Politik und Wirtschaft ignorieren Gefahr der neuen Corona-Variante

Die Maskenpflicht ist weitgehend ausgesetzt, Läden und Gastronomie größtenteils offen, fast alle Auslandsreisen wieder erlaubt. Bahnhöfe, Züge und Busse füllen sich, und in Bayern ist sogar das laute Singen in den Kirchen wieder erlaubt. Wer den Eindruck gewinnt, die Pandemie sei vorbei, muss wissen: Dieser Eindruck ist von der etablierten Politik ausdrücklich gewollt.

Dabei breitet sich in Europa gerade die neue, hoch-ansteckende Sars-CoV2-Variante Delta, die bisherige „indische Variante“ aus. Auch in Deutschland sind erste Fälle festgestellt worden. „Eine Mutante, wie gemacht für die vierte Welle“, nennt die Zeit das hochansteckende Virus.

Das Beunruhigende daran: Am Delta-Virus erkranken auch Menschen, die bereits ein erstes Mal geimpft worden sind. Einen deutlich besseren Immunschutz liefert eine vollständige Impfung, aber vollständig geimpft sind in Deutschland erst 25 Prozent der Bevölkerung. Knapp die Hälfte hat gerade mal die erste Impfung erhalten. Außerdem hat Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am 8. Juni die Priorisierung aufgehoben. Dabei fehlt es nach wie vor an Impfstoff, und sehr viele Menschen aus den Risikogruppen sind noch immer nicht immunisiert.

Mit einer vierten Welle noch im Sommer rechnet auch die Virologin Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. „Ich fürchte, die Zahlen werden über kurz oder lang wieder steigen“, kommentiert Brinkmann die aktuellen raschen Öffnungen. „Vielen Menschen ist nicht klar, mit welcher Wucht ein exponentielles Wachstum hochschnellen kann, wenn man nicht rechtzeitig gegensteuert.“ Wäre man im letzten Jahr nicht so leichtfertig gewesen, so die Virologin, hätte sich Deutschland die dritte Welle im Herbst und Winter und damit viele Kranke und Tote ersparen können.

Ein Bevölkerungsanteil von einem Viertel vollständig Geimpfter reicht zur Beendigung der Pandemiemaßnahmen nicht aus, warnt auch der Charité-Virologe Christian Drosten. „Wir müssen aufpassen, wir reden hier über die Zukunft“, so Drosten. „Im Moment sind wir in einer Übergangsphase. Das nächste Ziel, das wir vor Augen haben müssen, ist, dass 80 Prozent der erwachsenen Bevölkerung doppelt geimpft sein müssen.“

Gerade hat Delta in Großbritannien ein erneutes Hochschnellen der Corona-Infektionen bewirkt. Erstmals seit Mitte Mai sind dort wieder mehr Covid-19-Patienten in die Krankenhäuser eingeliefert worden, und die Siebentagesinzidenz ist auf knapp 50 angestiegen, nachdem sie bereits mehrere Wochen lang bei 20 lag. In Indien und anderen Ländern hatte Delta zuvor einen fast senkrechten Wiederanstieg der Infektionskurve bewirkt.

Die Fußball-Europameisterschaft könnte gefährlich zur Ausbreitung des Delta-Virus beitragen. Der Spiegel wirft die bange Frage auf: „Wird das Großevent zum kontinentalen Superspreader?“ Die Frage ist berechtigt. Was keinem Amateurverein gestattet würde, ist in der EM möglich: Einzelne Stadien werden zu 50 Prozent (Sankt Petersburg) und zu 100 Prozent (Budapest) wieder gefüllt. Unter den Spielorten wurde am gestrigen Sonntag auch das Wembley-Stadion in London bespielt, wo sich das neue Virus ausbreitet. Einige Fans haben die Möglichkeit, durch ganz Europa zu touren. Mehrere Mannschaften, darunter Spanien, verzeichnen bereits Ausfälle durch Corona-erkrankte Spieler.

