Erklärung der Volvo-Arbeiter: „Wo wir stehen, welche Erfahrungen wir gemacht haben und wie unser Kampf weitergeht“

Diese Erklärung wurde vom Volvo Workers Rank-and-File Committee herausgegeben, bevor die Arbeiter des Werks in New River Valley (NRV) nach dem Ende ihres mehr als einmonatigen Streiks wieder an die Arbeit zurückkehrten.

Letzten Mittwoch behauptete die Gewerkschaft United Auto Workers, ihre dritte vorläufige Vereinbarung mit Volvo sei bei einer erneuten Abstimmung mit einer Mehrheit von nur 17 Stimmen angenommen worden. Nur wenige Tage zuvor hatten die Arbeiter den Tarifvertrag abgelehnt, da er zahlreiche Zugeständnisse an die Konzernleitung beinhaltete. Obwohl der Streik beendet wurde und das Unternehmen seine Bedingungen durchgesetzt hat, erklärten Arbeiter der WSWS, dass die Stimmung unter ihnen weiter militant ist. Sie seien bereit, den Kampf gegen die Forderungen des Managements nach einer Beschleunigung der Produktion fortzusetzen.

Volvo-Arbeiter können sich unter volvowrfc@gmail.com  oder per Textnachricht unter (+1 540) 307-0509 mit dem Volvo Workers Rank-and-File Committee in Verbindung setzen.

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Wo wir stehen, welche Erfahrungen wir gemacht haben und wie unser Kampf weitergeht

18. Juli 2021

Brüder und Schwestern,

am Montag gehen viele von uns an die Arbeit zurück, nachdem die UAW behauptet hat, ihre dritte vorläufige Tarifvereinbarung mit dem Unternehmen sei am Mittwoch mit einer Mehrheit von nur 17 Stimmen angenommen worden. Das Ergebnis der letzten Abstimmung bleibt in vielerlei Hinsicht hochgradig fragwürdig, angesichts der angeblich knappen Mehrheit, des unehrlichen Verhaltens der UAW während der gesamten Verhandlungen und ihrer erklärten Absicht, diesen Tarifvertrag durchzusetzen.

Doch unabhängig von der Richtigkeit der Abstimmung bedeutet die Tatsache, dass wir an die Arbeit zurückkehren, nicht das Ende des Kampfs für die Rechte aller Arbeiter im Werk NRV. Vielmehr ist es erst der Beginn des nächsten Stadiums im Kampf. Doch um uns in diesem nächsten Stadium zurechtzufinden, müssen wir zuerst die Erfahrungen auswerten und verstehen, die hinter uns liegen.

Zuerst möchten wir erklären, dass das Volvo Workers Rank-and-File Committee enorm stolz darauf ist, in den letzten drei Monaten an der Seite von Tausenden Kolleginnen und Kollegen gekämpft zu haben. Wir haben gemeinsam wochenlang einem der größten Konzerne der Welt standgehalten und seine Forderungen, wir müssten Opfer bringen, während die Investoren Milliarden kassieren, zurückgewiesen. Unser Kampf wird ein Vorbild für viele Arbeiter sein, die mit den gleichen Problemen konfrontiert sind.

An unsere Kolleginnen und Kollegen, die mit Ja gestimmt haben und es für notwendig hielten, den Streik zu beenden: Unsere Bande der Solidarität wurden dadurch nicht geschwächt. Wir verstehen, dass sich viele angesichts des knappen Streikgelds von nur 275 Dollar pro Woche, das sie von der UAW erhalten haben, in einer sehr schweren finanziellen Lage befanden und dass es für sie keine leichte Entscheidung war. Ihre Stimme für den Tarifvertrag bedeutet keineswegs Unterstützung für die Tarifbedingungen, geschweige denn für die UAW.

An unsere Kolleginnen und Kollegen bei Mack Trucks, in anderen Autowerken und an anderen Arbeitsplätzen im ganzen Land: Wir drücken unsere tiefste Anerkennung für eure Solidarität aus. Den Arbeitern in anderen Ländern, die ihre Unterstützung für unseren Streik erklärten, vor allem den Arbeitern bei Volvo Cars in Belgien, möchten wir ausrichten: Eure Worte und Unterstützung haben die Arbeiter in NRV ungeheuerlich ermutigt, gestärkt und inspiriert. Uns wurde klar, wie wichtig die Solidarität der internationalen Arbeiterklasse für den Erfolg jedes Kampfs ist.

