WHO warnt vor 500.000 zusätzlichen Covid-19-Toten in Europa bis Februar

Der Regionaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Europa, Hans Kluge, sprach am Donnerstag in einer Pressekonferenz eine nachdrückliche Warnung aus: Europa und die ehemaligen Sowjetrepubliken sind jetzt das Epizentrum der Pandemie. Laut Kluge könnten in den nächsten drei Monaten weitere 500.000 Menschen in Europa an Covid-19 sterben – zusätzlich zu den bereits 1,4 Millionen Todesopfern.

Menschen warten im kroatischen Zagreb am 4. November 2021 auf ihre Impfung gegen Covid-19. In ganz Mittel- und Osteuropa wurde am Donnerstag ein starker Anstieg der Neuinfektionen gemeldet. Mehrere Länder in Regionen mit unterdurchschnittlich niedrigen Impfquoten verzeichneten Tagesrekorde. (AP Photo/Darko Bandic)

Er erklärte: „Heute sind alle Länder Europas und Zentralasiens mit der realen Gefahr eines Wiederauflebens von Covid-19 bedroht oder kämpfen bereits dagegen. ... Das derzeitige Tempo der Virusübertragung in den 53 Staaten der Region Europa ist sehr besorgniserregend. Die Zahl der Covid-19-Fälle erreicht wieder Rekordniveau. Die leichter übertragbare Delta-Variante dominiert weiterhin bei den Übertragungen in ganz Europa und Zentralasien.

Letzte Woche gab es mehr als 1,9 Millionen neue Fälle und 24.000 registrierte Tote. In Europa und Zentralasien stiegen die Fallzahlen im Vergleich zur Vorwoche um mehr als 6 bzw. 12 Prozent an. In den letzten fünf Wochen ist die Zahl der Covid-19-Fälle in Europa um mehr als 55 Prozent gestiegen. Letzte Woche entfielen auf Europa und Zentralasien 59 Prozent aller Fälle weltweit und 48 Prozent aller registrierten Todesfälle.“

Kluge erklärte: „Laut einer zuverlässigen Prognose könnte es in Europa bis Februar nächsten Jahres mehr als eine halbe Million Todesfälle durch Covid-19 geben. 43 Staaten der Region droht im gleichen Zeitraum eine hohe oder extreme Auslastung der Krankenhausplätze.“

In Osteuropa, wo die Impfquoten besonders niedrig liegen, sind auch die Todesraten erschütternd. In Russland starben in den letzten sieben Tagen 8.000 Menschen und in der Ukraine 3.800. In Rumänien, einem Land mit weniger als 20 Millionen Einwohnern, starben 3.000 Menschen. Lettland, das weniger als zwei Millionen Einwohner hat, registriert pro Woche etwa 250 Tote, was etwa 43.000 Toten pro Woche in einem Land von der Größe der USA entspricht. Litauen, mit 2,7 Millionen Einwohnern, verzeichnete in der vergangenen Woche mehr als 250 Tote.

In Großbritannien starben in der letzten Woche mehr als 1.000 Menschen und in Deutschland sowie Polen je 600. In Frankreich, Italien, Griechenland, Ungarn und Serbien werden wöchentlich mehr als 200 Todesfälle gemeldet.

Die letzte kumulative 14-Tage-Melderate der WHO für Covid-19-Fälle in Europa, die am Donnerstag veröffentlicht wurde, zeigt, dass ein Großteil von Ost- und Nordeuropa entweder rot oder dunkelrot gekennzeichnet ist, d.h. die Inzidenz liegt bei über 200 oder über 500 Fällen pro 100.000 Menschen. Dunkelrot ist die höchste Dringlichkeitsstufe.

Die kumulative 14-Tage-Melderate für Covid-19-Fälle der WHO für Europa, aktualisiert am 4. November. Die dunkelroten Bereiche zeigen mit über 500 Fällen pro 100.000 Einwohnern die höchste Dringlichkeitsstufe an.

Die Zahl der Krankenhauseinweisungen in Europa hat sich in der letzten Woche mehr als verdoppelt. Kluge erklärte: „Am besorgniserregendsten ist der rapide Anstieg unter den älteren Menschen seit Kalenderwoche 38 [vor vier Wochen]. Das bedeutet schwerere Erkrankungen und mehr Todesfälle.“

Schon bevor auf der Nordhalbkugel der Winter beginnt, der typischerweise die tödlichste Zeit in Bezug auf Covid-19 ist, verzeichnet Europa mehr als 250.000 bestätigte Fälle und 3.000 bis 4.000 Todesfälle pro Tag. Diese Zahlen steigen rapide, weil die Menschen wegen des kalten Wetters eher in geschlossenen Räumen zusammenkommen, wo das Virus leichter übertragen wird. Zudem ist die Welle in Europa vermutlich erst der Beginn einer Welle, die sich im Winter auf die ganze Nordhalbkugel ausdehnen wird.

Kluge drängte die Gesundheitsbehörden zu sofortigem Handeln, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen und einen weiteren tödlichen Winter zu verhindern. Von November 2020 bis April 2021 war die Gesamtzahl der Toten durch Covid-19 in Europa von weniger als 300.000 auf über eine Million angestiegen. Kluge erklärte: „Europa ist, genau wie vor einem Jahr, erneut das Epizentrum der Pandemie. Der Unterschied ist, dass wir heute mehr wissen und mehr tun können.

