Ukraine fordert verschärftes Nato-Eingreifen im Schwarzen Meer, russische Presse warnt vor Krieg

Am Dienstag sprach der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg über die zunehmenden Spannungen mit Russland in der Ostukraine. In den letzten Wochen waren die Kämpfe zwischen dem ukrainischen Militär und von Russland unterstützten Separatisten in der Region Donbass eskaliert. Im Osten des Landes tobt ein Bürgerkrieg, seit die Regierung in Kiew mit Unterstützung der USA und Deutschlands im Jahr 2014 gestürzt wurde. Bei diesem Putsch hatten Neonazis eine wichtige Rolle gespielt.

Der Krieg hat mehr als 14.000 Todesopfer gefordert und Millionen zur Flucht gezwungen. In den letzten drei Monaten wurden schätzungsweise 40 Menschen bei Zusammenstößen getötet. Laut den ostukrainischen Separatisten ist diese Woche mindestens ein Kind bei Gefechten getötet worden.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenksyj (Quelle: en.kremlin.ru)

Letztes Wochenende haben die Ukraine und die Nato gemeinsame Militärübungen angekündigt. Jetzt forderte Selesnkyj die Nato auf, die Ukraine bereits früher als geplant in die Militärallianz aufzunehmen. Er drängte die Nato dazu, seine Militärpräsenz in der Schwarzmeerregion zu verstärken und erklärte, dies habe eine „starke Abschreckungswirkung“ auf Russland.

Nach dem Treffen twitterte Stoltenberg: „Die Nato unterstützt die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine nachdrücklich. Wir sind weiterhin unserer engen Partnerschaft verpflichtet.“

Im Vorfeld des Treffens mit Stoltenberg hatte Selenskyj am Freitag ein Telefonat mit US-Präsident Joe Biden geführt. Dieser versicherte ihm, dass die Ukraine weiterhin die volle Unterstützung Washingtons bekommen werde. Am Montag erklärte das US-Außenministerium, es stufe Berichte über militärische Bewegungen an der ukrainischen Grenze als „glaubwürdig“ ein und forderte Moskau auf, die „Provokationen“ zu erklären. Auch der britische Premierminister Boris Johnson sprach mit Selenskyj.

Am Dienstagabend erklärte der ukrainische Außenminister, Kiew werde eine Einladung zu Friedensverhandlungen in Minsk nicht annehmen. Dort verhandeln Russland, die Ukraine, Deutschland und Frankreich seit 2015.

Die Vorwürfe, von Russland würden „Aggressionen“ und „Provokationen“ ausgehen, stellen die Realität auf den Kopf. Die Bedingungen für die derzeitige Eskalation wurden vor allem durch das aggressive Vorgehen des US-amerikanischen und des deutschen Imperialismus geschaffen. Diese sind seit der stalinistischen Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 immer näher an Russlands Grenzen gerückt, vor allem durch die Osterweiterung der Nato.

Die imperialistischen Mächte haben in der Ukraine in den Jahren 2004 und 2014 zwei Putsche organisiert, um prowestliche Regimes einzusetzen, die eine Schlüsselrolle in den Kriegsvorbereitungen gegen Russland spielen sollten.

Selenskyjs Versprechen, einen „Friedensvertrag“ auszuhandeln, hatte eine wichtige Rolle bei seinem Wahlsieg im Jahr 2019 gespielt. Allerdings hat er faktisch die Politik seines Amtsvorgängers Petro Poroschenko fortgesetzt. Letzten Monat rief die ukrainische Regierung eine Strategie zur „Rückeroberung der Krim“ aus. Diese strategisch wichtige Halbinsel im Schwarzen Meer wurde von Russland nach dem Putsch von 2014 annektiert. Danach verabschiedete Kiew eine neue Militärstrategie, deren Schwerpunkt die Vorbereitung eines Kriegs gegen Russland mit Unterstützung der Nato ist.

Vor drei Tagen berichtete die russische Presse, die Ukraine habe eine Angriffsstreitmacht in der Region Donbass und der Region um die Landenge der Krim versammelt. Es gab außerdem zahlreiche unbestätigte Berichte über russische Truppenbewegungen auf und nahe der Krim. Kanada und mehrere europäische Staaten haben Warnungen ausgesprochen, bei Flügen über die Ukraine vorsichtig zu sein. Kanada hat seinen Fluggesellschaften wegen der „instabilen Sicherheitslage“ davon abgeraten, über die Ostukraine und die Krim zu fliegen.

Die USA nutzen die Eskalation der Lage in Kiew aus, um ihre antirussische Kampagne zu verschärfen und ihr militärisches Eingreifen in der Region auszuweiten. Ben Hodges, ein ehemaliger Befehlshaber der US Army in Euopa, forderte in einem Interview mit der Militärzeitschrift Defense One die Ausarbeitung einer Strategie für die ganze Schwarzmeerregion. Man solle deutlich machen, dass dies von „entscheidender Bedeutung“ für die Interessen der USA sei. Er forderte außerdem zusätzliche Hilfsgelder für die Ukraine und strategische Manöver in der Region. Auch der außenpolitische Thinktank Atlantic Council forderte die US-Regierung auf, der ukrainischen Luftwaffe Kampfjets, intelligente Munition und Marschflugkörper zu liefern.

