Am Montagmorgen stellte der designierte Kanzler Olaf Scholz die zukünftigen Ministerinnen und Minister seiner Partei der Presse vor. Die SPD besetzt im neuen Kabinett neben dem Kanzleramt sieben Ministerposten. Mit großer Spannung war angesichts der Eskalation der Corona-Pandemie der Name des Gesundheitsministers erwartet worden.
Scholz hat sich für den SPD-Abgeordneten und Gesundheitsexperten Karl Lauterbach entschieden. Lauterbach, ein ausgebildeter Arzt, Experte für Epidemiologie und Professor für Gesundheitsökonomie, hat es zu einer gewissen Popularität gebracht, weil er in zahlreichen öffentlichen Auftritten immer wieder vor den verheerenden Folgen der Pandemie warnte – Warnungen, die sich in der Regel bewahrheiteten.
Mit seiner Ernennung, die lange Zeit umstritten war, reagierte Scholz offenbar auf den wachsenden Druck der Bevölkerung. Insbesondere unter dem Pflegepersonal, Eltern und Lehrern wächst die Wut über eine Politik, die das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung den Interessen und Profiten der Wirtschaft unterordnet. Mit Lauterbach als Gesundheitsminister hofft der zukünftige Kanzler nun, diese Stimmung auffangen zu können, ohne seine wirtschaftsfreundliche Politik zu ändern.
Scholz stellte Lauterbach mit den Worten vor: „Bestimmt haben sich die meisten Bürger dieses Landes gewünscht, dass der nächste Gesundheitsminister vom Fach ist, dass er das wirklich gut kann – und dass er Karl Lauterbach heißt.“ Und Kevin Kühnert, der designierte SPD-Generalsekretär, schrieb auf Twitter: „Nikolaus ist, wenn Wünsche erfüllt werden. Ihr wolltet ihn – ihr kriegt ihn.“
Der frischgebackene Gesundheitsminister sprang während der SPD-Pressekonferenz aus den Kulissen und gab sofort mehrere Versprechen ab. In den nächsten Wochen werde die Absenkung der Corona-Fallzahlen im Vordergrund stehen, „und zwar so stark, dass wir, ohne Menschen zu gefährden, das Reisen empfehlen können“. Weiter versprach er: „Wir werden das Gesundheitssystem stärken (…) Mit uns wird es keine Leistungskürzungen im Gesundheitswesen mehr geben.“
Wer Lauterbach etwas genauer kennt, weiß, wie wenig begründet das Vertrauen in ihn ist. Die Ampel-Koalition benötigt ihn als Feigenblatt für eine Politik, die in ihren tödlichen Folgen noch weiter geht als die der alten Regierung.
Als Minister unterliegt Lauterbach der Kabinettsdisziplin, und dieses hat bereits gezeigt, wo es in der Pandemiefrage steht. Der erste Beschluss der Ampelmehrheit im neuen Bundestag bestand darin, die „Epidemische Notlage nationaler Tragweite“ außer Kraft zu setzen. Auch Lauterbach hat für diese Entscheidung gestimmt und sie mit dem Argument gerechtfertigt, sie sei „juristisch geboten“. Der zukünftige Justizminister Marco Buschmann (FDP) jubelte bei der Beendigung der epidemischen Notlage, fortan seien Schulschließungen und Lockdowns nicht mehr möglich.
Zudem liegt der Haushalt der kommenden Regierung in den Händen der FDP. FDP-Chef Christian Lindner wird als Finanzminister den Daumen draufhalten und dafür sorgen, dass keine weiteren Gelder in den Gesundheitssektor fließen. In ihrem Koalitionsvertrag haben sich die Ampel-Koalitionäre darauf verpflichtet, die Schuldenbremse zu reaktivieren.
Lauterbach selbst ist ein rechter Sozialdemokrat, bei dem die Profitinteressen des Kapitals im Zweifelsfall stets den Ausschlag gegenüber seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen gaben. Er trat der SPD erst 2001 bei. Zuvor war er Mitglied der CDU gewesen, zu deren Politikern er weiterhin enge Beziehungen unterhält. U.a. ist er mit dem CDU-Rechten Wolfgang Bosbach befreundet.
