Mit der Rückkehr von Millionen Schülern aus den Sommerferien in den kommenden Wochen wächst die Gefahr eines neuen Massensterbens in Deutschland. Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldete am Freitag binnen 24 Stunden 5578 Covid-19-Fälle – die Zahl der Neuinfektionen liegt damit 14 Mal so hoch wie noch Anfang Juli. Kanzleramtsminister Helge Braun hatte zuletzt 100.000 Neuinfektionen pro Tag als „nicht unrealistisch“ bezeichnet.
Auch die Zahl der Covid-Patienten auf Intensivstation steigt bereits wieder an, sagte Gernot Marx, Präsident des Intensivmediziner-Verbands DIVI, am Freitagmorgen der Presse. In den vergangenen sieben Tagen sind allein in Deutschland 99 weitere Menschen der Pandemie zum Opfer gefallen. Die Sieben-Tage-Inzidenz stieg von 27,6 am Donnerstag auf 30,1 am Freitag. Vor einer Woche hatte sie noch bei 20,4 gelegen.
Am dramatischsten ist die Ausbreitung von Covid-19 unter jungen Erwachsenen und Kindern. Laut RKI wies in der letzten Woche die Gruppe der 15- bis 24-Jährigen mit einem Wert von etwa 60 die höchsten Sieben-Tage-Inzidenzen auf. Auch bei den größtenteils ungeimpften Kindern war der Anstieg innerhalb der letzten Woche explosiv.
Vor diesem Hintergrund kommen die Beschlüsse des Bund-Länder-Gipfels vom Dienstag einem politischen Verbrechen gleich. Während sich die hochansteckende Delta-Variante in Fabriken, Büros und mit dem Ende der Sommerferien in den Schulen weiter ausbreitet, werden die verbleibenden Infektionsschutzmaßnahmen systematisch beseitigt, das öffentlich-private Netz von Schnelltest- und Impfstationen weitgehend liquidiert und künftige Shutdowns um jeden Preis ausgeschlossen.
Das Beschlusspapier sieht unter anderem vor, Großevents und Fußballspiele mit bis zu 25.000 Teilnehmern zu genehmigen und für Geimpfte und Genesene auch bei Rückkehr aus einem „Hochrisikogebiet“ keine Quarantäne zu verordnen. Unter der Maxime „getestet – geimpft – genesen“ (3G) soll die Inzidenz zugleich als Leitindikator des Infektionsgeschehens in den Hintergrund rücken, während Freizeit- und Innenraumaktivitäten grundsätzlich wieder aufgenommen werden.
Die bereits völlig unzureichende „3G“-Regel kann darüber hinaus von den Ländern nach Belieben außer Kraft gesetzt werden, wenn „das Indikatorensystem eines Landes“ ein „niedriges Infektionsgeschehen widerspiegelt“ und ein Anstieg der Infektionszahlen „durch die Aussetzung der Regelungen nicht zu erwarten“ ist. Anstelle der Inzidenz soll demnach zunehmend die Hospitalisierungsrate beachtet werden – eine Forderung, die seit Langem von extrem rechten Durchseuchungsbefürwortern erhoben wurde.
Ab dem 11. Oktober sollen kostenlose Schnelltests im öffentlichen Raum für die meisten Erwachsenen nur noch gegen Bezahlung angeboten werden – unabhängig vom Impfstatus. Jeder, der sich nach diesem Datum aus Eigeninitiative auf das Coronavirus testen lassen möchte – beispielsweise, um das Risiko eines Treffens mit Angehörigen zu verringern –, soll dann zwischen 18 und 40 Euro für einen Antigen-Schnelltest und je nach Anbieter über 130 Euro für einen PCR-Test zahlen.
Bei wachsender Nachfrage infolge steigender Inzidenzen könnten sich die Preise sogar noch vervielfachen. Einem Bericht des MDR zufolge gibt es aufgrund von „marktwirtschaftlichen Betrachtungen“ schlicht „keine obere Preisgrenze“ für private Testungen.
Die Behauptung der Regierung, dass dieser Schritt dazu diene, eine angeblich weitverbreitete „Impfunwilligkeit“ unter den bislang ungeimpften Bevölkerungsschichten zu bekämpfen, ist gleich in mehrfacher Hinsicht eine Lüge. In Wirklichkeit werden Arbeiter – wie seit Beginn der Pandemie – vor die Wahl gestellt, zwischen ihrer Gesundheit und ihrem Einkommen zu wählen.
Erstens zeigt eine repräsentative Erhebung des ARD-Deutschlandtrends, dass 83 Prozent der Bevölkerung – d.h. 20 Prozentpunkte mehr als der Anteil der bislang Geimpften – sich „auf jeden Fall“ impfen lassen wollen oder bereits geimpft wurden. Die im Vergleich zum Mai um weitere 8 Prozentpunkte angestiegene Zahl legt nahe, dass mindestens jeder Fünfte noch nicht geimpft wurde, obwohl er oder sie dies wünscht.