Unter Trump haben die USA begonnen, Waffen an die Ukraine zu liefern. Das ukrainische Militär wurde mit Hunderten Millionen Dollar finanziert. Im März schlug eine Gruppe von Senatoren beider Parteien ein weiteres Hilfspaket im Wert von 300 Millionen Dollar vor.

Die USA haben auch eine wichtige Rolle dabei gespielt, ukrainische Neonazis politisch und finanziell zu unterstützen, die wiederum in den ukrainischen Staat und die Regierung eingebunden wurden. Selenskyjs Innenminister Arsen Awakow ist berüchtigt für seine Beziehungen zu der Neonazi-Gruppierung Asow-Bataillon und ähnlichen rechtsextremen Kräften, die eine zentrale Rolle beim Putsch von 2014 gespielt haben.

Seither haben sie nahezu freie Hand erhalten, ethnische Minderheiten und politische Gegner der ukrainischen Regierung und der extremen Rechten zu terrorisieren. Vor allem diese Kräfte waren an den Kämpfen in der Ostukraine beteiligt.

Die militärische Konfrontation in der Schwarzmeerregion findet vor dem Hintergrund wachsender geopolitischer Spannungen statt, vor allem zwischen den USA und China, aber auch zwischen den imperialistischen Mächten. Zudem hat die neue Biden-Regierung einen aggressiven militärischen Kurs gegenüber Russland und China eingeschlagen.

Nur wenige Wochen nach seiner Amtsübernahme ließ Biden Syrien bombardieren, was sich nicht nur gegen den Iran richtete, sondern auch gegen Russland und China. Danach verstieß er auf außergewöhnliche Weise gegen das diplomatische Protokoll, indem er den russischen Präsidenten Wladimir Putin einen „Mörder“ nannte. Als Reaktion darauf berief der Kreml seinen Botschafter aus den USA zurück.

Für Fjodor Lukjanow, einen der führenden Außenpolitik-Experten Russlands, der enge Beziehungen zum Kreml unterhält, ist das noch nicht genug. Er erklärte, jetzt sei „die Zeit, die amerikanisch-russischen Beziehungen zu unterbrechen. Ein weiteres Engagement ist momentan sinnlos.“

In Russland werden Selenskyjs Schritte als offene Kriegsvorbereitung angesehen und sorgen für beträchtliche Nervosität. Schamil Garjew, ein Militärexperte und Offizier der Reserve, erklärte gegenüber der Nesawisimaja Gaseta: „Der Beginn der Nato-Militärübung Defender Europe 2021 fällt eindeutig mit den Diskussionen der Medien über mögliche kurzfristige Pläne Kiews zusammen, aktive Militäraktionen auf der Krim und im Donbass einzuleiten. ... Es ist nicht ausgeschlossen, dass Kiew seinen Hauptschlag im Donbass im Mai oder möglicherweise Anfang Juli beginnen wird.“

Andere vergleichen die Lage mit dem Vorabend des Kriegs zwischen Russland und Georgien im Jahr 2008, der beinahe eine Konfrontation zwischen den USA und Russland ausgelöst hätte. Der Kreml erklärte, er wolle keinen Krieg mit der Ukraine, trifft jetzt aber offensichtlich Vorbereitungen für eine derartige Option.

Der russische Außenminister Sergei Lawrow äußerte seine Wut, vor allem über Deutschland und Frankreich, und warf ihnen vor, sie würden nichts tun, um „die Ukraine zur Besinnung zu bringen“. Am Freitag forderte die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland eine weitere Erhöhung der Militärausgaben.

Kramp-Karrenbauer betonte, bei der Aufrüstung Deutschlands gehe es nicht darum, „den USA einen Gefallen zu tun“, sie diene vielmehr „unseren eigenen Interessen“. Sie nannte China und Russland ausdrücklich als Hauptziele der Aufrüstung. Russland bezeichnete sie als „eine sehr greifbare Bedrohung, sowohl konventionell als auch atomar“.

In der russischen Presse wurde ausführlich über das Interview berichtet, zudem wurde im Außenpolitikausschuss der Staatsduma (Parlament) darüber diskutiert. Die meisten Medienexperten und Politiker versuchten, das Interview herunterzuspielen, und erklärten, dass Berlin Moskau wohl nicht für einen Feind hält. Dennoch lösten die Äußerungen eindeutig Sorgen aus.

In den letzten Monaten haben sich die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland deutlich verschlechtert, da Berlin eine führende Rolle in der Kampagne um den rechten Putin-Gegner Alexei Nawalny gespielt hat.

In der herrschenden Klasse Deutschlands gibt es anhaltende Konflikte um die Politik gegenüber Russland. Einige Konflikte drehen sich um die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2, die von den USA sanktioniert wurde. Bundesaußenminister Heiko Maas erklärte bei seinem ersten Treffen mit US-Außenminister Blinken, Deutschland werde das Projekt auch gegen den Widerstand der USA umsetzen.

Der Korrespondent der Süddeutschen Zeitung Daniel Brössler forderte am Dienstag in einem Kommentar, der Westen müsse als Reaktion auf die Krise in der Ukraine „mit Sanktionen drohen, die wehtun. ... Russlands militärische Machtschau an der Grenze zur Ukraine sollte die EU dazu bringen, endlich klar Position zu beziehen und gemeinsam mit den USA abschreckend zu handeln.“ Ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine wäre „selbstverständlich das Ende von Nord Stream 2. Wenigstens das müsste nun klar gesagt werden.“

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