Italien: Regierung Draghi am Ende

Der italienische Regierungschef Mario Draghi hat am Donnerstag zum zweiten Mal innerhalb einer Woche seinen Rücktritt eingereicht. Diesmal hat Staatspräsident Sergio Mattarella den Rücktritt angenommen. Die drittgrößte Volkswirtschaft der Europäischen Union steht damit ohne funktionsfähige Regierung da.

Draghi spricht vor der Vertrauensabstimmung zum Senat [Photo by governo.it / CC-BY-NC-SA 3.0 IT]

Bei einer Vertrauensabstimmung im Senat am Mittwochabend hatten nur 95 von 321 Mitgliedern der zweiten Parlamentskammer für Draghi und 39 gegen ihn gestimmt. Die Lega, Forza Italia und die Fünf-Sterne-Bewegung, die Draghis Regierung der „nationalen Einheit“ angehören, verweigerten ihm das Vertrauen, indem sie der Abstimmung fernblieben. Ein geplantes Vertrauensvotum in der Abgeordnetenkammer fand darauf nicht mehr statt.

Der 80-jährige Staatspräsident Mattarella löste noch am selben Tag das Parlament auf. Damit wird es am 25. September vorgezogene Neuwahlen geben. Draghi bleibt so lange geschäftsführend im Amt. Regulär hätten die Wahlen im April kommenden Jahres stattgefunden.

Draghis Fall ist eine Folge der scharfen Klassenspannungen und sozialen Gegensätze in Italien. Mattarella hatte den ehemaligen Chef der Europäischen Zentralbank im Februar 2021 zum Regierungschef berufen, als die erste Welle der Corona-Pandemie in Italien Zehntausende Todesopfer forderte und sich die Wirtschaft mit einem Rückgang von 8,9 Prozent im freien Fall befand.

Alle Parteien – von der rechten Lega, Berlusconis Forza Italia, der Fünf-Sterne-Protestbewegung bis zu den Demokraten und ihren diversen Abspaltungen – verschanzten sich hinter Draghi, der als Vertrauensmann des internationalen Finanzkapitals dafür sorgen sollte, dass Italien die ihm zustehenden 206 Milliarden Euro aus dem Corona-Fonds der Europäischen Union erhält.

Die Europäische Kommission hatte die Vergabe dieser Gelder an die Durchführung von insgesamt 42 „Reformen“ geknüpft, die die italienische Wirtschaft „von Wachstumshemmnissen befreien“ und „wettbewerbsfähiger“ machen, den Staat „schlanker“ gestalten und die Sozialsysteme „effektiver“ machen sollten – alles Schlagworte für massive Angriffe auf die Arbeiterklasse und die unteren Schichten der Mittelklasse.

Draghi wurde den in ihn gesetzten Erwartungen gerecht. Er besetzte zentrale Wirtschaftsposten mit externen Fachleuten, wie dem ehemaligen Investmentbanker und Vodafone-Chef Vittorio Colao, und Austeritäts- und Privatisierungsbefürwortern, wie Giancarlo Giorgetti von der Lega, den er zum Minister für wirtschaftliche Entwicklung machte.

Die Corona-Krise „löste“ Draghi mit einer massiven Impfkampagne, die von einem hochrangigen General geleitet wurde. Sie stoppte zwar nicht die Ausbreitung der Pandemie – mit 170.000 Todesopfern liegt Italien in Europa an zweiter Stelle hinter Großbritannien –, lieferte aber mit einer hohen Impfquote den Vorwand für die Aufhebung aller Lockdown-Maßnahmen und die Aufrechterhaltung der Industrieproduktion sowie der Tourismusindustrie.

Mit einer Neuordnung der Sozialausgaben entlastete Draghi die Konzerne auf Kosten der Arbeiter. Die Rentenreform der Vorgängerregierung, die das Renteneintrittsalter unter bestimmten Voraussetzungen gesenkt hatte, hob er wieder auf. Das „Bürgergeld“, das die Fünf Sterne anstelle der Sozialhilfe eingeführt hatten, erklärte er zum „Flop“ und schränkte es mit strikten Auflagen und Kontrollmaßnahmen ein.

Draghis Steuerreformen und Liberalisierungsmaßnahmen entlasteten Großkonzerne und bedrohten Besitzer von Eigentumswohnungen und kleine Selbständige – und damit eine wichtige Klientel der Lega und der Fünf Sterne – in ihrer Existenz. Anfang dieses Monats streikten in ganz Italien Taxifahrer, die hohe Lizenzgebühren entrichtet haben und nun durch Draghis Liberalisierungsmaßnahmen in den Ruin getrieben werden.

Hohe Wellen schlug auch das „Konkurrenz-Dekret“, mit dem Draghi die sogenannte Bolkestein-Richtlinie der EU durchsetzen wollte. Diese schreibt vor, dass Betriebe in öffentlichem Besitz, die von Privaten betrieben werden, alle paar Jahre neu ausgeschrieben werden. Betroffen wären unter anderem 14.000 Lidos, Strandbäder, die meist von Familien geführt werden und nun von Großinvestoren übernommen werden könnten.