Zweitens werden neben den Bürgertestzentren – die sich angesichts relativ niedriger Inzidenz und gestiegener Impfraten „nicht mehr rechnen“ – auch Impfzentren derzeit geschlossen, obwohl die Delta-Variante nach Ansicht von Experten eine Auffrischimpfung nötig machen könnte.
Bereits vor dem Auslaufen der Bundesfinanzierung der Impfzentren am 30. September werden in acht Bundesländern gegenwärtig Impfzentren abgewickelt. Dies betrifft die zentrale Impfeinrichtung in Hamburg, sämtliche Impfzentren in Hessen (28) und Baden-Württemberg (8), vier Impfzentren in Berlin, zwei in Bayern und drei von vier Zentren in Thüringen.
Drittens ist längst erwiesen, dass die Delta-Variante auch Geimpfte befallen und bei ihnen neben schweren Langzeit- und Spätfolgen auch eine akute Erkrankung bis hin zum Tod auslösen kann. Dies hat zuletzt eine Studie der israelischen Uniklinik Samson Assuta Ashdod gezeigt, ebenso wie der Anstieg der Hospitalisierungen in Großbritannien. Die Zahl der täglichen Klinikeinweisungen hatte sich dort im Zuge der brutalen Öffnungspolitik der Johnson-Regierung innerhalb von kaum mehr als zwei Wochen von 390 auf 800 verdoppelt.
In den Vereinigten Staaten berichteten in den letzten Tagen und Wochen führende Mediziner aus dem ganzen Land von völlig überwältigten Kinderkliniken – ebenfalls ein Ergebnis der Back-to-School-Politik der Biden-Regierung. Allein am letzten Samstag mussten in den USA landesweit 259 Kinder wegen Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert werden, wodurch die Zahl der mit Corona hospitalisierten Kinder auf 1450 anstieg.
Die deutsche Regierung steuert auf dasselbe Szenario zu. Während sich Bund und Länder anschicken, die Test- und Impfeinrichtungen zu beseitigen, sollen im Verlauf der nächsten Wochen Millionen ungeimpfte Schüler zurück in den Präsenzunterricht geschickt werden, wo sie einer Infektion mit der Delta-Variante weitgehend schutzlos ausgesetzt sein werden.
Die herrschende Klasse weiß ganz genau, dass sie Kinder und ihre Angehörigen damit in Lebensgefahr bringt. Sie ist nicht nur mit den öffentlich einsehbaren internationalen Studien vertraut, sondern hat jüngst eigene Untersuchungen des Infektionsgeschehens an Schulen in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse von der Kultusministerkonferenz (KMK) unter Verschluss gehalten werden.
Hinzu kommen die kaum erforschten Gefahren durch Long Covid und mögliche schwere Spätfolgen einer Covid-Erkrankung. Erst vor wenigen Tagen hat eine deutschlandweite Langzeitstudie der AOK ergeben, dass über ein Viertel der stationär behandelten Covid-19-Erkrankten später erneut im Krankenhaus behandelt werden musste. Dabei handelte es sich in 36 Prozent der Fälle um Atmungsprobleme und in 29 Prozent um neurologische Störungen.
Eine interaktive Grafik der Berliner Morgenpost, die die Inzidenzverläufe nach Altersgruppen und Bundesländern aufschlüsselt, zeigt, dass die Sieben-Tage-Inzidenz in der Gruppe der 5- bis 14-Jährigen zwischen dem 20. April (dem Höhepunkt der „dritten Welle“) und dem Beginn der Sommerferien durchgehend am höchsten gewesen ist. Internationale Studien haben immer wieder belegt, dass sich das Virus bei einem hohen Infektionsgeschehen unter Kindern über „Ansteckungen im Haushalt“ rasch auf andere Altersgruppen ausbreitet.
Trotzdem sollen die Schulen in allen Bundesländern in vollem Präsenzunterricht und ohne Kohortenbildung geöffnet werden, um die Arbeitskraft der Eltern verfügbar zu machen und so die Profitinteressen der deutschen Wirtschaft zu sichern.
Brandenburgs Bildungsministerin Britta Ernst (SPD) – die zugleich Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) und Ehefrau des Bundesfinanzministers ist – hatte bereits im Juni gefordert, die Schulen nach den Ferien unabhängig vom Impfstatus der Kinder und ihrer Angehörigen „in voller Präsenz“ zu öffnen. Mit dem KMK-Beschluss vom 6. August übernahmen alle 16 Kultusminister der Länder diese Forderung.
