Dieser Artikel ist dem Gedenken an Wolfgang Weber (1949–2024) gewidmet. Er hat bis zu seinem Tod im vergangenen Jahr an der Vorbereitung und Diskussion dieses Artikelprojekts teilgenommen.
Anlässlich des 85. Jahrestags des Hitler-Stalin-Pakts wurde Ende August letzten Jahres im Museum Berlin-Karlshorst (vormals Deutsch-Russisches Museum) die Wanderausstellung „Riss durch Europa. Die Folgen des Hitler-Stalin-Pakts“ eröffnet. Ein gleichnamiger Begleitband erschien einen Monat später.
Ausgerechnet in diesem Museum – am Ort der Kapitulation der deutschen Wehrmachtsführung vor der Roten Armee im Mai 1945 – wird mit der neuen Ausstellung die Geschichte des Zweiten Weltkriegs verdreht und im Sinne der heutigen deutschen Kriegsinteressen im Nato-Stellvertreterkrieg gegen Russland umgeschrieben.
Die Wanderausstellung, die in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Prof. Dr. Anke Hilbrenner) entwickelt wurde, ist zwar klein und füllt nur einen Nebenraum des Museums. Sie soll aber über verschiedene Wege die Breite der Gesellschaft erreichen. So war sie bereits in Düsseldorf und Lüneburg ausgestellt. Es war angekündigt, sie als Handreichung für den Schulunterricht von der Bundeszentrale für politische Bildung digital bereitzustellen. Anfang 2025 wanderte sie weiter in die Ukraine. Sie erhielt staatliche Förderung, u. a. von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, Claudia Roth (Grüne), und vom Bildungsministerium NRW.
In Berlin wurde die Ausstellung erst in deutscher und englischer Sprache, ab der Hälfte der Laufzeit ausschließlich auf Ukrainisch und Englisch gezeigt; eine Darstellung in russischer Sprache fehlte, obwohl das Museum sonst deutsch- und russischsprachig ist. Die Ausklammerung der russischen Sprache ist Teil der Angriffe auf die russische Kultur, die seit dem Einmarsch des Putin-Regimes in die Ukraine im Februar 2022 von deutschen Medien und Institutionen ausgehen. Vor dem Museum weht demonstrativ die ukrainische Flagge; der alte Name „Deutsch-Russisches Museum“ wurde geändert.
Zwei der Herausgeber des Ausstellungsbands – Hilbrenner und der Museumsleiter Jörg Morré – sind Mitglieder der deutsch-russischen Geschichtskommission, die ihre Zusammenarbeit im Februar 2022 ebenfalls auf Eis gelegt hat. Zur deutschen Seite der Kommission gehören auch die bekannten rechten Militaristen Jörg Baberowski (Humboldt-Universität Berlin) und Sönke Neitzel (Universität Potsdam).
Das Ausstellungsprojekt ist der jüngste Baustein in einer umfassenderen Kampagne des Geschichtsrevisionismus, die bereits seit Jahren im Gange ist. Das Ziel ist es, vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Kriegseskalation in Osteuropa und weltweit ein rechtes Narrativ über den Zweiten Weltkrieg zu etablieren.
Im Mittelpunkt steht der Nichtangriffspakt, der am 23. August 1939 zwischen dem Nazi-Regime und der stalinistischen Führung in der Sowjetunion geschlossen wurde und nach den unterzeichnenden Außenministern auch als Molotow-Ribbentrop-Pakt bekannt ist. Er erleichterte den Nationalsozialisten die Vorbereitung auf den lang geplanten Ostfeldzug, den die Wehrmacht mit ihrem Überfall auf Polen am 1. September 1939 begann. Am 17. September besetzte die Rote Armee das östliche Polen.
