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Im Zuge der antirussischen Kampagne, die nach Moskaus Invasion der Ukraine am 24. Februar begann, werden russische Forschungsinstitutionen und russische Wissenschaftler aus der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft ausgegrenzt.
Die Teilnahme russischer Forschungsinstitute bei internationalen Projekten wurde eingestellt und russische Autoren dürfen in amerikanischen und europäischen wissenschaftlichen Journals nicht mehr publizieren. Zeitschriften, die in Russland ansässig sind, sind aus den Bewerbungsverfahren der sehr einflussreichen Online-Zitations- und Literaturdatenbanken Web of Science und Scopus ausgeschlossen worden.
Als eine der wohl universellsten Disziplinen, ist die Wissenschaft ein inhärent internationaler Prozess. Internationale Zusammenarbeit ist ein Wesenszug der Wissenschaft. Es gibt kaum ein Forschungsinstitut auf der Welt, das nicht an internationalen Projekten beteiligt ist. Noch gibt es individuelle Wissenschaftler, deren Arbeit nicht von der ihrer internationalen Kollegen durchzogen ist. Wissenschaftliche Journale, selbst „nationale“ Publikationen, sind per Definition international. Kein einziges ernsthaftes Journal in den Naturwissenschaften verfügt über eine Redaktion oder eine Autorenliste, die nicht aus Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft besteht. Vor diesem Hintergrund sind die anti-russischen Maßnahmen, die von bestimmten wissenschaftlichen Organisationen vorgenommen werden, zutiefst reaktionär.
Die Errungenschaften russischer Wissenschaftler, insbesondere derer, die in der Sowjetunion gearbeitet haben, stellen eine unschätzbar wertvolle Bereicherung für die Wissenschaft und daher für die Menschheit dar. In der Sowjetunion wurden – trotz des tragischen Einflusses des Stalinismus auf die Genetik – in vielen Bereichen wie der Physik, Chemie, Mathematik und Raumfahrt bahnbrechende Fortschritte erbracht, die russischen Wissenschaftlern selbst in Zeiten des kalten Krieges internationale Bekanntheit beschert haben.
1956 gewann Nikolai Semjonow den Nobelpreis in Chemie, gefolgt von zehn sowjetischen Wissenschaftlern, die gemeinsam sechs Nobelpreise in Physik errangen, darunter Pawel Tscherenkow (1958), Lew Landau (1962) und Pjotr Kapitsa (1978). Sergei Nowikow (1970) und Grigori Margulis (1978) erhielten die Fields-Medaille, die höchste Ehrung, die ein Mathematiker erhalten kann. Die Sowjetunion schoss den ersten künstlichen Satelliten, Sputnik 1, im Oktober 1957 in die Umlaufbahn der Erde. Im April 1967 erreichte der sowjetische Kosmonaut Juri Gargarin als erster Mensch das Weltall.
Obwohl die Kürzung wissenschaftlicher Fördermittel, die in den 1980er Jahren begann und nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 beschleunigt wurde, die wissenschaftlichen Aktivitäten des Landes reduziert haben, spielen russische Forscher weiterhin eine wesentliche Rolle in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft. Im Jahr 2011 veröffentlichten russische Autoren 10.000 wissenschaftliche Arbeiten in Zusammenarbeit mit ihren internationalen Kollegen, was etwa dem doppelten Umfang der nationalen Kollaborationen entspricht. Über 60 Prozent dieser Arbeiten wurden in Zusammenarbeit mit Forschern aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) verfasst und über 25 Prozent mit Autoren aus den Vereinigten Staaten. Diese Anteile sind in den darauffolgenden zehn Jahren aufgrund der zunehmenden Spannungen in den Beziehungen Russlands zur EU und zu den USA leicht zurückgegangen, während sich neue Kooperationen nach China und Indien verlagert haben. Die absolute Zahl der Kooperationen zwischen Russland und der EU bzw. den USA blieb jedoch hoch.
Nun wird die Zusammenarbeit einseitig von westlichen Institutionen abgebrochen. Am 8. März hat die europäische Organisation für Kernforschung bei Genf (CERN) – das größte Teilchenphysik-Labor der Welt – angekündigt, jede zukünftige Zusammenarbeit mit russischen und belarussischen Institutionen auszusetzen. Die Zukunft von mehr als 1.000 russischen Wissenschaftlern, die am CERN arbeiten und 8 Prozent der Angestellten ausmachen und deren plötzlicher Weggang das Labor funktionsunfähig machen könnte, ist nun ungewiss. Die Gewährung neuer Verträge für Personen, die mit Institutionen in Russland und Belarus verbunden sind, wurde offiziell ausgesetzt.
Seit seiner Gründung 1954 ist eins der Ziele des CERN die Förderung des Friedens im Nachkriegseuropa. Vor kurzem erschien in der Zeitschrift Science ein Artikel, der das Labor mit einer „engen aber robusten kulturellen Brücke zwischen Ost und West“ verglich, die „die kältesten Tage des Kalten Kriegs überdauerte“.
