Mit einem groß angelegten Leitartikel, der am Mittwoch von der Redaktion der New York Times unter der Überschrift „America Is Living on Borrowed Money“ (Amerika lebt von geliehenem Geld) veröffentlicht wurde, gibt Das führende Medienorgan, das der Demokratischen Partei nahesteht, gibt damit das Signal für einen umfassenden Angriff auf die Sozialleistungen arbeitender Menschen, insbesondere auf die Sozialversicherung und Medicare, die beiden größten Sozialprogramme.
Das Editorial ist zutiefst unehrlich, wenn es suggeriert, über den Anstieg der Zinszahlungen an Investoren besorgt zu sein: „Anstatt die Reichen zu besteuern, bezahlt die Regierung sie dafür, sich ihr Geld zu leihen.“ Dann beklagen die Autoren die Weigerung der Republikaner, die Steuern für die Reichen zu erhöhen.
Nach diesen populistischen Vorspiegelungen wird der eigentliche Punkt erst am Ende des Artikels hineingeschmuggelt:
Die Demokraten müssen anerkennen, dass Änderungen an der Sozialversicherung und an Medicare, den Haupttreibern für das künftige Wachstum der Bundesausgaben, auf dem Tisch liegen sollten. Alles andere wird sich als fiskalisch unhaltbar erweisen. Das wird schmerzhafte Entscheidungen erfordern.
Der einzige Zweck des Editorials besteht zweifellos darin, die Notwendigkeit dessen zu verdeutlichen, was in den Denkfabriken, die die politischen Optionen der herrschenden Klasse der USA untersuchen, euphemistisch als „Reform der Sozialleistungen“ bezeichnet wird. Im Klartext bedeutet dies die Streichung der beiden wichtigsten Programme, auf die Millionen von älteren Menschen und Rentnern für ihr Einkommen und ihre Krankenversicherung angewiesen sind.
Besonders zynisch ist der Verweis auf die Sozialversicherung und Medicare als „Haupttreiber für das künftige Wachstum der Bundesausgaben“. Er läuft auf das unterschwellige Eingeständnis hinaus, dass diese Programme nicht die Ursache für den massiven Anstieg der Bundesverschuldung in den letzten 25 Jahren gewesen sind. Dessen ungeachtet behauptet er, dass die Ausgaben angeblich zukünftig diese Rolle spielen werden. Das Editorial erwähnt jedoch weder die zahlreichen Rettungsaktionen für die Wall Street und das Bankensystem noch die massiven Ausgaben für die Kriege der letzten drei Jahrzehnte. In seiner Warnung vor einem künftigen Wachstum des Defizits geht er nicht auf die Zusage von Präsident Biden ein, den Krieg der USA und der Nato gegen Russland in der Ukraine „so lange wie nötig“ zu finanzieren.
Das Editorial widerspricht damit einer aufschlussreichen Analyse, die erst vor sechs Monaten in der Times selbst veröffentlicht wurde. Damals schöpfte die Bundesregierung erstmals ihre Kreditaufnahmebefugnis aus, was zu einer künstlich fabrizierten Krise über die Schuldenobergrenze führte. Die Studie wurde am 22. Januar unter der Überschrift „How the US Government Amassed $31 Trillion in Debt“ (Wie die US-Regierung 31 Billionen Dollar Schulden angehäuft hat) veröffentlicht und enthielt eine sachliche Darstellung der tatsächlichen Quellen der angehäuften Defizite.
Die US-Bundesverschuldung stieg von rund 5 Billionen Dollar bei Amtsantritt von George W. Bush im Januar 2001 auf 31,4 Billionen Dollar im Januar 2023 (also rund 22 Jahre später), was einem durchschnittlichen Anstieg von 1,2 Billionen Dollar pro Jahr entspricht. Die Faktoren, die zum Anstieg der Schulden beitragen, lassen sich kurz zusammenfassen:
Die Kriege im Irak, in Syrien und Afghanistan und andere Operationen im Zusammenhang mit dem „Krieg gegen den Terror“ haben 6 Billionen Dollar gekostet. Darin nicht enthalten sind die Kosten für den Krieg gegen Russland in der Ukraine, die militärische Aufrüstung gegen China im asiatisch-pazifischen Raum oder die laufenden Kosten für die Aufrechterhaltung des riesigen US-Militärapparats weltweit, die sich inzwischen auf 1 Billion Dollar pro Jahr belaufen.
