Wie kanadische Gewerkschaften den Bildungsstreik in Ontario abgewürgt und die Ford-Regierung gerettet haben

Am Wochenende organisierten die größten Gewerkschaften Kanadas eine konzertierte Intervention, um die heftig aufkeimende Bewegung für einen Generalstreik in der Provinz Ontario zu verhindern.

Auslöser war ein Streik von 55.000 Hilfskräften im Bildungswesen. Der Toronto Star veröffentlichte am Dienstag einen Artikel, der Details über diese Verschwörung enthielt, darunter geheime Unterredungen zwischen den nationalen Gewerkschaftsführungen und dem Premierminister von Ontario, Doug Ford. Aufgrund dieser Intervention brach die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes (Canadian Union of Public Employees, CUPE) den Streik mit sofortiger Wirkung ab, obwohl keine Forderung der Arbeiter erfüllt wurde. Die Mitglieder reagierten mit großer Empörung.

Die Hausmeister, pädagogischen Assistenten, Kleinkind-Erzieher/innen, Bibliothekare und Verwaltungsangestellten hatten letzten Freitag die Arbeit niedergelegt und sich damit einem drakonischen Antistreikgesetz („Gesetz 28“) widersetzt. Durch dieses Gesetz werden den Beschäftigten per Dekret der Regierung „Tarifabkommen“ aufgezwungen, die brutale Reallohnsenkungen beinhalten; zudem droht Jedem eine Geldstrafe von 4.000 Dollar für jeden Tag, an dem er sich an einem illegalen Streik beteiligt hat.

Als Eingeständnis, dass das Gesetz grundlegende demokratische Rechte mit Füßen tritt, berief sich Ford auf die sogenannte “Notwithstanding Clause”, eine reaktionäre Bestimmung in der kanadischen Verfassung, die es den Regierungen ermöglicht, Gesetze zu erlassen, die gegen die verfassungsmäßigen Rechte verstoßen, und die sie vor rechtlichen Anfechtungen schützt. Bei einer Pressekonferenz am Mittwoch gab Ford offen zu, dass er den Streik für „viel gefährlicher“ halte als einen Verstoß gegen die Rechte der kanadischen Bevölkerung durch das „Gesetz 28“.

Beschäftigte des Bildungswesens protestieren am 4. November 2022 vor dem Sitz der Provinzregierung von Ontario

Der Streik der Hilfskräfte im Bildungswesen hat einen breiteren Widerstand gegen die Spar- und Lohnsenkungspolitik der herrschenden Elite ausgelöst. Tausende von Arbeitern beteiligten sich am Samstag an Solidaritätsaktionen in der Provinz. Laut Umfragen unterstützt fast die Hälfte der Befragten Solidaritätsstreiks. Die vier Lehrergewerkschaften zwangen zwar die Lehrkräfte zum Streikbruch, aber unter den Lehrern entwickelte sich eine Rebellion, und viele nahmen an dem Kampf teil.

Die Intervention der Arbeiterklasse hat die politische Dynamik in Ontario geändert. Premierminister Ford galt zuvor als unangreifbare Führungspersönlichkeit, deren brutaler Angriff auf einige der am schlechtesten bezahlten Beschäftigten im Bildungswesen mit stillschweigender Billigung der Bevölkerung erfolgte. Am Montagmorgen sah er sich jedoch zu einem demütigenden Rückzug gezwungen und erklärte bei einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz, er werde das „Gesetz 28“ zurücknehmen, sollte CUPE den Streik beenden.

Dies tat die Gewerkschaft, ohne ihre Mitglieder dazu befragt zu haben. Der Abbruch des Streiks ist ein perfektes Beispiel dafür, wie der Gewerkschaftsapparat mit Zähnen und Klauen das „Recht“ gut bezahlter Bürokraten, mit der Regierung Ausverkäufe auszuhandeln, verteidigt, während er jeden wirksamen Kampf der Arbeiter für eine Lohnerhöhung über der Inflation sabotiert.

Es ist mittlerweile klar, dass die Ereignisse am Montag Teil eines sorgfältig zusammengeschusterten Deals zwischen Ford, den nationalen Führungen von Unifor, den Gewerkschaften der Baubranche und CUPE, sowie der Bürokraten waren, die die CUPE Ontario und den Ableger Ontario School Board Council of Unions (OSBCU) leiten. Der Toronto Star schrieb am Dienstag: „Laut Informanten haben die Gewerkschaften der Privatwirtschaft am Wochenende in Telefonaten mit Ford den Einsatz der „Notwithstanding Clause“ verurteilt und ihn aufgefordert, es sich noch einmal zu überlegen. Einige der gleichen Gewerkschaftsführer hatten Ford am Montag erneut angerufen, um ihm zu seinem Umdenken zu gratulieren.“

