Flüchtlinge aus der Ukraine in Berlin: Solidarität der Bevölkerung und Indifferenz des Senats

Seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine flüchten laut Angaben des UNHCR mehr als 2,5 Millionen Menschen zu Fuß oder per Auto, Bus und Bahn außer Landes. Bisheriges Hauptziel ist Polen, wo eine große Mehrheit – nämlich über 1,5 Millionen – derzeit untergekommen ist; Hunderttausende fliehen weiter in Richtung Westen.

Ankommende Flüchtlinge am Hauptbahnhof in Berlin (Foto: WSWS)

In Deutschland sind seit Kriegsbeginn mehr als 110.000 Flüchtlinge aus der Ukraine offiziell registriert worden. In der Hauptstadt Berlin sind offiziell über 80.000 Geflüchtete angekommen. Über die sogenannte Dunkelziffer der über Verwandte oder Freunde Untergebrachten lässt sich bisher nur spekulieren.

Wie 2015, als zehntausende Kriegsflüchtlinge aus dem Nahen Osten, vor allem aus Syrien, verzweifelt Hilfe und Schutz suchten, hat die Berliner Bevölkerung erneut von der ersten Minute an mit überwältigender Solidarität auf die täglich ankommenden (zeitweise mehr als zehntausend) Kriegsflüchtlinge reagiert.

Dagegen waren die staatlichen „Ankunftsstrukturen“ des rot-grün-roten Senats zunächst nicht sichtbar, zwischenzeitlich sind sie zusammengebrochen. Die Bilder der ersten Tage vom Hauptbahnhof und ZOB ließen unwillkürlich die bedrückende Erinnerung an das staatliche Versagen während der Flüchtlingskrise 2015 in Berlin hochkommen.

Damals standen die Geflüchteten in Schlangen tagelang in der Hitze des Sommers am Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso), dem heutigen Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF). Sie harrten ohne Wasser und Schatten aus, um sich registrieren zu lassen und damit Anspruch auf Verpflegung und Unterbringung zu erwerben.

Dass sich die damalige Katastrophe bis jetzt noch nicht wiederholt hat, ist nicht den regierenden Parteien zu verdanken. Im Gegenteil!

Berliner Hilfsorganisationen und hunderte Freiwillige empfangen die am Berliner Hauptbahnhof und am Zentralen Omnibus-Bahnhof (ZOB) Ankommenden, versorgen sie mit dem unmittelbar Notwendigsten, nehmen sie bei sich auf oder organisieren ein „Bett für die Nacht“ bei anderen Unterstützern.

Die in der Flüchtlingskrise von 2015 über die Landesgrenzen hinaus bekannt gewordene Hilfsorganisation Moabit hilft e.V. prangerte Anfang der Woche offen und stellvertretend für alle Helfenden die „desolate Essenssituation vor Ort“ an. Es gäbe „leider nur sporadisch einzelne Lieferungen seitens des Senats“ und somit „aktuell keine ausreichende Versorgung mit Nahrung und Wasser“.

„Bis zu 20 Stunden am Tag“ setzten sich die Helfenden dafür ein, „dass es nicht zu einer humanitären Katastrophe kommt, man sich um medizinische Versorgung kümmert, Sachspenden organisiert, stadtweit koordiniert und verteilt, Menschen in Unterkünfte fährt, Unterkünfte organisiert, vermittelt, Sicherheit und ein Ankommen vermittelt …“, beschreibt Moabit hilft e.V. auf ihrer Facebook-Seite den Einsatz.

Die beiden politisch Hauptverantwortlichen im Senat, Franziska Giffey als Regierende Bürgermeisterin (SPD) und Katja Kipping als Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales (Die Linke) weisen die Kritik zurück.

Unisono betonen sie die „riesige Herausforderung“ (Giffey) angesichts des Flüchtlingsstroms, die „historische Verantwortung“ (Kipping), die das Land Berlin nicht „allein stemmen“ könne, und verweisen lapidar auf die Verantwortung des Bundes. In einem Interview mit der Berliner Zeitung sprach Kipping „den ehrenamtlichen Helfern“ ihre „unendliche“ Dankbarkeit aus und versprach, dass „wir nach und nach mehr Verantwortung für die Situation am Hauptbahnhof“ übernehmen.