Die Steuersenkungen, vor allem für die Reichen, haben weit über 7 Billionen Dollar gekostet. Eine Studie ergab, dass die 2001 und 2003 verabschiedeten Steuersenkungen der Bush-Regierung von 2001 bis 2018 zu Mindereinnahmen von 5,6 Billionen Dollar führten. Sie werden fortgeschrieben aufgrund einer Vereinbarung aus dem Jahr 2012 zwischen der Obama-Regierung und den Republikanern im Repräsentantenhaus. Sie behält den größten Teil des ursprünglichen Pakets bei, sodass es zu zusätzlichen Einnahmeverlusten gekommen ist. Die Steuersenkungen der Trump-Regierung, die Ende 2017 in Kraft traten, haben weitere 1,2 Billionen Dollar gekostet und gelten auch unter der Biden-Regierung weiter.
Die Rettungspakete für die Wall Street und das gesamte Finanzsystem haben 5,7 Billionen Dollar gekostet: 800 Milliarden Dollar im Zuge des Crashs von 2008, die von einem demokratischen Kongress unter der Obama-Regierung bereitgestellt wurden; 3 Billionen Dollar im Jahr 2020 durch den CARES Act, der auf parteiübergreifender Basis verabschiedet und von Trump unterzeichnet wurde; und 1,9 Billionen Dollar durch Bidens American Recovery Act, die zweite Runde der Rettungsaktionen im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie.
Die Times kam in ihrer Analyse im Januar zu dem Schluss: „Die größten – und oft parteiübergreifend gefassten – Schuldentreiber waren die Reaktionen des Bundes auf zwei drastische wirtschaftliche Abschwünge: die Finanzkrise 2008 und die Pandemie-Rezession 2020.“
Doch am Mittwoch erwähnten die Lügner in der Times-Redaktion die Rettungsaktionen für die Finanzaristokratie mit keinem Wort. Hinzu kommen mindestens 5 Billionen Dollar an Zinskosten in diesem Zeitraum, was im Editorial der Times mit den Worten „die Regierung bezahlt die Reichen dafür, sich ihr Geld zu leihen“ quittiert wird.
Die Sozialausgaben trugen dagegen nur geringfügig zu dem Anstieg bei. Die Times-Analyse vom Januar stellte fest, dass die Medicare-Ausgaben um bis zu 100 Milliarden Dollar pro Jahr gestiegen seien, weil Bush eine zusätzliche Leistung für verschreibungspflichtige Medikamente einführte, während Obamas Affordable Care Act die Medicare-Ausgaben im Vergleich zu früheren Prognosen in Wirklichkeit gesenkt habe.
Die diskretionären Sozialausgaben (für Bildung, Verkehr, Wohnungsbau, Umwelt und ähnliche Programme) sind ein so kleiner Bestandteil des Gesamthaushalts, dass sie in der Times-Analyse nicht einmal erwähnt werden. Diese Ausgabenkategorie ist im Rahmen der Vereinbarung zwischen Obama und den Republikanern von 2012 erheblich zurückgegangen.
Die vier Hauptursachen für Haushaltsdefizite – Kriege, Steuersenkungen, Rettungspakete und Zinszahlungen – sind für fast 24 der 26 Billionen Dollar verantwortlich, um die die Gesamtverschuldung der Bundesregierung seit dem Jahr 2000 angestiegen ist. Aus Sicht der herrschenden Klasse erfüllt der Bundeshaushalt zwei Zwecke: imperialistische Aggressionen zu finanzieren und ihre eigenen Taschen mit unermesslichem Reichtum zu füllen.