Zuletzt wollen wir gegenüber der World Socialist Web Site unsere Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Sie hat uns viele unschätzbare Ratschläge und Informationen über Volvo, die UAW und die Geschichte anderer Arbeitskämpfe gegeben. Während die Mainstreammedien und die UAW den Streik im ganzen Land totschwiegen, hat die WSWS versucht, dieses Schweigen zu durchbrechen und die Arbeiter überall auf den Streik aufmerksam zu machen. Wir möchten auch darauf hinweisen, dass die WSWS als Gegenleistung für ihre unerschütterliche Unterstützung für unseren Streik nicht von uns gefordert hat, ihr politisches Programm zu übernehmen.

Lasst uns jetzt zusammen die Lehren aus dieser Erfahrung ziehen. Was ist passiert?

Beginnen wir mit den Ereignissen in diesem Monat. Am 1. Juli, vor kaum mehr als zwei Wochen, wurde eine „dritte“ vorläufige Vereinbarung angekündigt. Die UAW behauptete betrügerischer Weise, sie beinhalte „deutliche Verbesserungen“.

Dieser Tarifvertrag, der laut Volvo und UAW jetzt in Kraft sei, beinhaltet eine deutliche Erhöhung der Gesundheitskosten für die Arbeiter und Rentner. Die Löhne werden in der obersten Lohngruppe um etwas weniger als zwei Prozent pro Jahr erhöht. Er beinhaltet keine allgemeine Angleichung der Lebenskosten, um die Inflation auszugleichen. Das Stufensystem wird in ein System jahrelanger „Lohnprogression“ umgewandelt, und das Management erhält mehr Freiraum, Arbeiter zu bestrafen und zu disziplinieren. Das sind natürlich nur die Zugeständnisse, die die UAW in ihren „Highlights“ der Tarifvereinbarung bekanntgab. Wir müssen den vollständigen Vertrag gründlich studieren, um zu erfahren, was noch alles darinsteht.

Obwohl Volvo und die UAW für die Ratifizierung des Vertrags warben, machte die Mehrheit der Arbeiter am Freitag, den 9. Juli, deutlich, dass sie das Abkommen für unzureichend hält. 60 Prozent der Teilnehmer an der Abstimmung lehnten es ab.

Das war auch ungefähr der Punkt, an dem Volvo und die UAW unsere Rebellion nicht mehr nur als Ärgernis ansahen, sondern als eine echte Bedrohung und Gefahr. Der Streik stieß auf Unterstützung unter den Arbeitern bei Mack und im Rest der Welt. Das Unternehmen selbst gab zu, dass ihre Aufträge in Gefahr waren. Also arbeiteten Volvo und die UAW einen Plan aus, um den Streik schnell und brutal zu beenden.

Zuerst erklärte die UAW uns – im Auftrag des Unternehmens –, Volvo werde das Abkommen umsetzen, obwohl wir es abgelehnt hatten, was ein offener Streikbruch gewesen wäre. Danach kündigte die UAW eine „Neuabstimmung“ über das gleiche Abkommen an. Diese völlig undemokratische Entscheidung versuchte sie mit der Falschbehauptung zu rechtfertigen, sie sei juristisch vorgeschrieben.

Danach begann die UAW eine Kampagne, um uns davon zu überzeugen, dass wir keine andere Wahl hätten, als zu kapitulieren. Sie behauptete, der Tarifvertrag würde selbst dann in Kraft treten, wenn wir ihn ablehnen, und dass wir unseren Bonus für die Unterschrift verlieren würden. Der Präsident des UAW-Ortsverbands 2069, Matt Blondino, und die Vorsitzende des Wahlkomitees, Missy Edwards, warben für ein „Ja“ zu dem Tarifvertrag. Außerdem wurde uns erklärt, die irreführend als „Solidarity House“ bezeichnete UAW-Zentrale, lehne eine Fortsetzung des Streiks ab und werde ihn zum Wochenende unabhängig vom Ergebnis der Neuabstimmung beenden.

Dennoch herrschte weiterhin beträchtlicher Widerstand gegen den Deal, vor allem als immer mehr Arbeiter von der Unterstützung und dem Streik der Volvo-Cars-Arbeiter in Belgien erfuhren.

Am Mittwochabend verzögerte die UAW die Ankündigung der Ergebnisse um mehr als drei Stunden. Das war länger als bei den früheren Abstimmungen, und in dieser Zeit hat sie sich zweifellos mit der UAW-Zentrale abgesprochen. Danach kündigte sie an, dass der Deal wundersamer Weise mit einer Mehrheit von nur 17 Stimmen angenommen wurde. Nur eine halbe Stunde später erklärte sie den Arbeitern, die Streikposten würden „noch während wir sprechen“ aufgelöst.

