Das deutsche Debakel in Afghanistan: Politik und Medien trommeln für erneuten Militäreinsatz

Politik und Medien reagieren auf den Vormarsch der Taliban nach dem Abzug der Nato-Truppen aus Afghanistan mit einer Mischung aus Desillusion, Wut und dem Ruf nach einer erneuten Militärintervention.

Taliban-Kämpfer an einem Checkpoint in Kundus am 9. August 2021 (AP Photo/Abdullah Sahil)

Man habe „die afghanische Bevölkerung den wiedererstarkten Taliban ausgeliefert“, erbost sich Klaus-Dieter Frankenberger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Es sei „zynisch zu sagen, es sei das Recht der Afghanen, über ihre Zukunft selbst zu bestimmen. Das werden sie nicht können, denn bestimmen werden allein die neuen Herren.“ Nun „von Diplomatie zu reden“ sei „Augenwischerei.“

In der Zeit empört sich Wolfgang Bauer darüber, dass für „die meisten Deutschen“ der Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan „ein Moment der Erleichterung“ gewesen sei. Dies beweise „einmal mehr, wie losgelöst die Stimmungslage der deutschen Öffentlichkeit mittlerweile von großen Teilen des Weltgeschehens ist“.

Bauer, der in früheren Jahren selbst über Kriegsverbrechen der US-Truppen in Afghanistan berichtet hat, echauffiert sich nun über deren Abzug und beklagt den Unwillen des Westens, erneut militärisch einzugreifen. Man werde „nicht helfen, nur mit Geld. Mit dürren Beileidsbekundungen unserer Außenminister“. Wie „Pontius Pilatus nach Jesu Todesurteil“ wasche der Westen seine „Hände in Unschuld“.

Der Spiegel fordert, die Taliban durch eine „militärische Option“ zurück an den Verhandlungstisch zu zwingen. „Internationale Truppen müssten dazu aus der Luft, aber auch zu Boden, einen Schutzwall um Kabul ziehen, die Hauptstadt und die umliegenden Provinzen.“

Besonders aggressiv trommelt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen (CDU), für einen erneuten Kriegseinsatz. Am Mittwoch geißelte er in einem Interview mit dem Deutschlandfunk „die voreilige, verfrühte, unnötige, ohne jede Konsultation mit den Alliierten erfolgte einseitige Entscheidung der USA“, sich aus Afghanistan zurückzuziehen. Nun müsse es darum gehen, der „Offensive der Taliban … etwas entgegenzusetzen“.

Röttgen plädiert für einen massiven Luftkrieg, an dem sich auch die Bundeswehr aktiv beteiligen soll. Die USA hätten bereits „Luftschläge von ihrer Militärbasis in Katar aus intensiviert“ und müssten dies nun noch „intensiver tun“. Deutschland müsse den Einsatz der USA unterstützen. „Ob es Logistik ist, ob es andere Hilfe ist, die sie brauchen, dann sollten wir sagen, selbstverständlich sind wir bereit, die einzusetzen.“

Mit Schaum vor dem Mund fordert Röttgen die Bundesregierung auf, eine Intervention zu erzwingen und dabei die führende Rolle zu übernehmen. Wenn man „eine Niet-Politik“ betreibe und sage, „wir machen nichts“, dann werde „nichts passieren“. Das sei „nicht mehr die Welt des 21. Jahrhunderts, wie Sicherheit für Deutschland organisiert wird, indem die Deutschen sagen, wir machen nichts, aber Erwartungen an andere formulieren“. Diese „Veränderung“ werde Deutschland „hinkriegen, und dann werden wir mal sehen, was die Amerikaner sagen“.

Mit bemerkenswerter Offenheit spricht Röttgen aus, dass es beim Überfall auf Afghanistan und der anschließenden Besatzung nie um Menschenrechte oder Demokratie ging, sondern um imperialistische Interessen.