Weniger als zwei Jahre später, im Juni 1941, rollten deutsche Panzer Richtung Moskau. Unter dem Decknamen „Operation Barbarossa“ führte das NS-Regime einen Vernichtungskrieg gegen die UdSSR, der mehr als 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben kostete und die NS-Mordmaschinerie dramatisch beschleunigte. Sechs Millionen Juden und Millionen weitere Menschen wurden in den folgenden Jahren von Hitlers Schergen in Konzentrations- und Vernichtungslagern ausgebeutet und vergast, in Massenerschießungen hingerichtet, systematisch ausgehungert und misshandelt.
Der Holocaust, die Vernichtungspolitik der Nazis in ganz Europa und die verheerenden Folgen von Krieg und Bombenhagel sind tief in der Erinnerung der internationalen Arbeiterklasse verankert. Einige dieser Verbrechen hat das Museum Karlshorst in seiner Dauerausstellung und einzelnen Veranstaltungen thematisiert, etwa zur Leningrader Blockade, der Befreiung des Konzentrationslagers Majdanek in Polen oder dem Massenmord in Osaritschi in Belarus 1944.
Die Wanderausstellung „Riss durch Europa“ hingegen versucht, dieser Erinnerung der Arbeiterklasse eine nationalistische Erinnerungskultur in den osteuropäischen und baltischen Staaten entgegenzusetzen. Diese wird kurzerhand zur Erinnerungskultur der ganzen Gesellschaft in diesen Ländern erklärt. In Wirklichkeit ist es die „Erinnerungskultur“ bestimmter rechter und faschistischer Kräfte und Parteien, die ihre Vorbilder in den Kollaborateuren mit der Wehrmacht und der SS im Krieg gegen die Sowjetunion und beim Massenmord an Juden und anderen nationalen Minderheiten ihres jeweiligen Landes sehen und ihre Tradition darauf zurückführen.
Der Geschichtsrevisionismus dreht sich um zwei Hauptachsen:
Erstens wird der Hitler-Stalin-Pakt genutzt, um eine Schuldumkehr zu betreiben. Da die Sowjetunion den Pakt unterzeichnet hat und gemäß des geheimen Zusatzprotokolls zur Aufteilung Polens selbst Gebiete in Osteuropa besetzte, sei sie in Wirklichkeit für den Beginn des Zweiten Weltkriegs und seine Folgen verantwortlich. Die New York Times verbreitete diese Lüge vor über einem Jahr ganz ungeniert, um den rechtsextremen ukrainischen Nationalismus im Nato-Stellvertreterkrieg gegen Russland zu stärken.
Die Sowjetunion sei ein Aggressor gewesen, der ebenso wie das NS-Regime imperialistische und koloniale Interessen verfolgt habe, so lautet auch die Argumentation im Ausstellungsband. An mehreren Stellen wird nahegelegt, dass die Kommunisten schlimmer, brutaler und gefährlicher gewesen seien als die Nationalsozialisten.
Denkt man diese Position zu Ende, so landet man bei einer Neuauflage der Geschichtslüge vom Präventiv- bzw. Verteidigungskrieg Deutschlands. Wenn die Sowjetunion tatsächlich 1939 imperialistischer Kriegsaggressor und -verursacher war, ließe sich dann nicht mit Fug und Recht behaupten, dass Hitlers Armee zwei Jahre später aus defensiven Gründen gen Moskau marschierte, um den Gegner rechtzeitig von einem Angriff auf Deutschland abzuhalten? Handelte es sich gar um einen präventiven bzw. defensiven Krieg gegen den „Feind im Osten“?
Die Präventivkriegsthese wurde seit Hitlers Zeiten immer wieder hervorgeholt, um die historische Tatsache zu revidieren, dass das NS-Regime einen systematischen und geplanten Angriffskrieg führte – der Hauptanklagepunkt in den Nürnberger Prozessen 1945. Die These ist zwar längst wissenschaftlich widerlegt und wird in der Ausstellung nicht offen vertreten. Aber die Verfälschung des Hitler-Stalin-Pakts läuft letztlich darauf hinaus und folgt damit einer definitiven politischen Logik.
