Am Montag gab Verdi das Ergebnis der Mitgliederbefragung zum Verhandlungsergebnis vom 22. April bekannt. Danach haben „knapp 66 Prozent“ der Verdi-Mitglieder in Bundesverwaltungen, Behörden, kommunalen Einrichtungen und Betrieben für eine Annahme gestimmt. Das wird jetzt auf allen Medien als große Zustimmung gewertet.
Was davon zu halten ist, haben einige Kollegen, die Hintergrundzahlen haben, auf Facebook gepostet. Danach haben sich nur 27 Prozent der Verdi-Mitglieder an der Abstimmung beteiligt. Das bedeutet, bei 66 Prozent Zustimmung haben also gerade einmal 17,8 Prozent der Mitgliedschaft zugestimmt.
Das ist auch für unsere Kolleginnen und Kollegen bei der Post interessant. Wenn bei einer Online-Abstimmung, die zumindest auf der Website, in Flyern und in den Sozialen Medien von Verdi angekündigt wurde, sich so wenig beteiligt haben, dann waren es bei der Post bestimmt noch weniger.
Die Bundestarifkommission für den öffentlichen Dienst (BTK öD) verschob auf ihrer Sitzung am Montag trotzdem ihre Entscheidung. Nicht etwa deshalb, weil sie Zweifel am Abstimmungsverfahren hatte, sondern weil der kommunale Arbeitgeberverband (KAV) Sachsen die Übertragung des Tarifergebnisses auf den sächsischen Nahverkehr ablehnte.
Die Weigerung von Verdi, einen Erzwingungsstreik zu organisieren, um die ursprüngliche Forderung nach einer echten, das heißt tabellarischen Tariferhöhung von 500 Euro oder 10,5 Prozent bei einer Laufzeit von 12 Monaten voll durchzusetzen, ermutigt die aggressivsten Vertreter der Arbeitgeber zu immer schärferen Attacken auf Löhne und Arbeitsbedingungen.
Das Verhandlungsergebnis, das nun mit der Zustimmung der Bundestarifkommission zum Tarifvertrag werden soll, ist eine einzige Provokation. Entsprechend wütend sind Kommentare in den Sozialen Netzwerken.
Fred G. schreibt auf Facebook: „Ich kenne keinen, der diesen Abschluss gut findet.“ Markus antwortet auf einen Verdi-Tweet: „Nach dem miesen Abschluss in der letzten Tarifrunde jetzt eine Zustimmung zu diesem schlechten Abschluss. Langsam stellt sich echt die Frage, ob Verdi und dbb Beamtenbund noch die richtigen Vertreter für Beschäftigte im öffentlichen Dienst sind.“ Dieser Tweet erhielt 353 rote Herzen für Zustimmung. Ein anderer erklärt unter dem Verdi-Tweet seinen Austritt: „Das war’s für mich bei euch, Verdi – und zwar ganz unabhängig von der Mitgliederbefragung. Und ich werde auch nie mehr Mitglied in einer Gewerkschaft werden. Ihr habt doch nicht mehr alle Tassen im Schrank.“
Die Wut ist berechtigt. Angesichts einer Inflation bei Energie und Lebensmitteln von etwa 20 Prozent und explodierenden Mieten sollen die Beschäftigten im öffentlichen Dienst – die in den vergangenen drei Jahren unter den schwierigen Arbeitsbedingungen der Pandemie das öffentliche Leben aufrechterhalten haben – bis einschließlich Februar 2024 überhaupt keine tabellenwirksame Lohnerhöhung erhalten!
Diese größte Reallohnkürzung in der bundesdeutschen Geschichte soll durch eine Inflationsausgleichszahlung von 3.000 Euro abgefedert werden, die in monatlichen Raten ausgezahlt wird. Doch diese Zahlungen sind ein Ausgleich für die rapiden Preissteigerungen der vergangenen Jahre und keine Lohnerhöhung. Nachdem diese Ausgleichszahlung aufgebraucht ist, steigen die Preise weiter, während die Löhne auf dem niedrigen Niveau bleiben.
Die tabellenwirksame Lohnerhöhung kommt erst im März 2024, wenn die Preise weiter gestiegen sein werden, und ist auch dann extrem niedrig. Statt der geforderten 500 Euro oder 10,5 Prozent bei zwölf Monaten Laufzeit – was schon viel zu wenig gewesen wäre, um die Inflation ernsthaft auszugleichen – sollen sich die Beschäftigten im öffentlichen Dienst jetzt mit 200 Euro plus 5,5 Prozent, mindestens 340 Euro mehr bei einer Laufzeit von 24 Monaten zufrieden geben. Auf zwölf Monate gerechnet sind das nur mindestens 170 statt 500 Euro!
Nimmt man die jüngsten Tarifverhandlungen seit Jahresanfang im öffentlichen Dienst, bei der Post und die noch laufenden Verhandlungen der Eisenbahnergewerkschaft (EVG), die am Wochenende einem gerichtlichen Vergleich zugestimmt und damit auch einen Ausverkauf eingeleitet hat, dann ergibt sich ein sehr klares Bild:
- Verdi, EVG aber auch alle anderen Gewerkschaften sehen ihre Hauptaufgabe darin, einen ernsthaften Erzwingungsstreik zur Durchsetzung der notwendigen Lohnerhöhungen angesichts grassierender Inflation, sowie Verbesserungen der Arbeitsbedingungen zu verhindern. Sie sind eng mit der Regierung verbunden, unterstützen die Forderung nach Reallohnsenkung, um die Kosten für die Sanierung der Konzerne, die Unterstützung der superreichen Oligarchen und die Finanzierung der militärischen Aufrüstung auf die Bevölkerung abzuwälzen.
