Amtseinführung seines Nachfolgers boykottiert, seit Andrew Johnson im Jahr 1869 abtrat. Doch unter den teilnehmenden Republikanischen Senatoren und Kongressabgeordneten werden auch diejenigen sein, die den Aufstand unterstützt und politisch abgedeckt haben.

Zweitens findet die Amtseinführung statt, nachdem die offizielle Zahl der Coronavirus-Todesopfer in den USA am Vortag 400.000 Menschen überschritten hat, wobei die Zahl der neuen Fälle weiter steigt. Ungefähr viertausend Menschen sterben jeden Tag. Im ganzen Land sind Krankenhäuser überlastet, und viele Leichenhallen lockern ihre Vorschriften, um eine schnellere Einäscherung der Toten zu ermöglichen. Angesichts der beginnenden Ausbreitung eines neuen und infektiöseren Virusstammes gehen Wissenschaftler davon aus, dass bis Mitte des nächsten Monats eine halbe Million Menschen gestorben sein werden.

Drittens sieht sich die neue Biden-Regierung einer hartnäckigen Wirtschaftskrise gegenüber, die durch die Pandemie enorm verschärft wird. Im vergangenen Jahr sind die Finanzmärkte zusammen mit dem Reichtum der kapitalistischen Oligarchen in nie dagewesene Höhen gestiegen. Sie wurden durch die endlose Versorgung mit Geld durch die Federal Reserve und die globalen Zentralbanken angeheizt – im Wesentlichen durch eine massive und historisch beispiellose Anhäufung von Schulden, die zu begleichen sein werden. Gleichzeitig sind zig Millionen Menschen arbeitslos und hunderttausende Kleinunternehmen wurden vernichtet.

Die Vereinigten Staaten sind das Epizentrum einer globalen Krise von apokalyptischen Ausmaßen. Ironischerweise hat das Weltwirtschaftsforum am Vorabend von Bidens Amtseinführung seinen Global Risks Report 2021 herausgegeben, der eine düstere Zusammenfassung der gegenwärtigen Situation vorlegt:

Die unmittelbaren menschlichen und wirtschaftlichen Kosten von Covid-19 sind schwerwiegend. Es droht, die jahrelangen Fortschritte [sic] bei der Reduzierung von Armut und Ungleichheit zurückzuwerfen und den sozialen Zusammenhalt und die globale Zusammenarbeit weiter zu schwächen. Arbeitsplatzverluste, eine sich vergrößernde digitale Kluft, gestörte soziale Interaktionen und abrupte Marktverschiebungen könnten für große Teile der Weltbevölkerung schlimme Folgen und den Verlust von Chancen nach sich ziehen. Die Auswirkungen – in Form von sozialen Unruhen, politischer Fragmentierung und geopolitischen Spannungen – werden die Effektivität unserer Reaktion auf die anderen zentralen Bedrohungen des nächsten Jahrzehnts prägen: Cyberattacken, Massenvernichtungswaffen und vor allem den Klimawandel.

Es ist unwahrscheinlich, dass Bidens Antrittsrede Zitate aus diesem Bericht enthalten wird. Doch die Optionen, die dem neuen Präsidenten in der Konfrontation mit der weltweiten und amerikanischen Krise zur Verfügung stehen, werden – allen etwaigen Behauptungen zum Trotz – durch die sozialen Interessen der herrschenden Klasse begrenzt sein. Biden ist Vertreter einer Klasse, die keine Reaktion auf die Krise dulden wird, die ihre finanziellen und wirtschaftlichen Interessen untergräbt. Die Antwort der Biden-Administration auf die Pandemie wird aus unwirksamen Halb- oder gar Viertelmaßnahmen bestehen, die wenig dazu beitragen werden, die Ausbreitung des Virus rechtzeitig zu stoppen, um den Tod von weiteren hunderttausend oder mehr Amerikanern zu verhindern.

Das zentrale Thema von Bidens heutiger Ansprache wird „Einigkeit“ sein. Worin besteht die wirkliche Bedeutung dieses Appells? Biden befürchtet, dass die politische Krise, die in einem gewaltsamen Angriff auf den Kongress ausgebrochen ist, tiefe und gefährliche Spaltungen innerhalb des Staatsapparates und der herrschenden Klasse offengelegt hat, die das Überleben des auf dem Kapitalismus basierenden politischen Systems bedrohen. Was Biden anstrebt, ist Einigkeit innerhalb der herrschenden Klasse angesichts einer zunehmend aufsässigen und militanten Arbeiterklasse. Wenn er beim Gottesdienst vor der Vereidigung neben Senator McConnell sitzt, wird Biden seinem alten Freund vielleicht ins Ohr flüstern: „Wenn wir nicht zusammenhalten, werden wir alle zusammen hängen.“

Das ist der Grund, warum Biden und die Demokraten eine ernsthafte Untersuchung der Ereignisse vom 6. Januar ablehnen. Sie haben kein Interesse daran, die hochrangige Beteiligung der Republikanischen Partei an dem Versuch aufzudecken, die Wahl zu kippen und eine Diktatur zu errichten. Sie wollen ihren „republikanischen Kollegen“ – Trumps Mitverschwörern – nicht in den Rücken fallen, geschweige denn sie verhaften und strafrechtlich verfolgen lassen.