Der heutige aggressive Militarismus Deutschlands wird der Bevölkerung als defensive und präventive Politik verkauft. Die herrschende Klasse verschleiert ihre geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen im Ukrainekrieg hinter einer vermeintlich notwendigen „Verteidigung“ gegen den gefährlichen Aggressor in Moskau. Hierfür braucht sie die Flanke an der „historischen Front“.
Zweitens finden eine gezielte Verharmlosung und Ausblendung der NS-Verbrechen statt. Im Ausstellungsband wird der Holocaust an zentralen Stellen relativiert. Der Vernichtungskrieg der Nazis wird nur wenig thematisiert; der „Generalplan Ost“ – die Blaupause für den Krieg – nicht einmal erwähnt.
Während deutsche Politiker und Journalisten jetzt mit dem zynischen Verweis auf den Holocaust den anhaltenden Völkermord des israelischen Regimes in Gaza rechtfertigen, unterstützen sie gleichzeitig die Relativierung der Nazi-Verbrechen, die in den letzten Jahren salonfähig gemacht wurde.
2018 behauptete der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland, Hitler und die Nazis seien nur „ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ gewesen. Was schon lange von der AfD und rechtsradikalen Ideologen in ihrem Dunstkreis vertreten wird, hat in den letzten Jahren die Hörsäle und Museen erreicht.
Eine Schlüsselfigur ist hier der Geschichtsprofessor Jörg Baberowski von der Berliner Humboldt-Universität, der 2014 im Spiegel erklärte, dass Hitler nicht grausam gewesen sei, und den Holocaust mit Massenerschießungen im Russischen Bürgerkrieg gleichsetzte. Stalin und die Rote Armee hätten der Wehrmacht den Vernichtungskrieg aufgezwungen, so Baberowski. Er knüpft damit an die rechtsextremen Positionen des NS-Apologeten Ernst Nolte an, der im „Historikerstreit“ der 1980er Jahren wissenschaftlich zurückgewiesen worden war.
Etwa zeitgleich zu Baberowskis Vorstoß erschien 2015 die deutsche Ausgabe des Buchs Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin des rechten US-amerikanischen Akademikers Timothy Snyder, der eine wichtige Rolle bei der Rechtfertigung des imperialistischen Stellvertreterkriegs gegen Russland in der Ukraine spielt.
Wie die WSWS aufgezeigt hat, behauptet Snyder, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus eine Reaktion auf die Verbrechen Stalins in der Sowjetukraine in den Jahren 1932–1933 gewesen seien. Den Hitler-Stalin-Pakt stellt er als Abkommen zwischen zwei gleichermaßen imperialen, räuberischen Regimen dar. Der Ausstellungsband stützt sich auf Snyders Buch und zählt es in der ersten Fußnote zu den „einschlägigen Publikationen“.
Während sich Deutschland ideologisch auf neue Kriege vorbereitete, unterstützte es 2014 einen rechten Putsch in der Ukraine. Damit begann ein Bürgerkrieg, der bis 2022 – also bereits vor dem offenen Krieg mit Russland – über 14.000 Todesopfer forderte.
Heute findet der Geschichtsrevisionismus mitten im Krieg statt. Tausende junge Ukrainer und Russen werden in den Schützengräben verheizt. In Gaza sind zehntausende Palästinenser dem Völkermord der israelischen Regierung zum Opfer gefallen.
