Streiks gegen Präsenzunterricht an bayrischen Schulen weiten sich aus

In Bayern streiken Schülerinnen und Schüler gegen die Versuche der Landesregierung, die Abschlussklassen inmitten der Pandemie zurück in den Präsenzunterricht zu zwingen. Schulstreiks, die am Montag in Nürnberg an sieben Schulen begannen, weiteten sich innerhalb von drei Tagen auf Augsburg aus und stießen in den sozialen Medien unter Schülern aus dem ganzen Bundesgebiet auf große Resonanz.

An den Streiks in Nürnberg beteiligten sich am Montag Abiturienten des Hans-Sachs-Gymnasiums, des Dürer-Gymnasiums, der Bertolt-Brecht-Schule, des Neuen Gymnasiums und der staatlichen Berufsoberschule (BOS). An der staatlichen Fachoberschule 2 (FOS 2) erschienen von den 400 Schülern der 17 Abschlussklassen am Dienstag lediglich 30 zum Präsenzunterricht.

In einem „dringlichen Ersuchen“ an die Landesregierung hatten die Schülervertreter der FOS festgestellt, dass sie von den „zuständigen Stellen“ zum Teil seit Monaten keine Antwort erhalten hatten. „Die Regierung stellt uns ein Ultimatum“, heißt es darin: „Unsere Gesundheit und die derjenigen, die uns wichtig sind, gegen Bildung. Das ist ein Ultimatum, auf das wir uns weder einlassen können noch wollen.“ Besonders die hohen Inzidenzwerte von 130 sowie das Auftreten der neuen Virusmutationen seien „höchst besorgniserregend“. Die Schülerschaft habe daher mit Mehrheitsbeschluss vom Samstag beschlossen, „dass ein Streik gegen den Präsenzunterricht stattfinden wird“. Dieser werde „auch in gymnasialen Oberstufen befürwortet und mitgetragen“.

„Die Hauptforderung unseres Streiks wurde erfüllt“, erklärt Mike, ein Abiturient der FOS Nürnberg, gegenüber der World Socialist Web Site:

„Ursprünglich war es so, dass alle nicht präsenten Schüler vom Online-Unterricht ausgeschlossen wurden. Jetzt darf an unserer Schule jeder, der es wünscht, von zuhause aus lernen. Mit der Begründung ‚Angst vor Infektion‘ können sich Schüler an Präsenztagen des Wechselunterrichts krank melden und stattdessen am Online-Unterricht teilnehmen. Schüler, die nicht gut ausgestattet sind, haben dazu ein Tablet erhalten.“ Er und die anderen Schüler, so Mike, seien „stolz und sehr positiv überrascht“ von dem Anwachsen der Streiks und dem großen Rückhalt, den sie unter Schülern und Lehrern erfahren hatten.

In Augsburg hatten zu Beginn der Woche die Abschlussjahrgänge an drei weiterführenden Schulen gestreikt, beginnend mit rund 50 Schülern der Fachober- und Berufsoberschule (FOS/BOS) am Montag. Schülersprecher Dominique Treske betonte gegenüber SAT.1 insbesondere die mit dem Schulweg verbundene Ansteckungsgefahr: „Viele kommen aus dem Umland und müssen teils eineinhalb Stunden mit dem Zug fahren – und dann noch mit der Straßenbahn.“ Dabei seien die öffentlichen Verkehrsmittel unter den gegenwärtigen Bedingungen „der Hauptansteckungsort“.

Eine Petition, in der die Schüler unter anderem eine „erhebliche Reduktion“ der Zahl der Klausuren und Abiturprüfungen fordern, hat bereits über 8000 Unterschriften erhalten.

Am Holbein-Gymnasium verfasste der Abschlussjahrgang zunächst ein Protestschreiben an Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler), nachdem eine Umfrage gezeigt hatte, dass 90 Prozent der Schüler eine Rückkehr zum Wechselunterricht ablehnten. Am Mittwoch erschienen dann lediglich 25 der 160 angehenden Abiturienten zum Präsenzunterricht. „Wir haben uns alle krank gemeldet“, erklärte Schülersprecherin Luisa Link und betonte „das gesundheitliche Risiko für Schüler und Lehrer“ – „noch dazu, wo nun die Mutationen in Augsburg nachgewiesen wurden“.

Auch die 60 Schülerinnen und Schüler des Abschlussjahrgangs des Bayernkollegs bestreikten am Mittwoch den Präsenzunterricht. Wie Schülerin Hanna Zrayenko der Augsburger Allgemeinen Zeitung mitteilte, werde der Streik nach einer Prüfung am kommenden Dienstag fortgesetzt werden. Neben dem Abitur gehe es „auch um unsere Gesundheit und die unserer Lehrer“, so die Schülerin. Der Streik sei ein „solidarischer Akt“, da die Lehrer als Beamte ihre Arbeit nicht niederlegen könnten. Die Schüler fordern in einer Presseerklärung unter anderem den Ausbau digitaler Unterrichtsmöglichkeiten und die Neuanstellung von Lehrkräften, um Lehrer zu entlasten und die Klassengrößen zu reduzieren.