Bei einer Pressekonferenz am Dienstag erklärte Ford, die Verhandlungen mit der CUPE würden weitergehen, und er gab sich große Mühe, die Gewerkschaftsführung für ihre Sabotierung des Streiks zu loben: „Ich möchte einen besonderen Dank an CUPE Canada, Unifor und unsere Partner in der Privatwirtschaft richten, die uns geholfen haben, an den Verhandlungstisch zurückzukehren.“

Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, was Unifor-Präsidentin Lana Payne, CUPE-Präsident Mark Hancock und die anderen Gewerkschaftsbürokraten Ford am Wochenende per Telefon gesagt haben: „Ihr Versuch, mit Gewalt Reallohnsenkungen durchzusetzen, provoziert eine Rebellion in der Arbeiterklasse, die weder Sie noch wir kontrollieren können (...) Ziehen Sie ihr Antistreikgesetz zurück und lassen Sie an Ihrer Stelle lieber uns das Streikverbot in die Praxis umsetzen. Dann können wir uns wieder am Verhandlungstisch treffen und entscheiden, wie man diesen Arbeitern am besten einen Ausverkauf aufzwingt.“

Dass die Führungen der kanadischen Gewerkschaften genau dies im Sinn hatten, zeigte ein Tweet einer führenden Funktionärin der Ontario Secondary School Teachers Federation am Montag. Sie appellierte an Ford, darüber nachzudenken, „wie wir [von einem Generalstreik] wieder zurückrudern können (...) Das geht nicht von den Gewerkschaftsführern aus. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viele Nachrichten in meinem Posteingang und auf meinem Telefon sind. Das sind die Leute selbst.“

Die Grundlagen der erneuten Verhandlungen sind die massiven Zugeständnisse, welche die Gewerkschaft CUPE letzte Woche angeboten hatte. Verhandlungsführerin Laura Walton hatte die ursprüngliche Forderung nach einer jährlichen Lohnerhöhung von 11,7 Prozent mehr als halbiert. Berichten zufolge hat Ford sein Angebot leicht erhöht: Arbeiter, die weniger als 43.000 Dollar verdienen, sollen 3,5 Prozent statt 2,5 Prozent mehr Lohn erhalten. Allerdings beharrt er weiterhin darauf, dass alle anderen Arbeiter eine „Erhöhung“ von weniger als zwei Prozent hinnehmen müssen. Da die Inflation bei deutlich über sieben Prozent liegt, bedeutet dies eine riesige Lohnsenkung.

Der konzertierten Intervention der mächtigsten kanadischen Gewerkschaften am Wochenende ging ein Treffen zwischen dem liberalen Premierminister Justin Trudeau mit der Führung der Gewerkschaften des Bildungswesens von Ontario am letzten Freitagmorgen voraus. Danach erklärte Trudeau, seine Regierung erwäge „alle Optionen“, um den Streit zu beenden.

Trudeau, dessen Regierung seit ihrer Machtübernahme 2015 enge Beziehungen zur Gewerkschaftsbürokratie pflegt, äußerte sich in den Tagen vor dem Streik öffentlich zwar kritisch über Fords Anwendung der „Notwithstanding Clause“, jedoch nicht über seinen Versuch, den Arbeitern massive Lohnsenkungen aufzuzwingen. Das liegt daran, dass Trudeau und seine Liberalen sich nicht gegen brutale Lohnkürzungen und kapitalistische Sparmaßnahmen wenden. Ihr einziger Einwand gegen Fords Politik war, dass er die Gewerkschaftsbürokratie nicht zur Durchsetzung dieser Angriffe und zur Eindämmung der Opposition von unten nutzte.

Der Parteichef der oppositionellen sozialdemokratischen New Democratic Party (NDP) Jagmeet Singh, reagierte auf Fords drakonisches Antistreikgesetz, indem er Trudeau aufforderte, Maßnahmen zu ergreifen, einschließlich der möglichen Anwendung der 'Disallowance'-Befugnis der Bundesregierung, die zuletzt vor 80 Jahren angewandt worden war. Diese Befugnis hätte es ermöglicht, die Anwendung des Gesetzes zu untersagen.

Die Sozialdemokraten riefen natürlich nicht etwa zur Mobilisierung der Arbeiterklasse auf. Letzten Endes ging jedoch der Wunsch von Singh und der NDP in Erfüllung: Die Gewerkschaftsbürokratien intervenierten mit Trudeaus Unterstützung, machten dabei aber deutlich, dass ihr Hauptanliegen nicht die Unterstützung der Arbeiter war, die sich mutig gegen Fords drakonische Angriffe wehrten, sondern dass sie in erster Linie dessen Regierung retten wollten.