Auch die Herausgeber selbst stellen den Ausstellungsband in den Kontext der aktuellen Kriegsentwicklung. Er sei unter dem Eindruck des „völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine seit 2014“ entstanden. Immer wieder wird der Bogen von der UdSSR zum heutigen Russland geschlagen, deren „imperiale Großmachtpolitik“ die osteuropäischen Länder beeinflusse.[1]
Der Buchbeitrag zur Ukraine endet mit einem Appell für den Krieg: „Diesmal werden die Ukraine und andere Teile Ostmitteleuropas nicht wieder eine ‚Interessensphäre‘ sein. Die europäischen Länder haben hoffentlich die historische Lektion gelernt und unterstützen die Ukraine in ihrem Kampf um Unabhängigkeit.“[2]
Tatsächlich sind die Ukraine und die anderen Länder der Region längst eine „Interessensphäre“ der Nato-Mächte, denen sie als Aufmarschgebiet gegen Russland dienen. Sie werden auf Jahrzehnte hinaus hochverschuldet und entsprechend abhängig bleiben. In Fachpublikationen wird längst über die Plünderung der gewaltigen Lithium- und sonstigen Rohstoff-Vorkommen des Landes spekuliert. Auch die Bundeszentrale für politische Bildung hat im März 2024 eine ausführliche Analyse über die „strategische Bedeutung“ der Rohstoffe in der Ukraine publiziert.
Der russische Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 war eine reaktionäre Antwort auf die sukzessive Einkreisung durch die Nato, die Moskau als existenzielle Bedrohung ansah. Unfähig, an die ukrainische und internationale Arbeiterklasse zu appellieren, hoffte Putins Oligarchenregime, die Nato so zum Einlenken zu bewegen. Doch der Kreml verkalkulierte sich. Der Nato – und insbesondere Deutschland – diente der Angriff als willkommener Vorwand, den Krieg gegen Russland zu eskalieren und aufzurüsten wie seit Hitler nicht mehr. Selbst das Risiko eines Atomkriegs nehmen sie dabei in Kauf.
Geschichtsrevisionistische Standpunkte werden auf höchster politischer Ebene und im akademischen und kulturellen Bereich gefördert, um eben diese Kriegspolitik Deutschlands ideologisch zu legitimieren.
Die Gleichsetzung von NS- und Stalin-Regime und die Relativierung des Holocausts
Ein zentraler Hebel der Geschichtsfälschung ist die Kampagne für den „Europäischen Gedenktag für die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“ am 23. August, dem Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts. Dieser Gedenktag, mit dem wir uns später noch genauer befassen werden, dient im Kern dem Zweck, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs umzuschreiben, indem der Holocaust relativiert und die Kriegsverbrechen der Sowjetunion angelastet werden. Seit seiner Einführung 2009 durch das Europäische Parlament wird versucht, den Gedenktag in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union (EU) zu etablieren.
Das ist auch ein wesentliches Anliegen des Ausstellungsprojekts zum Hitler-Stalin-Pakt. Die Ausstellungstafeln und der Begleitband konzentrieren sich auf die Folgen des Pakts für Polen, die Ukraine, die baltischen Staaten, Finnland und Rumänien, aber reproduzieren weitgehend das nationalistische Geschichtsbild, das in diesen Ländern verbreitet wird.
Die Verbrechen des Stalinismus werden zum Ausgangspunkt genommen, um die Sowjetunion per se zu diffamieren und die Neugründung der Nationalstaaten nach 1991 als großen Schritt hin zu „Freiheit“ und „Demokratie“ zu verherrlichen, der im Beitritt der Länder zur Europäischen Union und zur Nato gegipfelt habe.
Auf der Schlusstafel wird resümiert, dass die europäische Erinnerung an den Pakt in „zwei große Erinnerungsgemeinschaften gespalten“ sei. Westeuropa gedenke vor allem den NS-Verbrechen, Ostmitteleuropa den stalinistischen Verbrechen. „Dort wird der Hitler-Stalin-Pakt als Auslöser für den Zweiten Weltkrieg gesehen. Beiden Ländern Deutschland und der Sowjetunion wird die Verantwortung für den Krieg gleichermaßen zugewiesen. Mit dem Beitritt der ostmitteleuropäischen Länder zur Europäischen Union im Mai 2004 betrat dieser Gegensatz die europapolitische Bühne.“ Die Festsetzung des Gedenktags vom 23. August sei das „sichtbarste Ergebnis“ der Bemühungen dieser Länder, für die „Anerkennung ihrer historischen Erfahrungen“ einzutreten.
