Nach fast zwölf Wochen Arbeitskampf und 79 Streiktagen an den Universitätskliniken Nordrhein-Westfalens hat die Gewerkschaft Verdi einen so genannten Entlastungstarifvertrag (TV-E) vereinbart und den Streik beendet. Der Vertrag schafft keine Verbesserungen für die Pflegekräfte und andere Beschäftige, sondern zementiert die unhaltbaren Arbeitsbedingungen in den Kliniken.
Die Mitglieder von Verdi können bis zum 5. August in einer Urabstimmung entscheiden, ob sie das Verhandlungsergebnis annehmen. Wir rufen sie auf, mit Nein zu stimmen. Die Beschäftigten der Kliniken müssen den schändlichen Vertrag ablehnen, Verdi das Mandat entziehen und den Kampf für gute Löhne und adäquate Arbeitsbedingungen wieder aufnehmen.
Der Streik hat die Stärke der Klinik-Beschäftigten gezeigt, die sich trotz massivem Druck nicht spalten und einschüchtern ließen. An den sechs Kliniken mussten seit Anfang Mai mehr als 10.000 Operationen verschoben werden. Trotzdem genoss der Kampf der Pflegekräfte, die seit Beginn der Pandemie aufopferungsvoll die Versorgung in den Kliniken aufrechterhalten hatten, große öffentliche Unterstützung.
Die Beschäftigten der sechs Unikliniken in NRW kämpften stellvertretend für viele andere. Überall herrscht in Krankenhäusern und Pflegeheimen dieselbe katastrophale Lage. Seit zweieinhalb Jahren arbeiten die Beschäftigten am Limit. Und die Lage verschlimmert sich mit jedem Tag, an dem die politisch Verantwortlichen der Pandemie freien Lauf lassen. Trotz Sommer und Urlaubszeit hat sich die Zahl der Patienten, die mit einer Covid-Erkrankung im Krankenhaus behandelt werden müssen, innerhalb von sechs Wochen zum Teil vervierfacht.
Die „Lösung“ von Politikern und Klinikvertretern zeigt die unglaubliche Kaltschnäuzigkeit, mit der eine Politik verfolgt wird, die den Profiten Vorrang vor Menschenleben einräumt. So werden am Universitätsklinikum Gießen und in anderen Krankenhäusern positiv getestete Mitarbeiter zum Dienst getrieben. So werden hunderte zusätzliche Todesopfer in Kauf genommen und Patienten und Personal vollständig durchseucht – eine Entwicklung, vor der Virologen eindringlich warnen.
In diesem Zusammenhang steht der Abschluss des TV-E. An den Berliner Kliniken von Charité und Vivantes haben die Pflegekräfte bereits ihre Erfahrungen mit einem solchen „Entlastungs“-Tarifvertrag gemacht. Hier brach Verdi den Streik nach 50 Tagen ab und unterzeichnete einen Vertrag, der die Lage um keinen Deut verbesserte. Die Vereinbarung, die Verdi nun in NRW getroffen hat, ist sogar noch schlechter.
Der Tarifvertrag soll überhaupt erst Anfang nächsten Jahres in Kraft treten. Obwohl in den kommenden Monaten mit einer maximalen Belastung der Kliniken zu rechnen ist, wird rein gar nichts unternommen. Bis das System der Entlastungspunkte in Kraft tritt, vergehen weitere anderthalb Jahre, angeblich um die notwendige Software einzurichten. Für den Übergang gibt es lediglich eine geringe, pauschale Anzahl zusätzlicher freier Tage.
Für die verschiedenen Klinikbereiche wurden Modelle vereinbart, die die Entlastung definieren. So werden auf Normal- und Intensivstationen bindende Personal-Patienten-Schlüssel festgelegt. Werden sie unterschritten, erhält der in Unterbesetzung Arbeitende einen Punkt. Erst nach sage und schreibe sieben Punkten bekommt er einen Entlastungstag.