Programmatisch und politisch wird eine künftige Biden-Regierung die Forderungen der Wall Street umsetzen. Das Kabinett aus Reaktionären und Anhängern des politischen Establishments der herrschenden Klasse – zynisch überdeckt durch Identitätspolitik – sagt bereits alles über seine Ausrichtung und Pläne.

Doch trotz aller Bemühungen, den Anschein von Erneuerung und Hoffnung zu erwecken, herrscht unter den ehrlicheren und aufmerksameren Beobachtern ein weit verbreitetes Gefühl, dass keine fertigen Lösungen zur Hand sind. In einem Kommentar zu dem, was er als „die Nahtoderfahrung der amerikanischen Republik“ bezeichnet, weist der Financial Times-Kolumnist Martin Wolf Bemühungen zurück, das Ausmaß der in Washington ausgebrochenen Krise herunterzuspielen:

Folgendes ist passiert. US-Präsident Donald Trump hat monatelang ohne Beweise behauptet, dass er in einer fairen Wahl nicht besiegt werden könnte. Seine Niederlage hat er anschließend folgerichtig auf eine manipulierte Wahl zurückgeführt. Vier von fünf Republikanern stimmen ihm nach wie vor zu. Der Präsident hat Beamte unter Druck gesetzt, die Stimmen ihrer Bundesstaaten zu annullieren. Nachdem ihm dies nicht gelang, versuchte er, seinen Vizepräsidenten und den Kongress dazu zu zwingen, die von den Bundesstaaten abgegebenen Wahlstimmen zurückzuweisen. Er hat einen Überfall auf das Kapitol angestiftet, um den Kongress dazu zu zwingen. Wohl 147 Mitglieder des Kongresses, darunter acht Senatoren, haben dafür gestimmt, die Stimmen der Bundesstaaten abzulehnen. Kurzum: Mr. Trump hat einen Putschversuch unternommen. Schlimmer noch, die große Mehrheit der Republikaner stimmt mit seinen Gründen für diesen Versuch überein. …

Alle Optimisten werden zugestehen müssen, dass dies zur Freude von Despoten überall auf der Welt ein sehr schlechter Augenblick für die globale Glaubwürdigkeit der US-Republik war. Doch nun, so mögen sie behaupten, hat sie ihre Feuerprobe überstanden und wird sich anschicken, im In- und Ausland ihr Versprechen zu erneuern, wie sie es in den 1930er Jahren unter Franklin Roosevelt in noch gefährlicheren Zeiten tat. Leider glaube ich das nicht.

Wolfs pessimistische Einschätzung der Situation, mit der die neue Regierung konfrontiert ist, ist gerechtfertigt. Die amerikanische Finanzoligarchie, die mit einem unaufhaltsamen Niedergang ihrer Weltposition konfrontiert ist, verfügt nur über begrenzte Mittel, um die Wundfäulnis ihrer sozialen Widersprüche abzumildern. In den letzten vier Jahren ist die US-Staatsverschuldung um 7 Billionen Dollar auf 26,9 Billionen Dollar angestiegen. Die Kosten für die Finanzierung dieser massiven Verschuldung werden darüber hinaus weiter ansteigen, da der Druck wächst, die Zinssätze zur Vermeidung eines Zusammenbruchs des Dollars zu erhöhen.

Mit welchen mitfühlenden Gesten Biden den Tag der Amtseinführung auch begehen mag, sie werden durch die sich verschärfende Krise konterkariert werden.

Die globalen Prioritäten des amerikanischen Imperialismus – die sich darauf konzentrieren, chinesische und europäische Herausforderungen der weltweiten Vorherrschaft der Vereinigten Staaten abzuwehren – werden zudem weiterhin massive Ausgaben für militärische Operationen erfordern. Diese Verpflichtungen werden die für Sozialausgaben zur Verfügung stehenden Mittel stark einschränken.

Arbeiter und Jugendliche dürfen sich keinen Illusionen darüber hingeben, was Bidens neue Regierung zu tun beabsichtigt, geschweige denn wozu sie in der Lage ist.

Die Antwort der Arbeiterklasse muss von dem Verständnis ausgehen, dass es ohne einen Frontalangriff auf den Reichtum der kapitalistischen herrschenden Klasse keinen Weg vorwärts gibt. Die Verteidigung demokratischer Rechte und der Widerstand gegen faschistische Diktatur; ein Ende des Massensterbens, das von der kriminellen Antwort der herrschenden Klasse auf die Pandemie verursacht wurde; die Abschaffung von Armut und Ausbeutung und ein Ende von Krieg und Umweltzerstörung – all das erfordert die Enteignung der Vermögen der Oligarchen und die Enteignung der gigantischen Banken und Konzerne.

Während die herrschende Klasse der Realität mit Angst begegnet, muss die Arbeiterklasse in ihr nicht nur die Gefahren wahrnehmen, die sich aus der Krise des Kapitalismus ergeben, sondern auch das revolutionäre Potenzial, das diese Krise selbst hervorbringt. Die Verwirklichung dieses Potentials erfordert das unabhängige Eingreifen der Arbeiterklasse im weltweiten Kampf für den Sozialismus.

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