Die SED-Opferbeauftragte der Bundesregierung, Evelyn Zupke, erklärte nach einem Besuch der Ausstellung, der Gedenktag des 23. August bilde einen „guten Ansatzpunkt, um die stalinistischen und kommunistischen Verbrechen [...] viel stärker in ein gemeinsames europäisches Bewusstsein zu bringen!“ Von den NS-Verbrechen hingegen kein Wort.
Schon im Vorwort des Ausstellungsbands wird die Außenpolitik der Sowjetunion und Deutschlands de facto auf eine Stufe gestellt. Während Hitler seit Jahren eine „aggressive Außenpolitik“ betrieb, habe sich die Sowjetunion unter Stalin zu einem „machthungrigen Staat konsolidiert“. In dem Ziel, ihre Grenzen auszuweiten, hätten sich beim Hitler-Stalin-Pakt die „Interessen beider Diktatoren“ getroffen.
Dann erklären die Herausgeber, sie wollten in ihrem Ausstellungsprojekt die „Erfahrungen der Länder Ostmitteleuropas“ in den Jahren 1939 bis 1941 hervorheben:
Während in Westeuropa das singuläre Menschheitsverbrechen des Holocaust im Zentrum der Erinnerung steht, und damit immer auch die Folgen deutscher Besatzungsherrschaft, fokussiert die Erinnerung in den Staaten in Ostmitteleuropa auf die Jahrzehnte sowjetischer Herrschaft, vor allem die Verbrechen des Stalinismus. Die demgegenüber kurze Phase deutscher Besatzungsherrschaft, die zugleich eine vorübergehende Zurückdrängung sowjetischer Herrschaft bedeutete, fällt dabei kaum ins Gewicht. Die Wahrnehmung des Holocaust mit seinen Folgen für Ostmitteleuropa entwickelte nicht die Kraft wie der Schmerz verlorener staatlicher Souveränität. Die Europäische Union versuchte, dem Rechnung zu tragen, indem sie 2008 den 23. August als „Europäischen Gedenktag für die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“ festsetzte.[3]
Im vorläufigen Entwurf des Bands vor der Drucklegung, der der WSWS für eine Rezension vorab zur Verfügung gestellt wurde, war noch von den „grauenvollen Folgen“ des Holocaust für Ostmitteleuropa die Rede. Für die Buchpublikation haben die Herausgeber das Adjektiv „grauenvoll“ gestrichen. Diese Korrektur zeigt beispielhaft, wie gezielt die NS-Verbrechen und die deutsche Besatzungsherrschaft heruntergespielt werden. Letztere wird lapidar als „kurze Phase“ bezeichnet, die eine „Zurückdrängung sowjetischer Herrschaft“ (!) bedeutet habe, was offensichtlich als positiver Verdienst der Wehrmacht angesehen wird.
Mit ihrer Behauptung, dass „der Schmerz verlorener staatlicher Souveränität“ angeblich eine größere Kraft als die „Wahrnehmung des Holocausts“ entwickelt habe, machen sich die Autoren den rechtsradikalen Nationalismus zu eigen, der unter vielen Mitgliedern der osteuropäischen Eliten verbreitet ist. Dabei herrschten in den osteuropäischen und baltischen Staaten vor dem so schmerzlich empfundenen Verlust der staatlichen Souveränität keine Demokratien. Fast überall regierten spätestens seit 1933/1934 Diktaturen oder autoritäre Polizeistaatsregime nach dem Vorbild Polens unter Józef Piłsudski. In der Ausstellung und dem Begleitband findet diese Tatsache kaum Berücksichtigung.
