Seit dem Wahldebakel der Labour Party am „Super-Donnerstag“, den 6. Mai, sind Versuche im Gange, Jeremy Corbyn als glaubwürdige Alternative zum verheerenden Rechtsruck der Partei unter der Führung von Keir Starmer zu rehabilitieren.
Bei der schwersten Niederlage bei Regionalwahlen seit 1935 verlor Labour bei der Nachwahl im nordenglischen Hartlepool gegen die Konservativen. Die Wähler brachten ihre Verachtung für Starmer und seine Zusammenarbeit mit Premier Boris Johnson in der Pandemie zum Ausdruck, in Starmers Worten eine Politik der „konstruktiven Kritik“. Corbyn, sein ehemaliger Schattenkanzler John McDonnell und andere aus dem Führungskreis der Partei präsentierten sich daraufhin als die Retter, mit denen Starmer nun zusammenarbeiten müsse, um Labour wieder auf Erfolgskurs zu bringen.
Dieser politische Zynismus ist atemberaubend. Der Kern ihrer Botschaft – ein Plädoyer für eine engere Zusammenarbeit zwischen den „Linken“ und „Rechten“ in der Partei – bestätigt, dass Corbyn und seine Mitstreiter verantwortlich sind für den Aufstieg Starmers an die Parteispitze und für die Festigung der Herrschaft der Rechten über die Partei.
McDonnell sagte gegenüber Iain Dale von der privaten Radiostation LBC am 11. Mai über Corbyn, den Starmer aufgrund falscher Antisemitismus-Vorwürfe von der Mitgliedschaft suspendiert hatte: „Corbyn ist noch nicht zurück im Ring. Auch hier bin ich der Meinung, dass Keir einen großen Fehler macht (…) Corbyn wartet nur darauf, dass der Parteivorsitzende und Führer der Partei ihn auffordert, zurückzukommen. Jeremy würde sofort alles stehen und liegen lassen.“
In einem Beitrag für die Tageszeitung Independent machte Corbyn deutlich, dass Starmer auf ihn zählen kann. Nach einigen rhetorischen Bekenntnissen zu Labours Versprechungen im Wahlmanifest von 2017 – angemessene Löhne, sicheres Wohnen, Verbesserungen im Verkehrswesen, gute finanzielle Ausstattung des Gesundheits- und Bildungswesens – erklärte Corbyn: „Die Labour Party steht geschlossen zu dieser Politik, für dieses Programm wurde Keir Starmer gewählt.“
Das ist natürlich eine Lüge. Die Labour Party ist allein den Interessen des britischen Imperialismus verpflichtet. Das zeigt sich daran, dass die Partei die Arbeiter und jungen Leute, die 2015 in die Partei strömten, weil sie irrtümlich glaubten, Corbyn würde für sozialistische Politik kämpfen, als „Feind im Innern“ verfolgte und ausschloss.
Corbyn versucht immer noch zu verbergen, dass die Labour Party und die Gewerkschaften den sozialen und politischen Interessen der Arbeiterklasse und den sozialistischen Bestrebungen ihrer besten Elemente unversöhnlich feindlich gegenüberstehen. Das ist das Wesen des „Corbynismus“, und Corbyns Formulierung im Independent steht exemplarisch dafür: „Die Progressiven in der westlichen Welt sind damit konfrontiert, dass es eine wachsende Unterstützung für eine Umverteilung des Reichtums gibt, während die Unterstützung für die sozialdemokratischen Parteien gleichzeitig zurückgeht.“
Doch die sozialdemokratischen Parteien verlieren gerade deshalb massiv an Unterstützung und stehen vor dem Zusammenbruch, weil sie überall auf der Welt nach rechts rücken, während die Arbeiterklasse sich nach links bewegt.
Als Vorsitzender der Labour Party ging es Corbyn darum, dass die Linksentwicklung der Arbeiterklasse und der jüngeren Generation unter der Kontrolle der Labour Party bleibt. 2015, noch bevor er Parteivorsitzender wurde, nannte er als sein Ziel, die „Pasokifizierung“ der Labour Party zu verhindern – eine Anspielung auf die Auflösungserscheinungen der griechischen PASOK und anderer sozialdemokratischer Parteien Europas.
Dieser Prozess war bereits weit fortgeschritten, als Corbyn eher widerstrebend als Parteivorsitzender kandidierte. Stalinistische und pseudolinke Gruppen hatten bereits neue Parteien der „breiten Linken“ wie Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien ins Leben gerufen und als Alternative zu den diskreditierten sozialdemokratischen Parteien beworben.