„Afghanistan zu einer modernen Demokratie zu machen“, das habe „ja nie einer verfolgt“ und sei „wirklicher Unsinn“, gab Röttgen zu Protokoll. Es seien „unsere Interessen, die immer betroffen waren“. Bereits vor 20 Jahren habe Peter Struck, der damalige sozialdemokratische Verteidigungsminister, erklärt, „die Sicherheit Deutschlands wird am Hindukusch verteidigt“. Und genauso sei es. Deutschland könne seine Sicherheit „nicht nur innerhalb unserer Mauern verteidigen, und darum hat man jetzt die Möglichkeit, das zu stoppen, bis der Winter einsetzt“.

Die Gründe für die aggressiven Forderungen nach einer erneuten Kriegsoffensive in Afghanistan liegen auf der Hand. Der Fall von Kundus und zahlreicher anderer Provinzhauptstädte an die Taliban innerhalb weniger Wochen ist nicht nur ein Debakel für Washington, sondern auch für den deutschen Imperialismus.

Nachdem die damalige rot-grüne Bundesregierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und Außenminister Joschka Fischer (Grüne) 2001 entschieden hatte, die US-Invasion zu unterstützen, war der Afghanistan-Einsatz für fast zwei Jahrzehnte der wichtigste Kriegseinsatz der Bundeswehr. Mehrere tausend Bundeswehrsoldaten waren über viele Jahre zeitgleich in Afghanistan stationiert, über 160.000 insgesamt. Der gesamte Einsatz verschlang offiziell etwa zehn Milliarden Euro.

Die Provinz Kundus, die jetzt von den Taliban regelrecht überrannt wurde, befand sich im Regionalkommando Nord der Nato-Mission ISAF und stand damit lange unter Kontrolle Deutschlands. Von Oktober 2003 an unterhielt die Bundeswehr in Kundus ein Feldlager, das sie zehn Jahr später an die afghanischen Streitkräfte übergab.

Landgewinne der Taliban zwischen April 2021 und August (Credit: ASSOCIATED PRESS)

Das Vorrücken der Taliban hat einmal mehr den wirklichen Charakter des Afghanistan-Einsatzes offenbart und die gesamte offizielle Propaganda entlarvt. Die Bundeswehr hat dem Land nicht etwa „Stabilität“ und „Sicherheit“ oder gar „Menschenrechte“ und „Demokratie“ gebracht, sondern Chaos und Krieg. Die Tatsache, dass die Taliban in der Lage sind, das Land im Sturm zurückzuerobern, zeigt, wie verhasst das pro-westliche Regime in Kabul und seine Hintermänner in Washington, Brüssel und Berlin in der afghanischen Bevölkerung sind.

Auch die deutschen Truppen führten von Anfang an einen blutigen Kampfeinsatz. Im strategisch wichtigen Norden führte die Bundeswehr mit der Operation Harekate Yolo im Oktober und November 2007 die erste offensive Militäroperation unter deutschem Kommando seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Kämpfe hatten nicht nur für die Bundeswehr tödliche Konsequenzen (insgesamt 59 Tote Soldaten), sondern vor allem für die einheimische Zivilbevölkerung. So kamen allein bei der Operation Halmazag („Blitz“) im Herbst 2010 laut Recherchen des ARD-Magazins Monitor bis zu 27 Zivilisten ums Leben.

Der fürchterliche Höhepunkt des deutschen Einsatzes war aber zweifellos das „Massaker von Kundus“. Am 4. September befahl der damalige Bundeswehrkommandeur von Kundus, Oberst Georg Klein, den Luftangriff auf zwei Tanklastzüge. Zum Zeitpunkt des Bombardements befanden sich in der Nähe der Laster hunderte Menschen, darunter viele Frauen und Kinder. Nach offiziellen NATO-Angaben wurden im Flammeninferno bis zu 142 Menschen getötet oder verletzt.