- Verdi und alle anderen Gewerkschaften sind Teil des Managements und der Unternehmensleitung. Tausende Gewerkschaftsfunktionäre sitzen in den Aufsichtsräten und arbeiten in den Ausschüssen als Co-Manager. Sie betrachten alle Probleme aus dem gleichen Blickwinkel wie die Kapitaleigner und handeln als Unternehmensberater für die Gestaltung von Lohn- und Sozialabbau. Dafür werden sie über die Aufsichtsratstantiemen und sonstige Zuwendungen und Privilegien fürstlich entlohnt. Nicht selten übernehmen sie hohe Posten in den kommunalen Unternehmen und erhalten sechsstellige Jahresgehälter.
- Die Gewerkschaften reagieren auf die weltweite Verschärfung des Klassenkampfs, indem sie noch enger mit der Regierung und den Konzernen zusammenarbeiten und ihre Diktatur in den Betrieben verschärfen. Die Streiks, Massendemonstrationen und Straßenschlachten in Frankreich gegen die verhasste Macron-Regierung hat sie zutiefst erschreckt. Ihr Ziel ist es, den Klassenkampf zu unterdrücken und jede selbstständige Regung von Arbeitern zu verhindern. Ihre europaweiten und internationalen Apparate dienen nicht der internationalen Zusammenarbeit, sondern der nationalen Spaltung. Der Krieg in der Ukraine und die wachsende Konfrontation der Nato gegen Russland hat diese Politik des „Burgfriedens“ und das Schüren nationalistischer Stimmungen noch verschärft.
Daraus ergibt sich die dringende Aufgabe, unsere unabhängigen Aktionskomitees intensiv bekannt zu machen und aufzubauen.
Wir haben bereits mehrfach betont, dass wir als Aktionskomitees zwei grundlegende Prinzipien vertreten: Erstens kämpfen wir für die konsequente und volle Durchsetzung unserer Interessen und Forderungen. Wir sind nicht bereit unser Grundrecht auf angemessenen Lohn und vernünftige und gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen den Profitinteressen der Konzerne und der Kriegspolitik der Regierung unterzuordnen. Wir betteln nicht um Almosen, wir kämpfen für unsere Rechte.
Das zweite Prinzip ist unsere unerschütterliche internationale Solidarität und Zusammenarbeit. Wir wissen, dass wir Arbeiterinnen und Arbeiter in allen Ländern gleiche oder ähnliche Probleme haben und streben einen gemeinsamen Kampf an. Gegen multinationale Konzerne und Regierungen muss man europaweit und international zusammenarbeiten.
Viele Kolleginnen und Kollegen der Stadtreinigung, Pflegerinnen und Pfleger und viele andere Beschäftigte im öffentlichen Dienst, bei der Post und bei der Bahn wissen sehr gut, dass wir Beschäftigten die entscheidende Rolle zur Aufrechterhaltung der Gesellschaft und der so genannten öffentlichen Daseinsvorsorge spielen. Wir verfügen über eine große Kampfkraft und wir sind stärker als der bürokratische Apparat von Verdi. Aber diese Stärke muss mit einer klaren politischen Perspektive und unabhängigen Organisation verbunden werden.
Deshalb ist der Aufbau der Aktionskomitees so wichtig. Unsere Tarifkämpfe – im öffentlichen Dienst, bei Post und Bahn und in vielen anderen Bereichen – sind Teil einer wachsenden Bewegung, die sich in ganz Europa und weltweit entwickelt.
In Frankreich haben in den vergangenen Monaten Millionen gegen Macrons Rentenkürzungen demonstriert, und obwohl Macron die Kürzungen mit diktatorischen Maßnahmen durchgesetzt hat, hält der Widerstand immer noch an. In Großbritannien streiken Hunderttausende gegen Lohnkürzungen und Streikverbote. Während unserem letzten gemeinsamen Treffen der Aktionskomitees berichtete ein Kollege aus Sheffield darüber, dass die Postarbeiter in Großbritannien exakt die selben Probleme mit der Gewerkschaft haben wie wir. Er betonte, wie wichtige die internationale Zusammenarbeit ist. Auch in Spanien, Portugal, Belgien und den Niederlanden kam und kommt es zu ausgedehnten Streiks.
Die wichtigste Aufgabe besteht jetzt darin, diese Kämpfe zu einer bewussten europäischen und internationalen Bewegung zu machen, die sich gegen Ausbeutung, Kapitalismus und Krieg richtet.
Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dass kein gesellschaftliches Problem gelöst werden kann, ohne die Macht der Konzerne, Banken und der ganzen Finanzoligarchie zu brechen. Die großen Vermögen müssen enteignet und die Wirtschaft in den Dienst der gesellschaftlichen Bedürfnisse statt der Befriedigung der Profitansprüche der Reichen gestellt werden.