Corbyn profitierte von der weit verbreiteten Feindseligkeit gegenüber dem rechten Blair-Flügel, die ihn 2015 an die Spitze der Partei katapultierte. Nach Beratungen mit führenden Stalinisten und Pseudolinken betonte er, dass die Entwicklung einer „breiten linken Bewegung“ im Vereinigten Königreich ihren Weg durch die Labour Party nehmen müsse, nicht außerhalb von ihr. „Ich war in Griechenland und in Spanien“, sagte er. „Interessant ist, dass sozialdemokratische Parteien, die Sparprogramme akzeptieren und sie durchführen, sehr viele Mitglieder und Unterstützung verlieren. Ich glaube, wir haben die Möglichkeit, hier etwas anders zu machen.“
Die Pseudo-Linke feierte Corbyns Wahl als Beweis dafür, dass Labour und die mit der Partei verbundenen Gewerkschaften nach links gedrückt werden könnten. Demnach müsse jede neue Entwicklung im Rahmen der politischen und organisatorischen Zwangsjacke der Arbeiterbürokratie bleiben.
Die Socialist Party nannte den „Corbyn-Aufstand“ den Versuch „der Neugründung einer Arbeiterpartei“ und betonte, die Verbindung der Labour Party zu den Gewerkschaften sei „die kollektive Stimme von Millionen von Arbeitern“. Die Socialist Workers Party sprach von einem Beweis für „die Wiedergeburt der Sozialdemokratie (…) Der Lebensquell, der vor langer Zeit die Sozialdemokratie hervorbrachte, ist noch nicht versiegt und wird neue Ausdrucksformen finden, sei es durch Syriza, Corbyn oder ein anderes Vehikel.“
Das politische Motiv für solche Behauptungen ist die Ablehnung des Kampfes, eine revolutionäre Führung in der Arbeiterklasse aufzubauen. Die Behauptungen stammen von Kräften, deren politischer Ursprung in den stalinistischen Parteien liegt, oder von Gegnern des Trotzkismus, die vor Jahrzehnten mit der Vierten Internationale gebrochen haben. Dass Corbyn nun Führer der Partei war, diente ihnen als Argument für die Gründung von „linkspopulistischen“ Parteien, um das durch den Niedergang der sozialdemokratischen Parteien entstandene politische Vakuum zu füllen. Diese Parteien sollten ihrem Wesen nach antisozialistisch und arbeiterfeindlich sein, ein Versprechen an Teile der oberen Mittelklasse, durch den Einsatz diverser Formen der Identitätspolitik das persönliche Fortkommen zu fördern. Ihre Grundlage sollte ein prokapitalistisches Programm sein, das den Klassenkampf und die sozialistische Revolution ablehnt.
Chantal Mouffe, Autorin von „Für einen linken Populismus“, erklärte im April 2018: „Die Krise der europäischen Sozialdemokratie ist nun eine feststehende Tatsache. Das Scheitern der PASOK in Griechenland, der Arbeiterpartei in den Niederlanden, der PSOE in Spanien, der SPÖ in Österreich, der SPD in Deutschland und der Sozialistischen Partei in Frankreich, und jetzt das schlechteste Wahlergebnis der Demokratischen Partei Italiens in ihrer Geschichte. Bei diesem desaströsen Anblick, den ganz Europa bietet, gibt es nur in Großbritannien einen Lichtblick: Das ist die Labour Party, die unter der Führung von Jeremy Corbyn an Größe und Einfluss gewinnt.“ Sie betonte: „Corbyns Vorteil gegenüber seinen Genossen von Podemos oder Unbeugsames Frankreich besteht darin, dass er an der Spitze einer großen Partei steht, die die überwältigende Unterstützung der Gewerkschaften hat.“
Für die Ideologen der Pseudo-Linken war das ein entscheidender Punkt, insbesondere weil Corbyn Parteiführer wurde, als Syriza ihren Wählerauftrag, die von der EU und dem IWF diktierten Sparmaßnahmen abzulehnen, verriet. Ihr politischer Liebling bis dahin, Alexis Tsipras, wurde so in der griechischen und internationalen Arbeiterklasse zur Unperson.