Die bescheidenen Einkommen von Rentnern und behinderten Menschen betrachtet sie dabei als extravagant und unerträglich – ein Gefühl, das zweifellos durch den erheblichen Anstieg der Sozialversicherungszahlungen aufgrund der beschleunigten Inflation in diesem Jahr noch verstärkt wird. Die amerikanischen Unternehmen haben in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften den Ausgleich der Lebenshaltungskosten für die meisten Arbeiter abgeschafft, doch die Rentner erhalten in der Sozialversicherung immer noch eine jährliche Erhöhung, die die steigenden Preise zum Teil ausgleicht.
Die Analyse, die in der Times vor sechs Monaten veröffentlicht wurde, lässt eine Blaupause erkennen, mit der die Arbeiterklasse auf das Gejammer über den Bankrott der Bundesregierung reagieren kann. Arbeiter sollten auf die Forderung nach Opfern antworten, indem sie erklären, dass diejenigen, die die Vereinigten Staaten finanziell in den Ruin getrieben haben, für die Folgen aufkommen sollten – nicht die arbeitende Bevölkerung.
Die Parasiten, aus denen die herrschende Klasse besteht, sollten enteignet werden, und zwar durch die Verstaatlichung der Banken, der Hedge-Fonds und des Finanzsystems insgesamt, sowie durch die Beschlagnahmung der Privatvermögen der Milliardäre und Multimillionäre. Das Finanzsystem sollte unter der demokratischen Kontrolle der Arbeiterklasse reorganisiert und alle Bücher sollten geöffnet werden, um alle Operationen transparent und nachvollziehbar zu machen und die allgegenwärtige Korruption und kriminelle Manipulation durch die Superreichen zu beenden.
Die Kriegsmaschinerie des Pentagons sollte auseinandergenommen werden, kombiniert mit einem Ende aller US-Militäroperationen in Übersee und einem Stopp der US-Militärhilfe und der wirtschaftlichen Unterstützung für Diktaturen und rechte Regime: Ukraine, Israel, Ägypten, die Golfmonarchien und dergleichen.
Es gibt eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen dem derzeitigen Bankrott der amerikanischen Regierung und der Krise der Monarchie in Frankreich am Vorabend der großen Revolution von 1789. König Ludwig XVI. sah sich gezwungen, die Generalstände einzuberufen, um zusätzliche Einnahmen zu erhalten, da sein Regime durch endlose Kriege und die Verschwendungssucht und Misswirtschaft des herrschenden Adels in den Ruin getrieben worden war. Er verlor bald seinen Kopf, und die Adeligen verloren ihre Ländereien.
Es gibt auch einen zeitgenössischen Bezugspunkt. Während der Hochzeit des liberalen Sozialreformismus Mitte der 1960er Jahre gab es im politischen Establishment der USA eine heftige Debatte über den Bundeshaushalt. Die Ausgaben für den Vietnamkrieg schränkten die Möglichkeiten von Lyndon Johnsons Regierung ein, „Great Society“-Programme wie die damals eingeführten Programme Medicare und Medicaid, ganz zu schweigen von dem gesamten Komplex von Johnsons angeblichem „Krieg gegen die Armut“.
Die Debatte stand unter dem Motto „Waffen oder Butter“. Johnson versuchte zunächst, beides zu haben, indem er immer höhere Summen für den völkermörderischen Krieg gegen die vietnamesische Revolution ausgab, während er gleichzeitig den Wohlfahrtsstaat im eigenen Land ausbaute. Doch der Widerspruch brachte seine Reformversprechen und schließlich seine gesamte Regierung zum Scheitern.
Heute gibt es innerhalb der herrschenden Elite keine Debatte mehr. Sie hat sich eindeutig für Militarismus und Krieg entschieden, gegen Russland in der Ukraine und – was sich am Horizont abzeichnet – gegen China in der riesigen indo-pazifischen Region, in der mehr als die Hälfte der Menschheit lebt. Das Editorial der Times zeigt, dass kein Element der herrschenden Klasse eine progressive Lösung für diese Krise anzubieten hat.
Diese Aufgabe fällt der Arbeiterklasse zu, durch den Aufbau einer revolutionären Massenbewegung auf der Grundlage eines sozialistischen Programms.