Über sieben Millionen Menschen arbeiten in Deutschland in prekären Arbeitsverhältnissen

Etwa sieben Millionen Menschen arbeiten in Deutschland in „atypischen” Beschäftigungsverhältnissen. Das sind knapp 21 Prozent der 33,4 Millionen abhängig Beschäftigten. Die Zahlen sind das Ergebnis einer Sonderauswertung des Mikrozensus 2020 durch das Statistische Bundesamt, die auf Antrag der Linken-Fraktion im Bundestag erfolgte.

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Zu den „atypischen” Beschäftigungsverhältnissen zählt das Statistische Bundesamt Leih- und Zeitarbeit, geringfügige Beschäftigung wie Minijobs, Teilzeitbeschäftigte mit Arbeitsverträgen unter 20 Wochenstunden sowie befristete Arbeitsverhältnisse. Diese Arbeitsverhältnisse gehören fast alle zum Niedriglohnbereich. Das erzielte Einkommen reicht kaum zum Überleben. Dazu kommt die Unsicherheit, ob befristete Arbeitsverträge verlängert werden oder nicht. Eine mittel- und langfristige Lebensplanung ist nicht möglich.

Rechnet man die 4,5 Millionen Teilzeit-Beschäftigten mit mehr als 20 Wochenstunden dazu – die das Statistische Bundesamt nicht zu den „atypisch” Beschäftigten zählt – arbeiten 11,5 Millionen Arbeiter und Arbeiterinnen nicht in sogenannten Normalarbeitsverhältnissen oder Vollzeitstellen. Damit ist jeder Dritte von Teilzeit- und prekärer Arbeit betroffen, weit mehr als bisher vermutet.

Das Anwachsen des prekären Arbeitssektors in Deutschland zu einem der größten in Europa wurde vor allem durch die Hartz-Gesetze der rot-grünen Regierung Schröder stark vorangetrieben. Das hat zu einem massiven Anwachsen der sozialen Ungleichheit geführt.

Weitere Untersuchungen zeigen die starke Konzentration des Niedriglohnsektors in verschiedenen Regionen. Eine aktuelle Publikation des DGB-Bezirks Berlin-Brandenburg illustriert das Ausmaß des Niedriglohnsektors in der Hauptstadtregion. Sie basiert auf einer Sonderauswertung des sozio-ökonomischen Panels (SOEP) und umfasst die Jahre 2017 bis 2019.

In dieser Zeit arbeiteten in Berlin durchschnittlich 375.000 Menschen im Niedriglohnsektor, 24,3 Prozent aller abhängig Beschäftigten. In Brandenburg waren es etwa 280.000, ein Anteil von 27,7 Prozent. Der Stundenlohn lag in diesem Bereich unter 11,13 Euro, das sind weniger als zwei Drittel des mittleren Bruttostundenlohns und wenig mehr als der Mindestlohn von 9,60 Euro.

Die Auswertung zeigt auch, dass Beschäftigte mit Migrationshintergrund überproportional von Niedriglohnarbeit betroffen sind. In Berlin sind das 30,5 Prozent, in Brandenburg 65,4 Prozent. An- und Ungelernte sind in Berlin mit 50,4 Prozent und in Brandenburg mit 73,2 Prozent betroffen. Minijobber sind in Berlin mit 85,2 Prozent und in Brandenburg mit 90,9 Prozent überdurchschnittlich stark von Niedriglöhnen betroffen. Ähnliche Verhältnisse herrschen in anderen Regionen mit hoher sozialer Ungleichheit.

Die Gewerkschaften tragen eine maßgebliche Mitverantwortung für die Entwicklung dieses riesigen Niedriglohnbereichs. Sie saßen und sitzen in allen Kommissionen, die diese Art von unsicherer Beschäftigung und den niedrigen Mindestlohn hervorgebracht haben. Große Konzerne und Unternehmen nutzen die Ausgliederung von Tätigkeiten an Subunternehmen oder Leiharbeitsfirmen, um die Löhne und Arbeitsbedingungen für Tausende zu senken, die früher regulär beschäftigt wurden.

Zu den Branchen mit den meisten Niedriglohnbeschäftigten gehören der Einzelhandel mit einem Anteil von 16,1 Prozent im Jahr 2019, die Gastronomie mit 9,2 Prozent, die Gebäudebetreuung mit 9,1 Prozent, das Gesundheitswesen mit 8,5 Prozent und der Bereich Erziehung und Unterricht mit 4,8 Prozent. Die Zahlen basieren auf einer Studie des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ-Report 2021-06), über die der Tagesspiegel Anfang September berichtete.

Arbeiterinnen und Arbeiter im Niedriglohnbereich sind besonders stark von der Ansteckungsgefahr mit Covid-19 betroffen. Unsichere Arbeitsplätze und beengte Wohnverhältnisse tragen dazu bei. Gleichzeitig leiden sie auch überproportional an Pandemie-bedingtem Arbeitsplatzverlust und Einkommenseinbußen. Die hohe Zahl von Beschäftigten in atypischen Arbeitsverhältnissen ist auch ein Hauptgrund für den Anstieg der Altersarmut bei Rentnerinnen und Rentnern.

Gleichzeitig konzentriert sich der Reichtum an der Spitze der Gesellschaft. Das reichste Prozent der Bevölkerung besitzt gleich viel wie die ärmsten 75 Prozent. Während der Reichtum an der Spitze durch die milliardenschweren Corona-Programme der EZB und der Bundesregierung enorm angewachsen ist, ist für die Bedürfnisse der Arbeiterklasse und der Armen angeblich kein Geld da. Im Gegenteil: aus ihnen soll das Geld, das den Reichen in den Rachen geschmissen wurde, durch verstärkte Ausbeutung wieder herausgepresst werden.

Ein Indikator für den obszönen Reichtum an der Spitze ist der jüngste Wealth-X-Report. Es heißt dort, dass die globale Covid-19-Pandemie zu einer nie zuvor gesehenen Anhäufung von Reichtum unter den privilegiertesten Schichten der Gesellschaft geführt hat. Die weltweite Zahl der Dollar-Milliardäre ist 2020 erstmals über 3000 gestiegen. Ihr durchschnittliches Vermögen liegt bei 1,9 Milliarden, ihr Gesamtreichtum bei 10 Billionen, ein Zuwachs von 5,7 Prozent seit 2019.

„Im Gesamten betrachtet hat die globale Pandemie dem Reichtum der Milliardäre einen unerwarteten Gewinn gebracht, verstärkt durch die Flut von finanziellen Anreizen und anschwellenden Profiten in Schlüsselbereichen der Wirtschaft, die eine neue Welle von jüngeren, selbstgemachten Milliardären hervorbrachte,” heißt es in dem Bericht.

An erster Stelle beim Anstieg der Milliardäre stehen die USA, an zweiter Stelle folgt China und an dritter Stelle Deutschland. Hier ist die Zahl der Milliardäre im Pandemiejahr 2020 um 13,7 Prozent auf 174 angestiegen und ihr Gesamtvermögen auf 515 Milliarden Dollar gewachsen.

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