Im Kampf um die Sicherheit ihrer Schutzbefohlenen sind Lehrer und Eltern mit einer geschlossenen Front von Politikern, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften konfrontiert.
In den nördlichen Bundesländern, die ihre Schulen bereits in der vergangenen Woche wieder vollständig geöffnet haben, liegt die Inzidenz unter den 5- bis 14-jährigen Kindern schon bei 39 (Mecklenburg-Vorpommern), 148 (Schleswig-Holstein) und 211 (Hamburg). In Schleswig-Holsteins Landeshauptstadt Kiel beträgt sie sogar 391. Dort haben sich laut Informationen des RKI allein in der letzten Woche 60 Kinder aus dieser Altersgruppe infiziert. In Mecklenburg-Vorpommern soll trotz steigender Zahlen am Montag auch die Maskenpflicht an Schulen fallen.
In Baden-Württemberg wird die Sieben-Tage-Inzidenz bereits ab nächsten Montag „keine Rolle“ mehr in der offiziellen Corona-Politik des Landes spielen. Dem „Indikatorensystem“ der grün-geführten Landesregierung zufolge sollen die öffentlichen Pandemiemaßnahmen erst wieder angezogen werden, wenn sich die Krankenhäuser erneut füllen. Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) plant, zu Schulbeginn am 13. September trotz fehlender Luftfilter die bisherige Kohortenbildung fallen zu lassen, gefolgt von der Abschaffung von Schnelltests und Masken zwei Wochen später.
Bereits im Juni hatte Schopper gegenüber der wirtschaftsnahen Zeitung Welt erklärt: „Delta wird sich in den Schulen breitmachen, da muss man sich nichts vormachen.“ Um die drohende Erkrankung zu überstehen, bräuchten Kinder und Jugendliche jedoch lediglich „ein Packen Taschentücher“, so die Ministerin. Schopper verschärft damit dieselbe Politik des Todes, für die ihre Amtsvorgängerin Susanne Eisenmann (CDU) im März bei den Landtagswahlen abgestraft worden war.
Die Durchseuchungspolitik der Grünen wird nur von der Linkspartei übertroffen. Im links-geführten Thüringen ist seit dem 1. Juli eine Corona-Verordnung in Kraft, die keinerlei allgemeine Verbote und Schließungen mehr vorsieht. Kontaktbeschränkungen und Testpflicht von Schülern sind seitdem vollständig beseitigt. Bis Ende des Monats sind auch Großveranstaltungen mit mehr als 500 Personen in geschlossenen Räumen und mehr als 1000 Personen im Freien mit Genehmigung des „linken“ Gesundheitsministeriums wieder erlaubt.
Für den Schulbeginn am 6. September plant Thüringens Bildungsminister Helmut Holter (ebenfalls Linkspartei) darüber hinaus auch die Abschaffung der Maskenpflicht und die vollständige Verbannung von Corona-Tests aus den Schulen. Die thüringische Landesregierung – deren Oberhaupt Bodo Ramelow aufgrund eines „Urlaubs in den Tiroler Alpen“ nicht am Bund-Länder-Gipfel teilnahm – ließ im Beschlusspapier explizit festhalten, dass „die Erteilung von Unterricht in Präsenz und das Offenhalten von Schulen höchste Priorität“ hätten.
Dies fordert auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), deren neue Vorsitzende Maike Finnern bereits im Juni gegenüber dem Nachrichtenmagazin Spiegel erklärte, es sei „nicht noch einmal vorstellbar“, die Schulen wieder über einen längeren Zeitraum hinweg zu schließen.
Obwohl sie „ziemlich sicher“ sei, „dass nicht alle Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern bis zum Schuljahresbeginn geimpft sein würden“, müsse das Ziel lauten, dass „es im kommenden Winter einen verlässlicheren Betrieb gibt“. Finnern, die in die Fußspuren der langjährigen GEW-Präsidentin Marlis Tepe tritt, hat zuvor als Landeschefin der GEW in Nordrhein-Westfalen eine Schlüsselrolle dabei gespielt, die Spar- und Durchseuchungspolitik der Laschet-Regierung und ihrer verhassten Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP) gegen den Widerstand von Eltern und Lehrern durchzusetzen.
Hinter der Weigerung sämtlicher Parteien, das Leben und die Gesundheit der Kinder zu schützen, stehen die Interessen des deutschen Imperialismus, der keine Eingriffe in seine Profitmaschinerie duldet. Am Vorabend des Gipfels warnte das „Institut der Deutschen Wirtschaft“ – ein pseudowissenschaftlicher Thinktank der Arbeitgeberverbände – die Regierung, dass „selbst ein leichter Lockdown“ die deutschen Kapitalisten „zehn Milliarden Euro“ kosten würde.