Geht es nach der Landesregierung, droht in Bayern derzeit eine allgemeine Rückkehr zum Präsenzunterricht ab dem 15. Februar. Ein Sprecher des Kultusministeriums erklärte gegenüber der Presse, man habe sich „zum Ziel gesetzt, dass möglichst viel Präsenzunterricht durchgeführt“ werden müsse.

„Man wird gezwungen, abzuwägen zwischen Bildung und Gesundheit", kommentiert das Mike. „Wir alle wollen ja unser Abi. Aber wir wollten uns dafür einsetzen, dass alle, die Angst haben, daheim bleiben können. Ich weiß, wie es ist, Angst zu haben – ich selbst habe erst letztes Jahr noch in einer schweren Therapie gesteckt. Wir haben damit gerechnet zu streiken, bis jeder kurz vor dem Rausschmiss steht.“

Der Kampf der Schüler für sichere Bildung genießt die Unterstützung von Lehrern und Schulleitern, die übereinstimmend eine Fortsetzung des Distanzunterrichts für alle Schülerinnen und Schüler fordern.

„Beim Wechselunterricht wird es nicht lange dauern, bis wieder die ersten Schüler für 14 Tage in Quarantäne sitzen“ sagt Bianca V., eine Lehrerin aus Bayern, gegenüber der World Socialist Web Site. „Obwohl man den ganzen Tag mit Maske aufeinander sitzt, muss man sich zu Hause fragen, ob man vielleicht gerade das Virus aus dem Klassenzimmer in die Familie trägt.“

„Die Internet-Bandbreite, die für Übertragungen aus dem Klassenzimmer nötig ist, hat nicht ansatzweise jede Schule – also schafft man so nur einen Bruchteil des abiturrelevanten Stoffs. Die Schüler in Nürnberg haben deshalb völlig Recht: Wo Distanzunterricht funktioniert, ist das für Schüler in dieser Altersgruppe der viel bessere Weg. Für Schüler mit schlechten Internet-Verbindungen bräuchte es zum Beispiel in Bibliotheken zusätzliche Möglichkeiten.“

Die Regierung und sämtliche Bundestagsparteien haben in den vergangenen Monaten jedoch wieder und wieder klar gemacht, dass sie den berechtigten und populären Forderungen der Schüler feindlich gegenüberstehen und stattdessen beabsichtigen, alle verfügbaren Ressourcen in den Dienst von Handelskrieg und Krieg zu stellen. Während der aktuelle Bundeshaushalt gekürzte Etats für Bildung und Gesundheit vorsieht, sollen die Militärausgaben erhöht und die Sicherheitsbehörden gestärkt werden. Die Schulen sollen öffnen, damit die Eltern arbeiten und Profit erwirtschaften können.

„Für den Profit von wenigen sollten nicht viele leiden“, meint Mike. „Die Pandemie hat aber gezeigt, dass die Gier einiger weniger das Interesse vieler zu überwiegen scheint.“ Der „eigentliche Ausgangspunkt“ der Krise, so Mike, sei die „Schere zwischen Reichen und Armen“: „Das Gefühl kriege ich vor allem auch in Schulen, wo während einer Pandemie Anwesenheitspflicht herrschen soll, obwohl Online-Unterricht möglich ist.“ Das führe dazu, dass „die schwachen Schüler entweder schlecht oder in Angst leben – oder gar nicht“.

„Ich habe gesehen, was in Frankreich passiert ist“, sagt Mike mit Blick auf die Schüler, die im vergangenen Jahr für Infektionsschutz an Schulen demonstrierten und dafür von der Bereitschaftspolizei mit Reizgas und Knüppeln attackiert wurden. „Das wäre uns vielleicht auch passiert, wenn wir alle vor der Schule demonstriert hätten. An die französischen Schüler sage ich: Restez à la maison, restez forts! Et montrez votre solidarité avec les faibles de votre école!“ Bleibt zuhause und bleibt stark! Zeigt Solidarität mit den Schwächsten an eurer Schule!

Einen europaweiten Schul- und Generalstreik „würde ich persönlich unterstützen“, sagt Mike, “das ist ein europaweites Problem“. Entscheidend sei die internationale Einheit von Schülern und Arbeitern, schließt er: „In der Türkei werden protestierende Studenten als Terroristen betitelt. Fakt ist: Wenn es erreicht wird, dass sich so viele Schüler einer multikulturellen Gesellschaft zusammentun und alle Meinungsverschiedenheiten unwichtig werden, hat die Regierung ein Problem.“

Streiks und Proteste wachsen nicht nur in Europa. Auch in Chicago streiken zehntausende Lehrer gegen die Wiedereröffnung der Schulen. In den gesamten Vereinigten Staaten entstehen ebenso wie in Europa Aktionskomitees für sichere Bildung, die sich unabhängig von kapitalistischen Parteien und Gewerkschaften organisieren und international zusammenschließen.

In Deutschland trifft sich das Netzwerk der Aktionskomitees für sichere Bildung jeden zweiten Montag um 19:30 Uhr, um die Kämpfe von Lehrern, Eltern und Schülern zu koordinieren und einen europaweiten Schul- und Generalstreik vorzubereiten. Wir rufen alle Leser dazu auf, sich noch heute diesem Kampf anzuschließen.

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