Außenpolitisch schwor Draghi Italien auf den Kriegskurs der Nato gegen Russland ein – obwohl die Lega und Forza Italia Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnen.

Draghis Politik stieß in der internationalen Finanzwelt auf Begeisterung. Die Süddeutsche Zeitung jubelte im November letzten Jahres „Bislang läuft es, so muss man sagen, prächtig. … Die Begeisterung über die ungewohnte Dynamik versetzt Italien in Hochstimmung.“ Italien befinde „sich nach vielen Jahrzehnten zum ersten Mal in der Lage, seine Wirtschaft komplett neu auszurichten“, zitierte sie die OECD-Chefökonomin Laurence Boone. „Jetzt oder nie.“

Die italienische Arbeiterklasse teilt diese Hochstimmung nicht. Unter Draghi hat sich die Polarisierung des Landes weiter verschärft. Die offizielle Arbeitslosenrate liegt bei 8,4 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei 24 Prozent. 3,4 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter sind prekär beschäftigt. Die Zahl der Armen ist während der Corona-Pandemie auf 5,6 Millionen gestiegen, die offizielle Inflation liegt bei 8 Prozent. Immer wieder kommt es zu Streiks gegen Arbeitsplatzabbau, niedrige Löhne und unhaltbare Arbeitsbedingungen.

Es ist bezeichnend, dass Draghis Regierung der „nationalen Einheit“ unter diesen Bedingungen von den Fünf Sternen und den rechten Parteien gestürzt wurde, und nicht von den angeblich linken.

Die Fünf Sterne, die als Protestbewegung gegen das politische Establishment entstanden, erst mit der rechtsextremen Lega und dann mit den Demoraten reagierten und schließlich Draghi unterstützten, befinden sich im freien Fall und haben sich gespalten. Von 33 Prozent bei der Parlamentswahl 2018 sind sie in den Umfragen auf 11 Prozent gefallen.

Außenmister Luigi di Maio hat die Bewegung verlassen und seine eigene Partei, „Zusammen für die Zukunft“, gegründet, die Draghi unterstützt. Giuseppe Conte, Draghis Vorgänger als Ministerpräsident und Vorsitzender der Fünf Sterne, bekämpft ihn dagegen.

Die Lega und Forza Italia haben in den Umfragen zwar auch eingebüßt, allerdings nicht so viel wie die Fünf Sterne. Sie hoffen, nach den Wahlen eine Rechtsregierung mit den faschistischen Fratelli d’Italia bilden zu können. Diese sind Draghis Regierung nie beigetreten und in den Umfragen mit 23 Prozent zur stärksten Partei geworden. Bei der letzten Parlamentswahl hatten sie nur 4,4 Prozent erhalten.

Die Parteivorsitzende Giorgia Meloni, die Mussolini verehrt und eng mit der spanischen Vox-Partei zusammenarbeitet, könnte nächste italienische Ministerpräsidentin werden. Zusammen kommen die rechten Parteien von Meloni, Salvini und Berlusconi in den Umfragen auf 46 Prozent.

Verantwortlich für den Aufstieg der Rechten sind die Demokraten, ihre pseudolinken Anhängsel und die mit ihnen verbündeten Gewerkschaften. Sie sorgen sich um die Stabilität der bürgerlichen Ordnung und nicht um das Schicksal der Arbeiterklasse. Sie unterdrücken deren Kämpfe und unterstützen Draghi umso entschlossener, je offensichtlicher der arbeiterfeindliche Charakter seiner Politik wird.

Nachdem Draghi am Donnerstag letzter Woche erstmals seinen Rücktritt angekündigt hatte, organisierten sie eine Kampagne, um ihn im Amt zu halten. 2000 Bürgermeister veröffentlichten einen entsprechenden Appell. Auch Gewerkschaften, Unternehmer und die Kirche riefen Draghi auf, zu bleiben.

Laut italienischen Medienberichten telefonierten auch Emmanuel Macron, Olaf Scholz und Ursula von der Leyen mit Draghi, um ihn zum Verbleib zu überreden. Sie fürchten, dass ihre Kriegsfront gegen Russland auseinanderfällt und dass zur Inflation und der drohenden Rezession in Europa eine erneute Euro-Krise hinzukommt, wenn der Vertrauensmann des Finanzkapitals den italienischen Regierungssitz verlässt.

Die sklavische Unterordnung der Gewerkschaften, der Demokraten und der Pseudolinken unter Draghi und seine arbeiterfeindliche Politik hat die Bedingungen geschaffen, unter denen Ultrarechte und Faschisten die Wut und Frustration von kleinbürgerlichen Schichten und teilweise auch von Arbeitern ausbeuten können.

Die rechte Gefahr kann nur durch eine unabhängige Offensive der Arbeiterklasse bekämpft werden, die die Verteidigung von Löhnen, Arbeitsplätzen und sozialen Rechten mit dem Kampf gegen Krieg und für ein internationales sozialistisches Programm verbindet.

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