In der regionalen Nachrichtensendung rbb-Abendschau vom vergangenen Sonntag reagierte Giffey extrem gereizt, als die Moderatorin auf die in den vergangenen Tagen laut gewordene Kritik am Senat Bezug nahm und fragte, weshalb kaum oder gar keine Landesvertreter am Hauptbahnhof gewesen seien. Giffey erwiderte sichtlich ertappt: „Also wissen Sie, diese Fragestellung finde ich, ehrlich gesagt, empörend!“

Die herrschende Klasse hat ein Problem. Sie schlachtet zwar das Leid der Flüchtlinge aus, wenn es darum geht, die eigenen Aufrüstungs- und Kriegspläne gegen Russland voranzutreiben. Gleichzeitig wird schon nach wenigen Tagen deutlich, dass sie auch die Flüchtlinge aus der Ukraine kaum besser behandelt als die Hunderttausenden, die während der Flüchtlingskrise 2015 aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Deutschland flohen.

Die Nervosität der regierenden Parteien entspringt auch der enormen Zuspitzung der sozialen und politischen Lage im gesamten Land und insbesondere in der mehr als 3,6 Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt.

Die Verarmung breiter Teile der Bevölkerung, verursacht durch jahrzehntelange Sparmaßnahmen, Immobilienspekulation, extremen Mangel an bezahlbarem Wohnraum und galoppierende Mieterhöhungen hat wegen der Auswirkungen der Pandemiepolitik weiter zugenommen.

Gegen die Wohnungsnot hatte die Mehrheit der Bevölkerung die Enteignung von Wohnungsbaugesellschaften beschlossen, was die Regierungskoalition ablehnt. Nun sieht sich die Regierung mit dem Unterbringungsproblem der Kriegsflüchtlinge konfrontiert. Damit wird das gravierende Wohnraumproblem erneut verschärft.

Weder hat es die Koalition in der nunmehr zweiten Legislaturperiode geschafft, die Wohnungsnot auch nur ansatzweise zu lindern oder die Obdachlosigkeit zu beenden. noch die bereits hier gestrandeten Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Nahost und Teilen Afrikas aus den Wohncontainern und Flüchtlingsunterkünften in vernünftigen Wohnungen unterzubringen.

Über die Hälfte der Flüchtlinge in den landeseigenen Unterkünften – manche wohnen dort seit 2015 – haben einen offiziellen Aufenthaltsstatus und somit eigentlich Anspruch auf eine eigene Wohnung.

Die Unterkünfte des Landesamts für Flüchtlinge waren bereits Ende letzten Jahres zu 98 Prozent ausgelastet, weshalb geschlossene Container-Heime erneut belegt und das Tempohome auf dem Tempelhofer Feld sowie ein Containerdorf in Pankow wieder geöffnet werden mussten.

Obwohl die Flüchtlinge aus der Ukraine den kriegstreibenden Parteien aus politischem Kalkül hoch willkommen sind, greift man auf Hostels, Kirchen und leerstehende Gebäude zurück und eröffnet fünf weitere Tempohomes. Zwar werden bisher nicht wie 2015 Turnhallen belegt. Doch die berüchtigte Praxis der Massenunterbringung ohne Chance auf ein Mindestmaß an Intimsphäre und nur unzureichend vorhandenen Sanitäranlagen ist bereits reaktiviert.

So wurden am Freitag in der Messehalle Berlin 360 Flüchtlinge untergebracht. Im alten Flughafen Tegel werden hunderte Schlafplätze aufgebaut. Mehr als 400 Feldbetten wurden im Terminal 5 des alten Flughafengebäudes Schönefeld als Notquartier aufgestellt.

Während der Berliner Senat zwischenzeitlich die Anrufung von Hilfe aus der Bundeswehr diskutierte, lehnte Giffey die von den Bezirksämtern aufgrund der völligen Überforderung geforderte Ausrufung des „Großschadensfalls“, also des Katastrophenfalls, strikt ab.

Dieser hätte zur Folge, dass beispielsweise Unterkünfte für die Flüchtlinge konfisziert werden könnten. Darüber hinaus wäre es leichter möglich, Mitarbeiter und ehrenamtliche Helfer aus Verwaltung und Firmen zur Unterstützung heranzuziehen sowie „notwendige Materialien, wie etwa Zelte, Betten und mobile Toiletten“ trotz „Ausgabenbeschränkungen durch die aktuell vorläufige Haushaltsführung“ zu beschaffen, wie der Tagesspiegel ausführte.