Die Arbeiter reagierten darauf sofort mit einem empörten Aufschrei. Viele warfen der UAW Betrug vor und forderten eine Neuauszählung, was die Gewerkschaft völlig ignorierte. Doch selbst wenn wir davon ausgehen, dass die Abstimmung korrekt verlaufen ist, ändert es nichts daran, dass nicht nur die Neuabstimmung, sondern der ganze Prozess der „Tarifverhandlung“ unter der Ägide der UAW völlig undemokratisch und im Grunde von vorne bis hinten unrechtmäßig war.

Zuerst verlängerte die UAW den vorherigen Tarifvertrag mit dem Unternehmen um 30 Tage, sodass weiterhin Lastwagen gebaut wurden. Angesichts der allgemeinen Zustimmung zu einem Streik – bei der Urabstimmung votierten fast 97 Prozent dafür – merkte die UAW, dass sie den Tarifvertrag nicht durchsetzen konnte, ohne zumindest einen begrenzten Arbeitskampf zu führen. Sie rief am 17. April zum ersten Streik auf, allerdings mit dem Ziel, die Verabschiedung ihres zuvor ausgehandelten Tarifabkommens mit dem Unternehmen zu gewährleisten.

Zwei Wochen später beendete sie den Streik abrupt und schickte uns an die Arbeit zurück, ohne uns die erste vorläufige Vereinbarung zu zeigen, geschweige denn darüber abstimmen zu lassen. Doch nachdem die „Highlights“ veröffentlicht wurden, war klar, dass der Deal keine unserer Forderungen erfüllt. Trotz der Drohungen von Ray Curry, der damals Schatzmeister und Chef der Lastwagensparte der UAW war und mittlerweile zum UAW-Präsidenten ernannt wurde, war der Widerstand gegen die erste vorläufige Vereinbarung so überwältigend, dass sie am 16. Mai mit 91 Prozent der Stimmen abgelehnt wurde.

Weniger als eine Woche später, am 20. Mai, kündigte die UAW eine neue vorläufige Vereinbarung mit dem Unternehmen an. Curry behauptete fälschlicher Weise, sie hätten „noch mehr solide Verbesserungen in Richtung fairer Löhne, Zusatzleistungen und Kündigungsschutz ausgehandelt“. In Wirklichkeit unterschied sich das Abkommen jedoch nur oberflächlich vom ersten.

Trotz aller Bemühungen der UAW und des Unternehmens wurde der Deal am 6. Juni erneut mit einer überwältigenden Mehrheit von 90 Prozent abgelehnt. Angesichts dieser Rebellion der Arbeiter sah sich die UAW gezwungen, am 7. Juni zu einem weiteren Streik aufzurufen.

Die Gewerkschaft machte sich daran, diesen Streik zu isolieren, die Arbeiter mit einem Streikgeld von nur 275 Dollar pro Woche auszuhungern und den Streik totzuschweigen, damit andere Autoarbeiter nicht einmal erfahren, dass er stattfindet. Sie unternahm nichts gegen die aggressive Streikbruchtätigkeit des Unternehmens wie den Entzug der Gesundheitsversorgung und anderer Versicherungen und den Einsatz von Streikbrechern. Soweit sie konnte, enthielt uns die UAW wichtige Informationen vor, einschließlich ihrer Forderungen und Diskussionen mit dem Unternehmen.

Wie wir bereits schilderten, lehnte dennoch eine Mehrheit von uns diesen dritten Tarifvertrag mit dem Unternehmen in der ersten Abstimmung am 9. Juli ab, obwohl die UAW alles daransetzte, uns mit Lügen über die angeblichen Vorzüge des Vertrags und mit Drohungen über die Konsequenzen einer Ablehnung zur Zustimmung zu bewegen. Als letzten verzweifelten Versuch verschärften Volvo und die UAW die Streikbruchaktivitäten und organisierten mit der Neuabstimmung am Mittwoch eine Farce des „demokratischen Prozesses“. Nur auf diese Weise konnten sie – angeblich – eine Mehrheit für den Tarifvertrag sichern.

Was zeigen diese Ereignisse? Wir glauben, dass die folgenden Schlüsse gezogen werden müssen:

1. Die UAW repräsentiert nicht die Arbeiter, sondern die Unternehmen, und das lässt sich auch mit noch so großem Druck nicht ändern. Statt auf unsere überwältigende Ablehnung ihrer Deals mit Volvo mit einem Kurswechsel zu reagieren und unsere Forderungen durchzusetzen, verschärfte die UAW ihren Informations-Blackout und ihre Verschwörung mit dem Unternehmen. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war ihre Unterstützung für Volvo, wodurch mit der Neuabstimmung in der letzten Woche die vorläufige Vereinbarung durchgesetzt wurde.