Die weitreichende Relativierung des Holocausts wird durch postmoderne Methoden ermöglicht. Die Leitidee sei es, „multiperspektivisch zu erzählen“, heißt es in der Einleitung des Ausstellungsbands. Hinter dieser blumigen Formulierung steckt eine Absage an eine wissenschaftliche und objektive Analyse des Hitler-Stalin-Pakts. Die konkreten historischen Umstände werden in verschiedene Narrative und Erinnerungskulturen in West- und Osteuropa aufgelöst und durch eine vermeintlich national einheitliche, über den Klassen stehende „Erinnerung“ und „Wahrnehmung“ der Bevölkerung in den Ländern Ostmitteleuropas ersetzt. Dieses oder jenes politisch rechte Narrativ wird nicht etwa kritisch analysiert, sondern – im Gegenteil – zur wissenschaftlichen Tatsache erklärt.
Worin die politische Agenda hinter dem Gedenktag besteht, wird im einführenden Kapitel zum Begleitband deutlich: „Die Entkolonisierung der europäischen Erinnerung an den Molotow-Ribbentrop-Pakt? Pakte von Erinnerung und Vergessen“.
Die Verfasserin Ana Milošević, eine Post-Doc-Forscherin am Institute of Criminology der Katholieke Universiteit Leuven in Belgien, hat zur Erinnerungspolitik in der EU und auf dem Balkan promoviert und war 2015 Gastwissenschaftlerin beim deutschen außenpolitischen Thinktank Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Ihr Beitrag ist gänzlich darauf ausgerichtet, den Gedenktag als Schritt in der „Entkolonialisierung“ der ehemaligen Sowjetrepubliken zu begründen. Die Befreiung Osteuropas von der Nazi-Herrschaft durch die Rote Armee 1945 wird von Milošević in eine „Kolonisierung“ umgedeutet: „Die ‚Befreiung‘ durch die Sowjets kam in dieser Region einer Kolonisierung gleich: Das eine totalitäre Regime trat an die Stelle des anderen, und auf die eine Besatzung folgte die nächste.“ (S. 22)
Milošević verknüpft hier Themen wie „Antikolonialismus“ und „nationale Selbstbestimmung“, die historisch mit „progressiver“ Politik verbunden sind, mit üblem Antikommunismus, um diesen in bestimmten Kreisen anschlussfähig zu machen. Diese Kampagne wird auch von der Grünen-nahen taz Panter Stiftung befeuert, die in diesem Jahr das Projekt „Dekolonialisierung: Ost“ gestartet hat.
Milošević spricht sogar von „kommunistischer Sklaverei“ und behauptet, dass der Krieg für die baltischen Staaten mit der sowjetischen Invasion von 1940 begann, die zu „Jahrzehnten der Unterwerfung unter das sowjetische Kolonialregime“ geführt habe. (S. 20)
Ausgehend von ihrem antikommunistischen Konstrukt eines sowjetischen „Kolonialismus“ fordert sie die „Entkolonialisierung der europäischen Erinnerung“, d. h. die Berücksichtigung der nationalistischen Erinnerungskultur der vermeintlichen Kolonialopfer in Osteuropa.
Diese angebliche „Entkolonialisierung“ liefert Milošević den Rahmen für eine offene Verharmlosung des Holocaust:
In den 1980er Jahren gab es in der Bundesrepublik unter den führenden Historikern einen „Historikerstreit“ über die Vergleichbarkeit totalitärer Regime respektive die Einzigartigkeit des Holocaust bzw. der Shoah. In dieser Zeit empfanden viele Menschen in Ostmitteleuropa im individuellen wie auch kollektiven Gedächtnis die Verbrechen des Stalinismus und die Erfahrungen der sowjetisch-kommunistischen Besatzung während und nach dem Zweiten Weltkrieg als ebenso gravierend, wenn nicht sogar gravierender als der Holocaust. Ende der 1980er Jahre wurde der 23. August zum Referenzdatum für die Unabhängigkeitsbewegungen in Osteuropa, da er eine Verbindung zu den persönlichen Erinnerungen unzähliger Menschen schuf.[4]
Dieser Absatz ist in mehrfacher Hinsicht beispielhaft dafür, wie alte Geschichtslügen in neuen Schläuchen dargeboten werden – diesmal im Gewand einer angeblichen „Erinnerungs- und Erfahrungsgeschichte“, die es nicht für nötig hält, wissenschaftliche Argumente zu liefern.
