Im Vorfeld des begrenzten vierwöchigen Lockdowns, den die konservative britische Regierung im November widerwillig ausgerufen hatte, soll Premierminister Boris Johnson genervt ausgerufen haben: „Keine verdammten Lockdowns mehr, sollen sich doch die Leichen zu Tausenden auftürmen!“ („No more f***ing lockdowns, let the bodies pile high in their thousands!")
Die Daily Mail schrieb: „[Johnson] stimmte neuen Einschränkungen zu, aber während des wichtigen Treffens in der Downing Street [am 30. Oktober 2020] soll seine Frustration übergekocht sein.“
Die Enthüllung ist Teil einer Reihe von Leaks, die im Rahmen des anhaltenden Fraktionskampfs innerhalb der Tories veröffentlicht wurden. Sie vermittelt einen unverschleierten Einblick in die Diskussionen dieser Bande von mörderischen Verbrechern hinter verschlossenen Türen während der Pandemie.
Johnsons Ausbruch zeigt, was er die ganze Zeit wirklich gedacht hat, während er seine Meinung in der Öffentlichkeit hinter zynisch gespielter Besorgtheit versteckte. Die Befürworter der Herdenimmunität in der Tory-Partei, allen voran Johnson, wollten bereits den ersten Lockdown nicht – und einen Zweiten noch viel weniger. Doch als nach dem Ende des ersten Lockdowns die Zahlen der Infektionen und Todesfälle in die Höhe schossen – vor allem als im September Millionen Schüler in die Schulen zurück mussten –, kam die Befürchtung auf, dass es ohne einen neuen Lockdown soziale und politische Unruhen geben würde.
Die Daily Mail hat den Staatssekretär für Kabinettsangelegenheiten, Michael Gove, als einen derjenigen ausgemacht, die den Ausschlag dafür gaben, dass Johnson auf dem Treffen den Lockdown dann doch unterstützte. Die Zeitung schrieb unter Berufung auf „eine Quelle aus Goves nahem Umfeld“:
„Michael erklärte, wenn [Johnson] keinen zweiten Lockdown verhänge, werde es eine Katastrophe geben (...) Die Krankenhäuser würden überwältigt, die Not- und Unfallaufnahmen würden Patienten abweisen, die Leute würden in den Gängen und auf den Parkplätzen der Kliniken sterben (...) [Gove] erklärte [dem Premierminister], er müsse dann Soldaten in die Krankenhäuser schicken, um die Leute rauszuhalten (...), und das Fernsehen werde das alles filmen und der ganzen Welt zeigen. War das etwa das Bild von Großbritannien nach dem Brexit, das die Welt sehen sollte? Das wäre verheerend. Der Premierminister wusste keine Antwort.“
Am Montag bestritt Johnson, die Äußerungen je gemacht zu haben, doch die BBC zitierte „Quellen, denen die Unterhaltung bekannt war“ und die sie bestätigten. Der ITV-Politikredakteur Robert Peston schrieb, zwei Zeugen, die nicht mit der Daily Mail gesprochen hätten, hätten ihm gegenüber bestätigt, ebenfalls gehört zu haben, wie Johnson dies sagte.
Die Perspektive, die in den Worten "keine verdammten Lockdowns mehr, sollen sich doch die Leichen zu Tausenden auftürmen“ zum Ausdruck kam, leitet nun – fünf Monate nach dem November-Lockdown – die offizielle Regierungspolitik an.
Der sogenannte November-Lockdown endete am 3. Dezember. Nach einem Anstieg der Covid-19-Fälle aufgrund von gelockerten Regeln, die das Weihnachtsgeschäft ermöglichen sollten, war Johnson gezwungen, am 5. Januar einen dritten und wesentlich weniger restriktiven Lockdown zu verhängen. Doch ab diesem Zeitpunkt beharrten er und seine Regierung darauf, dass dies der „letzte Lockdown“ sein müsse.
Im Februar verkündete Johnson trotz der Ausbreitung neuer Covid-Varianten, dass ab März die Einschränkungen gelockert würden. Inzwischen hat sich die infektiösere und tödlichere Variante aus Kent zur weltweit vorherrschenden Variante entwickelt, aber die Wirtschaft soll ab dem 21. Juni vollständig wieder geöffnet werden.
Johnson hat schon des Öfteren – wenn auch in weniger vulgären Worten – erklärt, dass Tausende an Covid-19 sterben werden. Das Gleiche hat auch sein ehemaliger Berater Dominic Cummings erklärt, der nun im Verdacht steht, mit der Organisation von undichten Stellen seinem ehemaligen Vorgesetzten schaden zu wollen.
- Ende Februar 2020, als die Pandemie Großbritannien erreichte, fasste Cummings laut der Times bei einer geheimen Konferenz seine Haltung zu Covid-19 folgendermaßen zusammen: „Herdenimmunität, Schutz der Wirtschaft. Wenn das bedeutet, dass ein paar Rentner sterben: Pech gehabt.“
- Am 12. März erklärte Johnson: „Ich muss der britischen Öffentlichkeit gegenüber ehrlich sein: Es werden noch viele weitere Familien zu früh Angehörige verlieren.“ Das war kein Geständnis, sondern die Politik, für die Johnson und sein oberster wissenschaftlicher Berater, Sir Patrick Vallance, eintraten: Eine Agenda der Herdenimmunität durch Masseninfektionen und dem erklärten Plan, Dutzende Millionen dem Coronavirus auszusetzen. Als Johnson dies sagte, gab es in Großbritannien weniger als elf Tote durch Covid-19. Dreizehn Monate später waren es mehr als 150.000.