Wir müssen unsere Taktik ändern. Statt auf Covid-19-Wellen zu reagieren, müssen wir verhindern, dass sie überhaupt entstehen. ... Angesichts des weit verbreiteten Auflebens von Covid-19 bitte ich alle Gesundheitsbehörden, die Lockerung oder Aufhebung von Maßnahmen jetzt sorgfältig zu überdenken ... Letzten Endes können wir diese Pandemie nur beenden, wenn Politiker, Wissenschaftler und die Öffentlichkeit zusammenarbeiten.“

Die Maßnahmen, die die Pandemie beenden können – eine Mischung aus Lockdowns, Kontaktverfolgung, Impfungen und anderen Maßnahmen im öffentlichen Gesundheitswesen zur Eliminierung der Ausbreitung – sind bekannt. Mehrere Länder im asiatischen Pazifikraum, darunter China, Neuseeland und Vietnam, haben das Virus auf ihrem Staatsgebiet monate- oder sogar jahrelang erfolgreich eliminiert. Wenn diese Maßnahmen in globalem Maßstab angewendet werden, könnten sie die Übertragung des Virus beenden.

Kluges Appelle fallen jedoch auf taube Ohren. Als die Pandemie im letzten Frühjahr in Europa ankam, mussten die kapitalistischen Regierungen in einem Großteil des Kontinents strenge Lockdown-Maßnahmen umsetzen. Eine Streikwelle in wichtigen Industriebetrieben breitete sich von Italien auf einen Großteil Europas aus, und die Arbeiter in nicht systemrelevanten Branchen forderten das Recht, zum eigenen Schutz zu Hause zu bleiben. Die strengen Lockdowns brachten die Fallzahlen zwar auf ein niedriges Niveau, wurden jedoch zu früh aufgehoben, während das Virus weiterhin zirkulierte und die Kontaktverfolgung noch nicht etabliert war.

Um die Arbeiter in den Betrieben und die Kinder und Jugendlichen in den Schulen zu halten und einen stetigen Profitfluss an die Banken zu gewährleisten, haben die europäischen Regierungen seither eine politisch kriminelle Politik der anhaltenden Verbreitung des Virus umgesetzt. Was sich jetzt in Europa abspielt, ist eine Politik des sozialen Mords. Nachdem die Infektionen im Frühjahr und Sommer 2021 durch Impfungen und wärmeres Wetter zurückgingen, bahnt sich jetzt eine neue und noch größere Welle an.

Die Zahl der Todesfälle und Neuinfektionen steigt schneller als vor einem Jahr, obwohl in Europa Hunderte Millionen Menschen geimpft sind. Während im letzten Jahr die Zahl der Toten vom 18. Oktober bis zum 11. November um 50.000 anstieg (von 250.000 auf 300.000), wird die Zahl der Toten dieses Jahr im gleichen Zeitraum um Zehntausende höher liegen.

Europäische Regierungsvertreter behaupten weiterhin, Impfungen seien der einzige Weg, die Pandemie zu stoppen, obwohl sie gleichzeitig ungeimpfte Kinder in die Schulen und Arbeiter in die Betriebe schicken und die Zahl der Infektionen und Todesfälle in die Höhe schießt. In Frankreich, wo die Zahl der Neuinfektionen pro Tag gerade auf über 10.000 gestiegen ist, erklärte Gesundheitsminister Olivier Véran vor Kurzem in der Zeitschrift Libération, er mache sich aufgrund der Impfungen weniger Sorgen um den Anstieg der Fallzahlen.

Er erklärte: „Wir beobachten das natürlich sehr aufmerksam. Diesen Anstieg gibt es in ganz Europa, und er überrascht nicht, weil die Klimabedingungen bekanntlich die Ausbreitung von Atemwegsviren begünstigen. Wir wissen jedoch, dass die Impfungen die Korrelation zwischen der Zahl der Infektionen und derjenigen der ernsten Fälle und Hospitalisierungen oder Todesfälle deutlich verringert hat. Deswegen beobachte ich heute sorgfältig – jenseits der Ausbreitung des Virus und der Inzidenzraten – vor allem den Druck auf die Krankenhäuser als grundlegenden Indikator.“

In Großbritannien, dessen Premierminister Boris Johnson geäußert hat, er wolle „keine verdammten Lockdowns mehr, und wenn sich die Leichen zu Tausenden auftürmen!“, behauptet die Regierung, sie werde erst weitere Maßnahmen ergreifen, wenn die Zahl der Todesfälle durch Covid-19 1.000 pro Woche bzw. 52.000 pro Jahr überschreitet. Diese Zahl wurde bereits erreicht, aber die Regierung schlägt noch immer keine nennenswerten neuen Maßnahmen für die öffentliche Gesundheit vor.

In Deutschland, wo die Zahl der Neuinfektionen auf über 35.000 pro Tag gestiegen sind, hat Gesundheitsminister Jens Spahn vor Kurzem angekündigt, dass die Regierung die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ beenden wird, die die juristische Grundlage für Maßnahmen gegen Covid-19 bildete. In Spanien wurde von Gerichten wiederholt entschieden, dass die letztes Jahr verhängten Lockdowns zur Eindämmung der Pandemie illegal waren.

Wie Wissenschaftler in Webinaren des Internationalen Komitees der Vierten Internationale deutlich gemacht haben, ist die Eliminierung des Coronavirus ein realistisches und durchführbares Vorhaben. Um einen gigantischen Verlust an Menschenleben zu verhindern, muss eine bewusste internationale Bewegung der europäischen Arbeiterklasse gegen die kapitalistischen Regierungen mobilisiert werden, die bewusst für die Eliminierung des Virus und für den Sozialismus kämpft.

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