Zu den ersten Gratulanten nach seiner Ernennung zählte Markus Söder, der bayrische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende. Er schrieb auf Twitter: „Das ist eine gute Wahl. Gratuliere #Karl Lauterbach! Freue mich auf gute Zusammenarbeit in ernsten Zeiten.“ Schon am Vorabend hatte Söder in der ARD-Sendung „Anne Will“ erklärt, Lauterbach würde einen guten Gesundheitsminister abgeben, und er habe oft ähnliche Positionen wie er selbst. Auch der bisherige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gratulierte sofort. Spahn hatte sich mit Lauterbach schon seit Monaten regelmäßig ausgetauscht.
Lauterbach spielte in den Jahren der rot-grünen Bundesregierung und danach eine wichtige Rolle bei der Zerschlagung der paritätischen Sozialsysteme und der Privatisierung von Teilen des Gesundheitssystems. Er war Mitglied des „Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen“ und der sogenannten Rürup-Kommission (Kommission zur Untersuchung der Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme), die mehrere Regierungen beriet. Dabei war er an der Ausarbeitung des Fallpauschalen-Systems beteiligt, dass maßgeblich zum Niedergang der Krankenhäuser beitrug.
Was von seiner Behauptung zu halten ist, er sei ein Kämpfer gegen eine Zwei-Klassen-Medizin, zeigt seine Tätigkeit im Aufsichtsrat der Rhön-Klinikum AG von 2001 bis 2013. Die börsennotierte Betreibergesellschaft von 54 Krankenhäusern und 35 Medizinischen Versorgungszentren erwirtschaftete 2009 einen Umsatz von 2,32 Mrd. Euro. Als Medien aufdeckten, dass Mitarbeiter des Rhön-Konzerns miserabel bezahlt werden und eine extreme Ausbeutung stattfindet, hüllte sich Lauterbach in Schweigen.
Als die Bertelsmann-Stiftung vor zwei Jahren forderte, jede zweite Klinik in Deutschland zu schließen, unterstützte Lauterbach sie dabei. Am 4. Juni 2019 twitterte er: „Jeder weiß, dass wir in Deutschland mindestens jede dritte, eigentlich jede zweite, Klinik schließen sollten.“
Seit dem Wahlsieg der SPD hat Lauterbach seine Kritik an der Pandemiepolitik der Regierung merklich gedämpft. Ein Schlüsselerlebnis für Eltern und Erzieher war sein Auftreten für offene Schulen nach den Herbstferien. Als Mitte November die Schulen auf Verlangen der Wirtschaft überall weit offenstanden und die Infektionszahlen in die Höhe schossen, verkündete er: „Wir werden es schaffen, die Schulen offenzuhalten“, und fiel damit Elterninitiativen und Lehrkräften in den Rücken.
Wenn er heute verspricht, „keine weiteren Kürzungen im Pflegebereich mehr“ zuzulassen, wäre selbst die Erfüllung dieses Versprechens – so unwahrscheinlich sie ist – vollkommen inakzeptabel. Schon jetzt herrscht im Land der absolute Pflegenotstand, die Intensivstationen laufen über, und das Schreckgespenst der Triage ist tödliche Realität. In dieser Situation bedeutet die Aufrechterhaltung des Status Quo ein beispielloses Massensterben.
Die neue Regierung wird, trotz der Ernennung Lauterbachs zum gesundheitspolitischen Feigenblatt, schnell mit breiten Schichten der Bevölkerung in Konflikt geraten. Die „Profite vor Leben“-Politik der Regierung kann nur durch die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse gestoppt werden.
Einen Rückschlag erlitten die SPD und ihr designierter Kanzler bereits am Samstag, als der Landeselternrat Brandenburg den Rücktritt von Bildungsministerin Britta Ernst (SPD) forderte. Sie ist die Ehefrau von Olaf Scholz. Der Elternrat kritisiert Ernst seit Monaten, denn die Corona-Situation gerät zusehends außer Kontrolle. Die Ministerin besteht weiterhin auf einem uneingeschränkten Präsenzunterricht und weigert sich, die Maskenpflicht an der Grundschule wieder einzuführen, obwohl die Sieben-Tage-Inzidenz in Brandenburg inzwischen über 600 geklettert ist.