Mouffe definierte Corbyns politische Perspektive in einem Interview mit Red Pepper im September 2018 so: „Traditionell nahm die Linke ihre politische Grenzziehung nach dem Kriterium der Klasse vor. Es gab die Arbeiterklasse, das Proletariat, und die Bourgeoisie. In der modernen Gesellschaft von heute ist diese politische Grenzziehung nicht mehr angemessen.“
Und weiter: „Es gibt viele demokratische Forderungen, die nicht klassenbezogen formuliert werden können. So muss man beispielsweise die Forderungen des Feminismus, des Antirassismus, der Schwulenbewegung und der Ökologie berücksichtigen. Solche Forderungen entziehen sich dem traditionellen Gegensatz zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie. Wir müssen die Grenze neu ziehen in einer populistischen, transversaleren Weise, etwa ‚das Volk‘ gegen ‘die Oligarchie‘. Viele Teile der Gesellschaft können für die Opposition gegen das neoliberale Projekt gewonnen werden, und wir müssen sie zusammenschließen, indem wir ein ‚Volk‘ konstruieren: einen kollektiven Willen.“
Diese Agenda propagierte Corbyn mit der klassenneutralen Formel „Für die Vielen, nicht die Wenigen.“ Das Programm betonte die innerparteiliche Einheit und vor allem das Bemühen, zunehmende Klassenkonflikte, die in ständig wachsender sozialer Ungleichheit wurzeln, auszubremsen durch „eine neue Art Politik: freundlicher, respektvoller, aber auch mutiger“ (in Corbyns Worten).
Es bedeutete, alle Anstrengungen, den rechten Blair-Flügel aus der Partei zu werfen, zu unterdrücken, mit den Gewerkschaftsführern bei der Unterdrückung von Streiks zusammenzuarbeiten, und die Labour-Stadträte anzuweisen, die von den Tories beschlossenen Kürzungen umzusetzen. In der Frage des Kriegs ließ Corbyn, vormals Führer der Stop the War Coalition, eine freie Abstimmung über eine Beteiligung Großbritanniens am Bombardement gegen Syrien zu, unterstützte die Nato-Mitgliedschaft des Landes und die Modernisierung des Trident-Atomwaffenprogramms.
In seinem Artikel für den Independent erklärt Corbyn: „2017 konnte Labour einen zehn Jahre währenden Abstieg umkehren, auch in den Kommunen, die durch Margaret Thatchers Krieg gegen die organisierten Arbeiter und Betriebe am Boden lagen. Wir haben unseren Stimmenanteil z. B. in Hartlepool erhöht und Stimmenzuwächse erzielt, von High Peak bis Canterbury. Am meisten bedauere ich, dass es den Konservativen 2019 gelang, viele dieser Erfolge wieder zunichte zu machen.“
Corbyn macht für seinen eigenen und den Niedergang der Labour Party verantwortlich, dass die Tories das Brexit-Votum für sich nutzen konnten. Doch die Erfolge Corbyns stammen alle aus 2017, dem Jahr nach dem Brexit-Referendum 2016, und er erzielte sie in Wahlkreisen, die einen Verbleib in der EU befürworteten, als auch in solchen, die für den Austritt gestimmt hatten. Inzwischen, 2019, hatte die Arbeiterklasse Corbyns wahres Gesicht kennengelernt: Sie wusste, er würde nicht für ihre sozialen Interessen kämpfen, und sie erlebte, wie er mit May und dann Boris Johnson im Namen der nationalen Einheit zusammenarbeitete, um „den Brexit endgültig zu machen“. Die Arbeiterklasse war zu der Erkenntnis gekommen, dass Corbyn eine unterwürfige Figur des rechten Blair-Flügels ist, der durch ständige Hexenjagden gegen seine Unterstützer diese aus der Partei trieb.
Es war Corbyn, der Johnson ins Amt brachte und dann widerstandslos die Labour Party den Blair-Leuten mit Keir Starmer als deren Führer überließ. Die Arbeiterklasse war somit bei den letzten Wahlen einer wirklichen Wahl beraubt, so dass viele abgestoßen waren und sich enthielten. Der bittere Preis für Corbyns fünf Jahre als Pateivorsitzender sind 150.000 Todesopfer durch Johnsons Politik der „Herdenimmunität“, und eine Tory-Regierung, die einen weiteren furchtbaren Angriff auf den Lebensstandard und die demokratischen Rechte der Arbeiterklasse vorbereitet.
Vor diesem Dilemma stehen auch die Arbeiter aller europäischen Länder. Die sozialdemokratischen Parteien, die schon lange zu offen prokapitalistischen, rechten Parteien geworden sind, die für Ausbeutung und Krieg stehen, befinden sich in einem Zustand fortgeschrittener Fäulnis. In Frankreich ist die Sozialistische Partei völlig eingebrochen und kommt nur noch auf einen Stimmenanteil von 6 Prozent, ähnlich wie PASOK in Griechenland. In Deutschland hat die SPD vier Bundestagswahlen in Folge verloren. 2017 waren es nur noch 20.5, bei der Europawahl 2019 weniger als 16 Prozent. Ihre Rolle in der Großen Koalition ist ein Garant für weitere Verluste.