Der eigentliche Inhalt des „Historikerstreits“ wird hier nicht benannt. Der rechtsextreme Historiker und NS-Apologet Ernst Nolte hatte die Auseinandersetzung 1986 ausgelöst, indem er Auschwitz als legitime und verständliche Antwort auf den Gulag darstellte, also einen „kausalen Nexus“ zwischen den Verbrechen der Nazis und der Sowjetunion herstellte. Nicht der wissenschaftliche Vergleich der Regime, wie Milošević andeutet, sondern die Legimitierung der NS-Gewalt als Reaktion auf die Gewalt der Bolschewiki und des Stalinismus war Noltes Anliegen. Er wurde von renommierten Wissenschaftlern eindeutig widerlegt.
Milošević versucht die Nolte-Position zu stützen, indem sie behauptet, „viele Menschen“ hätten in den 1980er Jahren die „sowjetisch-kommunistische Besatzung“ als „ebenso gravierend, wenn nicht sogar gravierender“ als den Holocaust empfunden. Auf welche statistische Erhebung über wessen „Empfindungen“ stützt sie sich? Um wie „viele Menschen“ geht es? Was und wer verbirgt sich hinter dem „kollektiven Gedächtnis“? Welche politischen Ansichten lagen den „Empfindungen“ dieser Menschen zugrunde?
Hat man auch die wenigen Überlebenden der einst riesigen jüdischen Gemeinden in Polen und anderen Ländern Osteuropas gefragt, die ihre gesamte Familie in den Gaskammern verloren haben? Oder zählt hier die „persönliche Erinnerung“ nicht, da die meisten von ihnen ermordet, ins Exil getrieben und aus der Geschichte und Kultur ihrer Herkunftsländer getilgt wurden?
Miloševićs Relativierung des Holocausts an dieser Stelle ist besonders perfide, weil sie sich auf ein „individuelles und kollektives Gedächtnis“ beruft, das in erheblichem Maße durch den Massenmord der Nazis bestimmt ist. Gerade in diesen Regionen sind ganze Generationen ausgelöscht, ganze Dörfer niedergebrannt worden. Die Nazis haben mit Gründlichkeit dafür gesorgt, dass möglichst wenige Menschen übrig waren, die sich an die Grauen von Auschwitz erinnern konnten. In Polen, Litauen und Lettland ermordeten sie fast alle Juden, die 1939 im Land gelebt hatten: in Polen 3 von 3,4 Millionen, in Litauen 145.000 von 150.000 und in Lettland 70.000 von 93.500.[5]
Und schließlich „belegt“ Milošević ihre weitreichenden Aussagen mit einer Fußnote, die überhaupt keinen Beleg darstellt. Sie verweist – ohne Angabe einer Seitenzahl – auf die Studie The Criminalisation of Communism in the European Political Space after the Cold War (London 2019) der französischen Politologin Laure Neumayer. Zunächst ist es unredlich, eine konkrete Behauptung mit dem Verweis auf ein 230 Seiten dickes Buch belegen zu wollen, ohne eine genaue Stelle oder zumindest ein Kapitel anzugeben. Damit wird es dem Leser erschwert, die Quelle zu prüfen.
Macht man sich aber dennoch auf die Suche und liest Neumayers Vorwort, so stellt man fest, dass ihr Buch im Gegensatz zu Milošević steht. Neumayer untersucht kritisch die „antikommunistischen Erinnerungsunternehmer“ in der EU (anti-communist memory entrepreneurs) und die Wiederbelebung der Totalitarismustheorie seit den 1990er Jahren. In ihrer Einleitung wendet sie sich auch unzweideutig gegen Noltes NS-Apologetik.