Weder Klein noch irgendein anderer verantwortlicher Militär oder Politiker wurden für das Verbrechen zur Rechenschaft gezogen. Im Gegenteil: Klein wurde 2013 sogar zum Brigadegeneral und zum Abteilungsleiter im Personalmanagement befördert, das für die Rekrutierung und Führung von Soldaten zuständig ist. Klagen der Angehörigen der Opfer wiesen deutsche und europäische Gerichte wiederholt ab.

Im Moment ist offen, ob der Traum von Röttgen und Co. von einer erneuten Militärintervention in Afghanistan in Erfüllung geht. Obwohl US-Geheimdienste mittlerweile davon ausgehen, dass auch die Hauptstadt Kabul innerhalb der nächsten 30 bis 90 Tage an die Taliban fallen wird, verteidigte US-Präsident Joe Biden am Dienstag den Abzug der US-Truppen. Die Afghanen müssten nun „selbst um ihren Staat kämpfen“, erklärte er zynisch. Am Donnerstag verkündete das Pentagon dann 3.000 US-Soldaten und Marines nach Afghanistan zu entsenden - mit dem angeblichen Auftrag, die diplomatischen Einrichtungen der USA in Kabul zu sichern und die Evakuierung der amerikanischen Zivilbevölkerung zu organisieren.

Unabhängig davon, ob dies der Fall ist oder ob die Truppen in Wirklichkeit nur die Vorhut für eine neue Militärintervention sind, geht es um eine Verschärfung der katastrophalen Kriegspolitik, die in den letzten drei Jahrzehnten Millionen von Menschen getötet, zig Millionen zu Flüchtlingen gemacht und ganze Gesellschaften zerstört hat. In einer aktuellen Perspektive zur US-Intervention schreiben wir:

Die Debakel, die der ‚Krieg gegen den Terrorismus‘ mit sich brachte, haben das Wachstum des amerikanischen Militarismus keineswegs aufgehalten, sondern nur den Weg für die Verlagerung der globalen US-Strategie auf ‚Großmachtkonflikte‘ geebnet, in erster Linie die Konfrontation mit den Atommächten China und Russland. Der Rückzug aus Afghanistan dient nicht dazu, den längsten Krieg der USA zu beenden, sondern ist vielmehr dazu da, die Ressourcen des Pentagons auf das Südchinesische Meer, Osteuropa und die Ostsee zu verlagern.

Die gleichen grundlegenden Widersprüche des Kapitalismus, die hinter der Explosion des US-Imperialismus stehen und die Gefahr eines dritten Weltkriegs heraufbeschwören, befeuern die deutsche Kriegs- und Großmachtoffensive. Seit August befindet sich mit der „Bayern“ eines der größten deutschen Kriegsschiffe auf dem Weg in den Indo-Pazifik, mit dem erklärten Ziel, in der Region die geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen Berlins durchzusetzen – allen voran gegen die Atommacht China.

Inmitten der Corona-Pandemie schlachtet die herrschende Klasse nun auch den Abzug aus Afghanistan aus, um die Rückkehr des deutschen Militarismus voranzutreiben. Am 31. August plant die Bundesregierung, „das Ende des zwanzigjährigen Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan gesamtstaatlich“ zu würdigen, wie es auf der offiziellen Website des Verteidigungsministeriums heißt. Geplant sind ein Appell im Bendlerblock mit Bundespräsident Steinmeier als Hauptredner und ein Großer Zapfenstreich vor dem Reichstag.

Die Bilder von deutschen Soldaten, die mitten in Berlin mit Waffen und Fackeln aufmarschieren, werden die Opposition gegen Militarismus und Faschismus, die nach zwei Weltkriegen tief in der Bevölkerung verwurzelt ist, weiter befeuern. Diese Opposition braucht eine klare politische Führung und Perspektive. Die SGP kämpft bei den Bundestagswahlen für den Aufbau einer Antikriegsbewegung der internationalen Arbeiterklasse, die darauf abzielt, die Wurzel des Krieges – den Kapitalismus – zu beseitigen und eine globale sozialistische Gesellschaft aufzubauen.

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