Im ersten Jahr ist die Anzahl der möglichen Entlastungstage darüber hinaus auf elf begrenzt. Sind diese erreicht, gibt es trotz Belastungssituation keinen Ausgleich mehr. Darüber hinaus ist der Personalschlüssel noch nicht definiert, und es ist fraglich, ob er angemessen sein wird.
Für andere Bereiche – wie Ambulanz, Labore oder Transport – sind die Entlastungsmaßnahmen rein kosmetischer Natur. Hier sollen pro Klinik lediglich 30 zusätzliche Stellen geschaffen werden. Dies wird im Tarifvertrag nicht festgeschrieben, sondern über die Personalräte mit den jeweiligen Leitungen der Krankenhäuser verhandelt. Angesichts der Größe der meisten betroffenen Kliniken ist diese Anzahl lächerlich.
Der Charakter der Vereinbarung zeigt sich auch an der Laufzeit. Sie ist auf fünf Jahre angelegt. Damit wird sichergestellt, dass in den nächsten Jahren Friedenspflicht herrscht und jeder Streik unterbunden werden kann. Dies ist angesichts der wachsenden Wut der Beschäftigten das zentrale Ziel von Kliniken, Verdi und Landesregierung.
Unter den Beschäftigten ist der Abschluss auf Enttäuschung und Ablehnung gestoßen. Bei der Streikversammlung in Düsseldorf votierten 70 Prozent der Anwesenden gegen die Annahme und zeigten sich bereit, weiter zu streiken.
Der TV-E muss abgelehnt werden. Stattdessen müssen folgende, weitergehende Forderungen erhoben werden:
- Für jede unterbesetzte Schicht müssen die Betroffenen einen Ausgleich in Höhe des Lohns der ausgefallenen Kraft plus 50 Prozent Stress-Zulage erhalten! Wer für zwei arbeitet, muss auch für zwei entlohnt werden! Nur so kann das perfide System beendet werden, mit dem die Kliniken an der Unterbesetzung verdienen!
- Sofortige Verdoppelung des Personals! Jeder von uns weiß, dass eine angemessene Pflege nur mit einer massiven Aufstockung und einer Rücknahme aller Personalkürzungen möglich ist!
- Das ist nur möglich, wenn Pflegerinnen und Pfleger endlich angemessen entlohnt werden. Angesichts der hohen Inflation bedeutet die Lohnpolitik der Gewerkschaften einen nicht hinnehmbaren Lohnverlust. Um ihn und die vorangegangenen Reallohnsenkungen auszugleichen, müssen die Löhne um mindestens 30 Prozent erhöht und gleitend an die Inflation angepasst werden!
- 100 Milliarden für Gesundheit statt für Aufrüstung! Jahrelang wurden die Kliniken mit dem Argument kaputtgespart, es sei kein Geld da. Nun werden horrende Summen aufgewendet, um Deutschland zur größten Militärmacht Europas hochzurüsten. Das Geld muss stattdessen in die Pandemiebekämpfung und den massiven Ausbau des Gesundheitssystems investiert werden!
- Das System der Fallpauschalen – der DRGs – und die damit verbundene Profitorientierung der Kliniken muss sofort beendet werden. Privatisierte Einrichtungen müssen umgehend in gesellschaftliches Eigentum überführt werden. Das Gesundheitswesen darf nicht im Interesse einer Handvoll Aktionäre geführt werden, sondern muss zum Nutzen der gesamten Bevölkerung ausgerichtet sein.
Bereits jetzt werden Stimmen laut, die eine Übernahme des TV-E in anderen Bundesländern fordern. Umso wichtiger ist es, dass er in NRW abgelehnt wird.
Der Abschluss zeigt einmal mehr, dass die Gewerkschaften direkt gegen die Beschäftigten agieren. Der Kampf für echte Verbesserung kann nur gewonnen werden, wenn Verdi das Verhandlungsmandat entzogen wird. Wir haben das Aktionskomitee Pflege gegründet, um den Kampf für angemessene Arbeitsbedingungen und gute Pflege unabhängig von Verdi in die eigenen Hände zu nehmen und uns international zusammenzuschließen.
Kontaktiert uns unter +4915203521345 per Whatsapp um daran teilzunehmen.