2. Die UAW hat gezeigt, dass sie unfähig ist, unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Aber das verringert oder negiert nicht die Notwendigkeit einer kollektiven Organisation der Arbeiter zur Verteidigung und zum Kampf für unsere Interessen. Das Volvo Workers Rank-and-File Committee hat während des Kampfs für die Vereinigung aller Arbeiter gekämpft, um den Forderungen aller Generationen eine Stimme zu geben, um die Lügen von Volvo und der UAW zu bekämpfen und einen Weg für einen siegreichen Ausgang des Streiks zu finden. Viele Arbeiter bei NRV gingen während des Streiks auf uns zu und standen mit unserem Aktionskomitee in Kontakt. Sie sagten uns, dass es ohne die Erklärungen unseres Komitees nicht so viele Nein-Stimmen gegeben hätte.

3. Wenn der nächste Kampf erfolgreich sein soll, egal ob bei Volvo, Mack oder sonst wo, muss er sich auf mehr als ein oder zwei Werke erstrecken. Er muss die wirkliche Stärke der Arbeiterklasse mobilisieren. Wir können multinationale Konzerne wie Volvo nicht in einem einzigen Werk bekämpfen. Weil sie mit einer globalen Strategie operieren, müssen wir das auch tun. Die Unterstützung der Arbeiter in Belgien, Australien, England und anderen Ländern hat gezeigt, dass Arbeiter weltweit erkennen können, dass sie mit den gleichen Problemen konfrontiert sind und gemeinsam dagegen kämpfen wollen.

Die Vernetzung mit anderen Arbeitern hat bereits begonnen und muss fortgesetzt werden. Unser Komitee hat begonnen, sich mit Arbeitern bei Mack Trucks in Pennsylvania zu koordinieren, die ihr eigenes Aktionskomitee gegründet haben, und mit Arbeitern in anderen Bundesstaaten. Wir appellieren besonders an die Arbeiter bei John Deere, wo die verräterische UAW in den kommenden Monaten ebenfalls Tarifverhandlungen führen wird: Studiert sorgfältig die Lehren aus unserer Erfahrung und gründet ebenfalls Aktionskomitees.

Zudem ist dieser Verrat, wie wir ihn erlebt haben, nicht nur ein Problem in der Autoindustrie. Momentan befinden sich die Frito-Lay-Arbeiter in Kansas im Streik, nachdem sie einen Tarifvertrag der dortigen Gewerkschaft abgelehnt haben. Die Kohlebergarbeiter bei Warrior Met Coal befinden sich seit mehr als 100 Tagen in einem Streik, der von der UMWA isoliert wird. Bei ATI hat die Stahlarbeitergewerkschaft USW erst vor kurzem nach einem einmonatigen Streik Zugeständnisse durchgesetzt. Die Gewerkschaften erfüllen heute einfach nicht mehr die Funktion, für die sie in den 1930er Jahren gegründet wurden.

Eine echte Bewegung der Arbeiter muss von unten kommen, nicht aus der Bürokratie. Der Aufbau einer mächtigen Bewegung von den Arbeitern, durch die Arbeiter und für die Arbeiter ist die Aufgabe, vor der die Arbeiter überall stehen.

Der Aufbau einer solchen Bewegung ist auf der Tagesordnung. Wir leben in einer extrem ungleichen Gesellschaft. Während wir uns jeden Tag abmühen, um unsere Familien zu ernähren und unsere Rechnungen zu bezahlen, lebt ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung in Saus und Braus. Ihre Gehälter betragen nicht nur Hunderttausende Dollar, sondern liegen im zweistelligen Millionenbereich – Vermögen, die wir Arbeiter gemeinsam erwirtschaften. Und mitten in einer Pandemie mit Millionen Todesopfern sind sie sogar noch reicher geworden.

Den Volvo-Arbeitern bei NRV sagen wir: Der Kampf geht weiter. Widerstand und Wut werden unweigerlich wieder aufflammen, wenn die volle Wahrheit über den neuen Tarifvertrag ans Licht kommt und das Unternehmen versucht, durch erzwungene Arbeitsbeschleunigung die ausgefallene Produktion auszugleichen. Wir appellieren an euch, unserem Komitee beizutreten und uns zu helfen, das Aktionskomitee zu einer Organisation aufzubauen, die die bevorstehenden Kämpfe anführen wird.

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