Auch die von Pseudo-Linken/Stalinisten gegründeten Parteien verlieren immer mehr an Zustimmung. Kurz vor den Wahlen am „Super Donnerstag“ im Vereinigten Königreich triumphierte in Spanien die rechte Volkspartei (Partido Popular, PP) bei den Madrider Regionalwahlen am 4. Mai über die regierende Sozialistische Partei und ihren pseudolinken Koalitionspartner Podemos. Letztere, für die Parteiführer Pablo Iglesias kandidierte, landete mit nur 7.2 Prozent der Stimmen abgeschlagen auf dem letzten Platz, woraufhin Iglesias seinen Rückzug aus der Politik ankündigte.
Die unaufhaltsam fortschreitende Degeneration der alten Parteien und die reaktionäre Rolle ihrer pseudolinken Verbündeten und Verteidiger konfrontiert die Arbeiterklasse mit echten Gefahren.
Im Vereinigten Königreich sind die Torys dadurch elf Jahre im Amt geblieben und haben eine rücksichtslose Sparpolitik, beispiellose Angriffe auf demokratische Rechte und eine eskalierende Kriegstreiberei gegen Russland und China zu verantworten. Dazu kommt der Blutzoll der Pandemie, die nach Johnson „durchmarschieren“ sollte, auch wenn sich „die Leichen zu Tausenden türmen“.
In Deutschland setzt die Große Koalition die militaristische und migrantenfeindliche Politik der größten Oppositionspartei, der AfD, um.
In Madrid sind nun die Erbin Francos, die Volkspartei, und die faschistische Vox-Partei am Ruder. In ihrem von Antikommunismus geprägten Auftreten bei den Regionalwahlen hatten sie gezielt immer wieder auf den spanischen Bürgerkrieg Bezug genommen und versprochen, selbst die elementarsten Schutzmaßnahmen gegen Covid-19 aufzugeben. Während des Wahlkampfs gab es faschistische Todesdrohungen gegen Iglesias und andere. Nur Wochen zuvor hatten pensionierte Generäle und Oberste auf WhatsApp ihre Loyalität zum Faschismus bekundet und mit ihren Verbindungen zu aktiven Offizieren und zur Vox-Partei geprahlt. Sie riefen zu einem Putsch auf, um „26 Millionen“ linke Spanier zu ermorden.
Auch in Frankreich sorgten zwei Briefe, in denen der Bürgerkrieg angedroht wurde, für Erschütterung. Einer stammt von pensionierten Generälen, von denen viele mit Marie Le Pens Partei Rassemblement Nationale in Verbindung stehen, der andere von einer Gruppe aktiver französischer Soldaten.
Millionen Arbeiter haben ihrer alten Führung bereits eine Absage erteilt. Jetzt müssen sie einen bewussten politischen Bruch mit ihr vollziehen, um eine neue und wirklich sozialistische Führung aufzubauen.
Der Rechtsruck der Labour Party und anderer sozialdemokratischer Parteien, sowie die Verwandlung der Gewerkschaften in Anhängsel der Unternehmensleitungen und des Staates ist nicht nur schlechten Führern geschuldet, die man durch bessere ersetzen kann, welche dann für linke Reformen eintreten. Die Globalisierung der Produktion und die Integration des Weltmarkts haben politische Konzepte unbrauchbar gemacht, die Reformen anstreben, ohne den Kapitalismus und den Unterdrückungsapparat des Nationalstaates in Frage zu stellen. Die alten national basierten Arbeiterbürokratien und Parteien haben überall auf dieselbe Weise darauf reagiert, wie man es aus ihrer Geschichte kennt: im Sinne prokapitalistischer Programme und privilegierter Klasseninteressen. Sie ließen alle reformistischen Ambitionen fallen und agieren offen als Hüter der bürgerlichen Ordnung.
Die Arbeiterklasse muss jetzt eine Partei aufbauen, deren Programm der global organisierten kapitalistischen Ausbeutung und dem unversöhnlichen Konflikt zwischen der kapitalistischen Klasse jedes Landes und der internationalen Arbeiterklasse gerecht wird. Dies sind die Socialist Equality Party in Großbritannien und ihre Schwesterparteien im Internationalen Komitee der Vierten Internationale.
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