John Ellis, ein theoretischer Physiker am King's College London, der seit über 40 Jahren am CERN arbeitet, sagte gegenüber Science: „Eines der Mottos von CERN ist ‚Wissenschaft für den Frieden‘ und das geht auf die 1950er zurück, als CERN tatsächlich ein Begegnungsort für Wissenschaftler aus der Sowjetunion, den USA und Europa war.“
Ellis betonte, dass die Aufrechterhaltung solcher Beziehungen in Zeiten von Konflikten besonders wichtig ist und dass das CERN russische Wissenschaftler nicht ausgewiesen hatte, als die Sowjetunion 1968 in die Tschechoslowakei oder 1979 in Afghanistan einmarschierte.
Ein weiteres Beispiel für die Ausgrenzung russischer Wissenschaftler ist das Aussetzen der Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) und der russischen Weltraumorganisation Roskosmos für die Entwicklung des ExoMars Rovers zur Marserkundung. Die Mission, die nach Leben und Wasservorkommen suchen sollte, war für September geplant. Ihr Start ist der ESA zufolge nun „sehr unwahrscheinlich“.
Die zügigsten und heftigsten Maßnahmen kamen aus Deutschland, wo die Allianz der Wissenschaftsorganisationen, ein Verbund der wichtigsten akademischen Organisationen des Landes, die Beendigung jeglicher akademischer Zusammenarbeit mit staatlichen Einrichtungen in Russland empfohlen hat. Das Deep-Space-Teleskop eROSITA (kurz für extended Roentgen Survey with an Imaging Telescope Array), eine russisch-deutsche Kooperation, die gestartet wurde, um die größte Karte schwarzer Löcher im Universum zu erstellen, wurde Ende Februar abgeschaltet.
Auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die in den vergangenen drei Jahren über 300 deutsch-russische Forschungsprojekte mit 110 Millionen Euro gefördert hat, „setzt... mit sofortiger Wirkung alle von ihr geförderten Forschungsprojekte zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Deutschland und Russland aus.“
„Zugleich werden Förderanträge für neue deutsch-russische Kooperationen und Fortsetzungsanträge für laufende Projekte bis auf Weiteres nicht angenommen“, heißt es in einer Pressemitteilung der DFG vom 2. März.
Am 25. Februar beendete das Massachusetts Institute of Technology (MIT) abrupt seine Partnerschaft mit dem Skolkovo Institute of Science and Technology (Skoltech), einem privaten Forschungsinstitut in Moskau, das 2011 mit einem vom MIT entwickelten Lehrplan gegründet wurde. Die meisten akademischen Aktivitäten des Instituts wurden in enger Zusammenarbeit mit der amerikanischen Universität durchgeführt. Nun ist die Zukunft all dieser Arbeit, einschließlich der Forschungsprojekte und der Karrieren der Studenten, bedroht.
Auch die Verlagsbranche in den USA und Europa hat damit begonnen, russische Forschung de facto zu zensieren, auch wenn bisher nur wenige wissenschaftliche Zeitschriften ein direktes Verbot von Arbeiten, die von Autoren russischer Einrichtungen eingereicht wurden, zu verhängen scheinen. Elsevier, ein akademischer Verlag mit Sitz in den Niederlanden und einer der wichtigsten für wissenschaftliche, technische und medizinische Inhalte, hat sich geweigert, Angaben darüber zu machen, wie viele seiner Zeitschriften antirussische Zensur betreiben, und erklärte lediglich, die Zahl sei „sehr niedrig“. Wir wissen jedoch von mindestens einer Elsevier-Zeitschrift, dem „Journal of Molecular Structure“, die ganz offen eine antirussische Ächtung verhängt hat.
Am bedeutsamsten ist vielleicht die Aussetzung der Bewertung neuer Zeitschriften aus Russland durch Clarivate, dem Unternehmen, dem die Zitationsdatenbank Web of Science (WoS) gehört und das die jährlichen Journal Citation Reports (JCR) veröffentlicht. Der Einfluss der Clarivate-Publikationen auf die Art und Weise, wie internationale Wissenschaft betrieben und finanziert wird, und der Schaden, den diese Zensur russischen Forschern zufügen wird, kann kaum überschätzt werden.
Die WoS-Zitationsdatenbanken sind eine breit genutzte Quelle für die internationale Forschungsgemeinschaft, die es ermöglicht, wissenschaftliche Literatur durch Zitierungen zu entdecken. Die Publikationen in diesen Sammlungen werden von einer Expertengruppe zusammengestellt, was ihnen zugleich ein Qualitätssiegel verschafft und ihre Sichtbarkeit international erhöht. Der Erfolg einer jeden wissenschaftlichen Zeitschrift hängt von ihrer Aufnahme in diese Web-of-Science-Sammlungen ab.