Dennoch bedeutet die EM für Politiker wie Markus Söder (CSU), den bayrischen Ministerpräsidenten, „ein Signal für mehr Normalität mit Verstand“. Wie eine Drohung wirkt Söders Versprechen: „Wir gehen an die Grenze des Möglichen.“ Den Zuschauern wird das gewollte neue „Sommermärchen“ regelrecht aufgezwungen. Laut einer Spiegel-Umfrage sind 40 Prozent der Befragten klar der Meinung, die EM hätte, wie im Vorjahr, wegen der Pandemie abgesagt werden müssen.

Söder spricht mit seinen Anschauungen praktisch allen etablierten Politikern aus dem Herzen. In Brandenburg hat die AfD offiziell den Antrag gestellt, die Pandemie für beendet zu erklären, und die AfD-Politik ist im Grunde die Politik aller Parteien bis hin zur Linken. Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) erklärte in der Rheinischen Post: „Ich glaube, wir können das Risiko der kompletten Öffnung im Herbst eingehen.“ Im Interesse der Profite einer schmalen Oberschicht sind sie alle bereit, sämtliche Schutzmaßnahmen aufzuheben, um Kitas, Schulen, Betriebe und die ganze Wirtschaft wieder auf Hochtouren laufen zu lassen.

Dabei sterben auch jetzt noch täglich rund hundert Corona-Patienten. Die schaurige Zahl von 90.000 Corona-Toten allein in Deutschland, die gerade erreicht wird, ist den Zeitungen kaum mehr eine Schlagzeile wert. Weltweit gibt es bald unfassbare vier Millionen Corona-Tote. In den Intensivstationen ringen weiter tausende um ihr Leben, und auch 20- und 30-Jährige kämpfen gegen die mit Long Covid verbundenen Schmerzen, gegen Konzentrationsprobleme und chronische Erschöpfungszustände.

Eine Politikerin, die die Pandemie am liebsten als beendet erklären würde, ist die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) Britta Ernst (SPD). Sie setzte am 10. Juni eine KMK-Erklärung durch, der zufolge es im kommenden Schuljahr keine Schulschließungen oder andere Einschränkungen mehr geben wird, auch wenn die Inzidenzwerte wieder steigen. Die Schulen sollen sich ausdrücklich nicht mehr nach den Inzidenzwerten richten. Auch Schulfahrten sollen wieder uneingeschränkt möglich sein.

Britta Ernst ist auch Bildungsministerin von Brandenburg und Ehefrau des SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz. Ihr KMK-Beschluss enthält die längst widerlegte Behauptung: „Von Kindern und Jugendliche [geht] keine treibende Kraft in der aktuellen Situation aus.“

Auch die neue Vorsitzende der Lehrergewerkschaft GEW, Maike Finnern, die gerade Marlis Tepe ablöst, stimmte Britta Ernst bei den Öffnungen zu und betonte, auch sie halte Corona-bedingte Schulschließungen im neuen Schuljahr höchstwahrscheinlich für verzichtbar: „Das ist nicht noch einmal vorstellbar“, sagte Finnern.

In mehreren Bundesländern werden die Schulen uneingeschränkt wieder geöffnet, die Maskenpflicht in den Klassenräumen entfällt, und Sport wird wieder in den Hallen getrieben.

Die Politiker begründen diese hoch fahrlässige Öffnungspolitik damit, dass die Siebentagesinzidenz im Bundesdurchschnitt bis auf 20 Infizierte pro 100.000 Einwohner gesunken ist. Allerdings liegt die Siebentagesinzidenz gerade in den Schulen immer noch deutlich höher und manchmal doppelt so hoch wie in der übrigen Bevölkerung. Am 8. Juni lag sie bei den 5- bis 9-Jährigen bei 41, bei den 10- bis 14-Jährigen bei 42 und bei den 15- bis 19-Jährigen bei 37 Infizierten pro 100.000.

Nicht weniger als 35 Lehrer und Erzieher sind bisher gestorben, so die traurige Zahl, die das RKI offiziell bekannt gibt, die aber zweifellos nicht alle an Corona verstorbenen Erzieher enthält. Und die Gefahr ist nicht vorbei! Die Website news4teachers.de weist darauf hin, dass die allermeisten Kinder und Jugendlichen auch in absehbarer Zeit nicht geimpft werden können. Noch immer fehlen Luftfilter in fast allen Klassenräumen. In wenigen Tagen wird die Regierung am 30. Juni die Bundesnotbremse aussetzen, die bisher Schulschließungen ab einem Inzidenzwert von 165 zwingend vorgeschrieben hat.