Die Rolle der kanadischen Gewerkschaften, der liberalen Bundesregierung und ihrer Anhängsel, der New Democratic Party, bei der Unterdrückung der aufkeimenden Generalstreikbewegung in Ontario ist ein vernichtendes Beispiel für das Bündnis zwischen Liberalen, Gewerkschaften und NDP. Seit einem Vierteljahrhundert wird es systematisch kultiviert, um den Klassenkampf zu unterdrücken.

Trudeaus liberale Minderheitsregierung ist momentan im Parlament auf die Unterstützung der NDP angewiesen, die im März ein „Vertrauens- und Unterstützungs“-Abkommen mit den Liberalen ausgehandelt hat. Der Deal hat Trudeau freie Hand gegeben, nach der Pandemie einen Sparkurs aufzunehmen, die Zinserhöhungen der Bank of Canada zu unterstützen, um die Arbeitslosigkeit in die Höhe zu treiben und die wachsende Streikwelle zu schwächen, die Militärausgaben zu erhöhen und im Interesse des kanadischen Imperialismus Krieg im Ausland zu führen.

Die Trudeau-Regierung ist ein wichtiger Akteur im Nato-Krieg gegen Russland. Sie wird in Kürze ihre Indopazifik-Strategie veröffentlichen, die in enger Zusammenarbeit mit Washington ausformuliert wurde und Kanada eng hinter die umfangreiche diplomatische, wirtschaftliche und militärisch-sicherheitspolitische Offensive des US-Imperialismus gegen China stellt.

Die Sabotage der Gewerkschaften an dem Bildungsstreik in Ontario und der Bewegung für einen Generalstreik hat das Schulhilfspersonal in ihrem Arbeitskampf und die ganze Arbeiterklasse deutlich geschwächt. Aber der Kampf ist nicht vorbei. Die Arbeiter sind wütend über den Verrat der CUPE und suchen Möglichkeiten, den Kampf fortzuführen.

Wie ein Arbeiter in einem weit verbreiteten Tweet schrieb: „Sollten die Mitglieder etwa nicht zustimmen, um eine so wichtige Entscheidung zu treffen? Hätten sie [die Bürokraten] für die Beendigung des Protests gestimmt, auch ohne dass der Gesetzentwurf überhaupt zurückgenommen wurde und ohne Garantien oder Bedingungen? Stehen die Interessen der Gewerkschaftsführung mit denen ihrer Mitglieder im Einklang?“

Die weit verbreitete Wut über den Verrat der CUPE muss zu einer bewussten Strategie mit dem Ziel führen, den Gewerkschaftsbürokraten die Kontrolle über den Kampf zu entreißen und sie in die Hände der Belegschaften zu legen. Das Ontario Education Workers Rank-and-File Committee, das Bildungs-Aktionskomitee von Ontario, führt diesen Kampf. Es hat am Montagnachmittag eine Erklärung veröffentlicht, in der es die Entscheidung der CUPE zum Abbruch des Streiks verurteilt. Die Erklärung stieß auf große Resonanz.

In der Erklärung heißt es:

Lasst euch von der CLC, der OFL, den vier Lehrergewerkschaften und der CUPE/OSBCU nicht den sicheren Sieg abspenstig machen. Bei Verhandlungen mit Ford und (Bildungsminister) Lecce wird es nur darum gehen, die Bedingungen unserer Kapitulation auszuhandeln. Das Ergebnis werden Tarifverträge sein, die weder die Reallohnsenkungen der letzten Jahre rückgängig machen, noch das öffentliche Bildungswesen verteidigen oder irgendeine andere unserer Forderungen erfüllen. Lohnerhöhungen über der Inflationsrate und Investitionen ins Bildungswesen in Milliardenhöhe lassen sich nur durch den Aufbau einer Massenbewegung zur Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Sparpolitik durchsetzen.

Lehrkräfte und Arbeiter müssen sich den Beschäftigten im Bildungswesen anschließen und einen Generalstreik vorbereiten. Alle Arbeiter haben ein Interesse daran, das öffentliche Bildungswesen zu verteidigen und die Regierung daran zu hindern, einen Präzedenzfall für Verträge zur Reallohnkürzung zu schaffen, wie sie es mit dem nicht aufgehobenen Gesetzentwurf 124 getan hat.

Um den Sieg zu erringen, müssen wir den korporatistischen Gewerkschaftsapparaten die Führung unseres Kampfes entreißen, indem wir Aktionskomitees bilden, die die Beschäftigten des Bildungswesens über alles Trennende hinweg in den Schulen und an allen Arbeitsplätzen, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor, vereinen.

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