- Am 18. September 2020 erklärte Johnson: „Wir erleben jetzt den Beginn einer zweiten Welle. Wir haben es in Frankreich, Spanien und ganz Europa gesehen. Ich befürchte, es ist absolut unausweichlich, dass wir das auch in diesem Land erleben.“
- Am 22. Februar 2021 kündigte Johnson das Ende des landesweiten Lockdowns an und erklärte: „Wir müssen realistisch sein und akzeptieren, dass es mehr Infektionen, mehr Hospitalisierungen und deshalb, leider, auch mehr Tote geben wird (...)“
- Am 10. März 2021 schrieb Johnson im Daily Telegraph: „Wir sehen die Anzeichen für eine neue Covid-Welle bei einigen unserer europäischen Freunde und erinnern uns daran, wie wir in Großbritannien dieser Aufwärtskurve gefolgt sind, wenn auch einige Wochen später (...) Die erfolgreiche Rückkehr in die Schulen am Montag wird sich zweifellos auf unser Risikobudget auswirken.“
- Am 20. April 2021 erklärte Johnson: „Es wird irgendwann in diesem Jahr eine weitere Covid-Welle geben (...) Wir müssen – soweit wie möglich – lernen, mit dieser Krankheit zu leben, wie wir auch mit anderen Krankheiten leben.“
Unabhängig von Johnsons Vulgarität sind die Beendigung aller Lockdowns und die „Leichen, die sich auftürmen“ das Ziel aller kapitalistischen Regierungen der Welt. Die aktuellsten und schrecklichsten Folgen dieses Kurses zeigen sich in Indien, wo sich allein letzte Woche etwa zwei Millionen Menschen infiziert haben und täglich Tausende sterben.
In der gleichen Ausgabe, in der sie über Johnsons mörderische Äußerungen berichtete, veröffentlichte die Mail jedoch einen Kommentar von Andrew Pierce, in der es hieß: „Der Premierminister, der die Forderung nach Lockdowns abgelehnt hat, verliert den Kampf. Ja, sein Ausbruch war schockierend. Doch der libertäre Boris wusste, dass es nicht nur um die Covid-Todesopfer ging.“
Pierce schrieb, der Premierminister verdiene allgemeine Sympathie. Er beklagte den armen Boris, „der einmal gesagt hatte, der wahre Held des Films ,Der Weiße Hai‘ sei der Bürgermeister von Amity gewesen, der trotz der Anwesenheit eines Killerhais die Strände nicht geschlossen hatte“. Boris sei über seine Niederlage erschüttert. Er hatte es „aufgrund seiner libertären Instinkte abgelehnt, erneut Einkaufszentren, Pubs und Restaurants zu schließen“.
Vom ersten Tag der Pandemie an bestätigt alles, was geschehen ist, dass die Arbeiterklasse mit einer Bande von politischen Verbrechern konfrontiert ist, und dass sie für sozialen Mord in gewaltigem Ausmaß verantwortlich sind.
Der Kampf für die Beendigung der Pandemie muss auf der Erkenntnis basieren, dass ein entschlossener politischer Kampf nötig ist, nicht nur gegen die Johnson-Regierung, sondern auch gegen alle, die einen solchen Kampf sabotieren wollen – vor allem die Labour Party und die Gewerkschaftsbürokratie.
Labour-Chef Sir Keir Starmer hat sich seit mehr als einem Jahr im Namen der „nationalen Einigkeit“ zu ausschließlich „konstruktiver Kritik“ an Johnson verpflichtet. Die Gewerkschaften sorgen bis heute dafür, dass die Öffnungspolitik in Industrie und Wirtschaft und der Kurs auf Herdenimmunität der Tories durchgesetzt werden.
In früheren Zeiten hätte jeder Premierminister, der für das Massensterben von britischen Staatsbürgern plädiert, mit Forderungen nach Rücktritt und sofortigen Neuwahlen durch die größte Oppositionspartei rechnen müssen. Johnson jedoch nicht. Die Scottish National Party erklärte so höflich wie möglich, er habe wegen der Äußerungen „die Pflicht zurückzutreten“, „falls sie denn wahr sind“. Starmer erklärte lediglich, er sei über die Meldung „erstaunt“, und fügte hinzu: „Wenn er das wirklich gesagt hat, muss er sich rechtfertigen.“
Die Socialist Equality Party ruft die Arbeiterklasse auf, unabhängig von den Gewerkschaften und der Labour Party Sicherheitskomitees zu gründen, die für ein sozialistisches Programm und eine Arbeiterregierung kämpfen. Die SEP steht uneingeschränkt hinter der Forderung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI) zur Gründung einer Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees. Wir rufen alle Leser dazu auf, an der diesjährigen Online-Maikundgebung des IKVI teilzunehmen, um über diese entscheidenden Fragen zu diskutieren und den globalen Kampf der Arbeiterklasse zu organisieren.