Noch einflussreicher ist das JCR, das jedes Jahr eine Liste der einflussreichsten Zeitschriften zusammen mit ihrem Journal Impact Factor (JIF), einem Maß für die Zitierleistung einer Zeitschrift, veröffentlicht. Der JIF wird international und auf allen Ebenen von Wissenschafts- und Bildungsministerien sowie von anderen Förderorganisationen verwendet, um akademische Einrichtungen, Forschungsgruppen und sogar einzelne Forscher danach zu bewerten, wie viele Artikel sie in den im JCR veröffentlichten Zeitschriften veröffentlichen. Der Ausschluss russischer Zeitschriften von dieser Veröffentlichung wird die russische Forschungsgemeinschaft von ihren internationalen Kollegen isolieren.
Die ersten Anzeichen dieser Isolation sind bereits deutlich zu sehen. Als Reaktion auf die antirussischen Verbote durch Web of Science und einzelne Zeitschriften hat die russische Regierung die Auflage für Wissenschaftler aufgehoben, ihre Arbeiten in internationalen und in Web of Science aufgeführten Publikationen zu veröffentlichen. Dies steht im Gegensatz zur Wissenschaftspolitik nahezu aller anderen Länder. Das russische Ministerium für Wissenschaft und Hochschulbildung wird nun sein eigenes System zur Bewertung von Forschungsarbeiten entwickeln.
Viele Angehörige der wissenschaftlichen Gemeinschaft sprechen sich gegen die antirussischen Ächtungen aus. In einem am 24. März im Science-Magazin veröffentlichten offenen Brief gegen das Verbot sprechen sich fünf angesehene Wissenschaftler aus den Vereinigten Staaten, Kanada und Großbritannien gegen den „Abbruch [jeglicher] Interaktion mit russischen Wissenschaftlern“ aus und betonen „die Aufrechterhaltung nicht-ideologischer Kommunikationslinien über nationale Grenzen hinweg und den Widerstand gegen ideologische Stereotypisierung und wahllose Verfolgung“.
„Ich messe der Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technik einen sehr hohen Wert bei“, sagte John Holdren, Forschungsprofessor für Umweltwissenschaften und -politik an der Harvard Kennedy School und einer der Autoren des Briefes. „Meine Kollegen und ich, die den Brief gemeinsam verfasst haben, waren beunruhigt durch Berichte einer anstehenden umfassenden Dämonisierung und Isolierung russischer Wissenschaftler.“ Er betonte die Bedeutung der wissenschaftlichen Leistungen russischer Forscher für die Erforschung des Klimawandels und insbesondere der Arktis.
Während die Zusammenarbeit zwischen den Regierungen „verständlicherweise auf Eis liegt”, heißt es in dem Brief weiter, „sollte dies nicht für jede Interaktion mit russischen Wissenschaftlern gelten“. Die Unterzeichner weisen auf die Tatsache hin, dass viele Tausende russische Wissenschaftler und Studenten „im Westen leben und arbeiten“ und der russischen Regierung kritisch gegenüberstehen. „Sicherlich sollten diese Russen nicht mit den Führern des russischen Staates in einen Topf geworfen werden. Vielmehr sollten humanitäre Vorkehrungen getroffen werden, um sicherzustellen, dass sie nach Ablauf ihrer Visa und Pässe nicht zwangsweise zurückgeschickt werden, was sie nicht nur von ihren westlichen Kollegen isolieren, sondern möglicherweise zu ihrer Verfolgung führen könnte“, schreiben sie.
John Ellis, Physiker am King's College, der mit Science über die Russland-Sperre des CERN sprach, sagte: „Meine persönliche Meinung ist, dass wir diese Kooperation um jeden Preis erhalten sollten, soweit es politisch irgend möglich ist“, fügte jedoch Unheil verkündend hinzu: „Die Wissenschaftler, die am Tisch sitzen, können ihre Meinung äußern, aber letztlich wird es eine politische Entscheidung sein.“
Neben diesen und anderen Erklärungen von Forschern aus der ganzen Welt, die gegen die antirussischen Ächtungen in der Wissenschaft protestieren, möchte der Autor dieses Schreibens, ein Physiker in einem spanischen Labor, auf die erschütternde Heuchelei dieser Maßnahmen hinweisen. Während die universelle Disziplin der Wissenschaft entlang nationaler Grenzen gespalten wird und Zehntausende russischer Forscher nicht mehr mit ihren westlichen Kollegen zusammenarbeiten können, werden im Web of Science weiterhin Zeitschriften aus Saudi-Arabien rezensiert, dessen Bomben hunderttausende Jemeniten getötet haben. Das Journal of Molecular Structure veröffentlicht nach wie vor Arbeiten israelischer Forscher, obwohl die Führer dieses Landes die palästinensische Bevölkerung systematisch umbringen. Und natürlich hat noch nie jemand vorgeschlagen, US-Forschern den Zugang zu wissenschaftlichen Zeitschriften oder die Zusammenarbeit mit ihnen zu verbieten, obwohl ihre Regierung seit 30 Jahren unprovozierte Angriffskriege gegen den Irak, Afghanistan, Serbien, Libyen und so weiter führt.
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