Im Gegensatz zum offensichtlichen Unwillen des Senats, sich der verzweifelten und traumatisierten Menschen anzunehmen, haben Berliner trotz eigener meist enger bis sehr beengter Wohnverhältnisse viele Flüchtlinge bei sich aufgenommen. Der Tagesspiegel spricht von einer „kaum erfassbaren Menge von Leuten“, die privat untergekommen sind.

Der Heuchelei und dem Rassismus der Landesregierung die Krone aufgesetzt hat die Räumung der mit Flüchtlingen besetzten Tempohomes in Berlin-Reinickendorf, um dort Platz für die Neuankömmlinge aus der Ukraine zu schaffen.

Wie Tareq A. vom Flüchtlingsrat Berlin vergangene Woche auf Twitter mitteilte, mussten die dort Untergebrachten – Familien mit zum Teil schulpflichtigen Kindern – ihre Unterkünfte binnen 24 Stunden verlassen und in teilweise weit entfernte Unterkünfte ziehen. Dass die Familien aus ihren Strukturen und die Kinder aus ihren Klassenverbänden gerissen werden, interessierte das Landesamt für Flüchtlinge nicht. Diese Menschen sind ganz offenbar „Flüchtlinge zweiter Klasse“!

In den Sozialen Medien stieß die Zwangsräumung der Flüchtlinge auf scharfe Kritik und Entsetzen. „Das ist alles unfassbar! Wie kann das sein, @katjakipping? Ich weiß gar nicht, wie man auf sowas kommen kann …“, heißt es zum Beispiel von Marc B. Und eine Tapsi kommentiert: „Darauf kommt man vermutlich nur, wenn es die gewollten guten Geflüchteten gibt und die, auf die man eh keinen Bock hat.“

Auf der Facebook-Seite der Sozialsenatorin Kipping prangerte Halina S. die „so genannte humanitäre Hilfe“ der Linkspartei scharf an und erklärte: „Wie immer geht das Engagement der Regierenden immer auf Kosten der Schwächsten. Das ist nichts weniger als ein absoluter Skandal …“

Die Zwangsräumung der Flüchtlinge sei ein „völlig undurchdachter und absolut retraumatisierender Kurs ohne Sinn und Verstand. Wer die emotionalen Kosten dafür übernimmt ist klar: Die Helfer, die das ehrenamtlich machen, und die Flüchtlinge, die Psychologen, die Ärzte, die Jahre lang mit Menschen gearbeitet haben, um sie zu stabilisieren; aber bestimmt niemand, der auf seinem Podest im Berliner Senat steht und Reden schwingt. Ich bin absolut empört, wie Ihre Handlungen Menschen schwerst schädigen und jahrlange Arbeit zunichte gemacht wird. Aber anders kennen wir es ja nicht vom Senat.“

Tatsächlich ist die Flüchtlingspolitik des Berliner Senats menschenverachtend und entspricht im Kern der Linie der rechtsextremen AfD. Wie Anfang des Monats die taz unter Bezugnahme auf den Flüchtlingsrat Berlin titelte, finden die berüchtigten nächtlichen Abschiebungen unter dem damaligen Innensenator Andreas Geisel (SPD) unter seiner Nachfolgerin Iris Spranger (SPD) auch weiterhin statt.

Von Januar 2021 bis Januar 2022 wurden vom Berliner Innenministerium 1.126 Menschen abgeschoben, 645 von ihnen wurden hierfür von der Polizei zwischen 0.00 Uhr und 6.00 Uhr festgenommen. Zudem wurden 141 Roma im Dezember 2021 und Januar 2022 nach Moldau, dem „Armenhaus Europas“ abgeschoben, obwohl grundsätzlich von Abschiebungen im Winter aus humanitären Gründen abgesehen werden soll.

Die zutiefst humane Solidarität mit Flüchtlingen innerhalb der Bevölkerung steht im völligen Widerspruch zu der von allen im Bundestag vertretenen Parteien unterstützten Praxis der tödlichen „Festung Europas“. Darüber kann auch die verlogene und medial aufgeblasene Politik gegenüber den Flüchtlingen aus der Ukraine nicht hinwegtäuschen.

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