Die bürgerlichen Politiker von AfD bis Linkspartei haben aus der Pandemie nichts gelernt, und sie wollen auch nichts lernen. Notwendig wäre es, die Lehren aus den Erfahrungen der letzten Monate zu ziehen, die Zahlen konsequent herabzudrücken und niedrig zu halten. Damit es keine größeren Ausbrüche und neue exponentielle Anstiege mehr gibt, muss man in jeden Fall seriös testen und systematisch Kontakte nachverfolgen und isolieren.

Um dies durchzusetzen, muss die Arbeiterklasse das Sagen haben! Das hat die Pandemie zweifelsfrei erwiesen. Deshalb kämpfen die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) und alle Parteien, die dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale angehören, für den Aufbau unabhängiger Aktionskomitees in allen Betrieben und Einrichtungen. Diese Komitees werden sich europaweit und weltweit vernetzen und einen europaweiten Generalstreik vorbereiten, um sichere Verhältnisse durchzusetzen.

Die Pandemie hat gezeigt, dass die Politikerschicht, welche die kapitalistischen Regierungsgeschäfte führt, praktisch auf einem anderen Planeten lebt als die große Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung. Sie hat die Klassenspaltung offen sichtbar gemacht. Bankiers, Aktionäre und Superreiche, die alle Möglichkeiten haben, sich und ihre Familien zu schützen, konnten ihr Vermögen in der Covid-19-Pandemie massiv vermehren.

In Deutschland stieg das private Finanzvermögen aus Bargeld, Kontoguthaben, Aktien, Pensionen und Lebensversicherungen auf neun Billionen Dollar und das Sachvermögen auf 13 Billionen Dollar. Deutschland hat 2900 Superreiche, die mehr als 100 Millionen Dollar besitzen, und steht damit im globalen Ranking hinter den USA und China auf Platz drei.

Dafür bezahlt die arbeitende Bevölkerung in doppelter Hinsicht. Sie kann sich der tagtäglichen gesundheitlichen Bedrohung in den Betrieben, Produktionshallen, Krankenhäusern, Schulen und anderen Einrichtungen nicht entziehen. Sie kann auch nicht auf Schutz durch die Gewerkschaften hoffen. Die Gewerkschaften weigern sich, die Arbeiter wirkungsvoll vor der Infektionsgefahr zu schützen.

Gleichzeitig sind Hunderttausende Arbeiter akut von Jobverlust und Armutsgefährdung bedroht. Ein Beispiel dafür ist der Continental-Konzern. Als Auftakt zu massiven Stellenstreichungen im Auto- und Zuliefersektor, die voraussichtlich 180.000 Arbeitsplätze vernichten werden, setzt das Continental-Management mit Hilfe der IG Metall in Deutschland 13.000 und weltweit 30.000 Stellenstreichungen durch. Continental hat in seinen Werken gleichzeitig die Produktion auch bei hohen Inzidenzzahlen nie frühzeitig stillgelegt.

Ein Ausbruch im Conti-Reifenwerk in Aachen Mitte Mai zeigt, wie verantwortungslos die Profite-vor-Leben-Politik verfolgt wird. Die Conti-Arbeiter sind auch in Aachen doppelt unter Druck, denn die Schließung des Reifenwerks ist bereits beschlossene Sache. Auch als die Inzidenzen in Aachen bedrohlich anstiegen, wurde der Betrieb niemals eingestellt, bis sich ein größerer Ausbruch ausgebreitet hatte. Erst als die Zahl der Erkrankten bei 33 lag, wurde der Betrieb am 19. Mai für ein paar Tage unterbrochen.

Die Pandemie hat die wahre Rolle der Gewerkschaften entlarvt. IG Metall, Verdi und Co. haben dafür gesorgt, dass die Produktion auch im Lockdown weiterlief, auch wenn dies die Gesundheit und das Leben der Arbeiter gefährdete. Die Zahlen über die Corona-Fälle in den Betrieben halten sie bis heute sorgfältig geheim.

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