Im Weiteren nutzt Milošević die Behauptungen von einem sowjetischen „Kolonialismus“ und „Diskurs über koloniale Traumata“ im Baltikum, um den aggressiven Nationalismus der dortigen Regime zu legitimieren. Sie schreibt: „Das Konzept der ‚Entkolonisierung‘ setzte die Schaffung einer ethnischen Demokratie voraus, in der die Staatsangehörigkeit vor allem der Bevölkerung aus vorsowjetischer Zeit und deren Nachkommen erhalten würde; das waren in erster Linie die ethnischen Balten.“ (S. 26)
Dieses Konzept unterscheidet sich wenig von dem der Nazis und ihrer faschistischen Kollaborateure, wie der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die von einem „ethnisch reinen Staat“ träumten, der durch die massenhafte Ermordung von Minderheiten und Juden geschaffen wird. Zudem ist der Begriff „ethnische Demokratie“ ein Widerspruch in sich, da eine „ethnische Reinheit“ in multiethnischen Regionen wie Osteuropa völlig unvereinbar mit Demokratie ist.
Das Beispiel Estland ist in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich. Im Einklang mit Miloševićs Einstiegskapitel ist der Beitrag zu Estland in dem Buch ein nationalistisches Traktat, mitfinanziert vom staatlichen Estnischen Forschungsrat. Es verharmlost den Vernichtungskrieg der Nazis und verherrlicht ein poststalinistisches Estland, indem nur Menschen ein automatisches Anrecht auf die Staatsbürgerschaft haben, die nachweisen können, dass ihre Vorfahren diese schon vor 1940 besessen hatten.
Der Autor Kristo Nurmis schreibt gleich zu Beginn, dass „der Pakt [von 1939] und die nachfolgenden Verträge Estlands Souveränität faktisch auslöschten und das Land den Launen und der Gnade eines unberechenbaren totalitären Staates – der Sowjetunion – auslieferten. Die grundlose sowjetische Annexion erfolgte ein Jahr vor dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Kriegs. Die folgenden Besatzungen und Kriege kosteten Estland ein Viertel seiner Bevölkerung.“
Die Formulierung „Ausbruch des deutsch-sowjetischen Kriegs“ vertuscht den verbrecherischen Charakter des Angriffskriegs der Nazis, deren Verbrechen unter dem Begriff „folgende Besatzungen und Kriege“ mit der stalinistischen Herrschaft vermengt werden, um die Verantwortung des NS-Regimes zu relativeren. Die rund 80.000 estnischen Kollaborateure, die an der Seite der Nazis gegen die Rote Armee kämpften, finden im Beitrag keine Erwähnung, was nicht erstaunt. Das estnische Parlament hatte noch 2012 in einer Resolution die freiwilligen estnischen Mitglieder von Hitlers Waffen-SS als „Freiheitskämpfer“ und „Kämpfer gegen die kommunistische Diktatur“ geehrt.
Über die Staatsbürgerschaftspolitik nach 1991 schreibt Nurmis:
Innenpolitisch verfolgte Estland eine starke Politik der staatlichen Wiederherstellung und verweigerte Personen die automatische Staatsbürgerschaft, deren Vorfahren vor der sowjetischen Annexion im Jahr 1940 nicht estnische Staatsbürger waren. Diese Politik zielte nicht nur auf die Wiederherstellung historischer Rechte ab, sondern auch darauf, die politische Kultur Estlands vor dem Einfluss der sowjetischen Zuwanderer zu schützen, denen man das Bekenntnis zur Unabhängigkeit und die gemeinsame Erfahrung nationaler Tragödien absprach (neue Bürger mussten eine Sprachprüfung und einen Test über die Verfassung ablegen).[6]
24 Prozent der Bevölkerung – so groß ist die russischsprachige Minderheit – werden auf der Grundlage dieser chauvinistischen Politik seit Jahren diskriminiert und entrechtet. Nurmis Beitrag endet mit einem Plädoyer für die weitere Unterstützung des Ukrainekriegs und warnt vor einer „Kriegsmüdigkeit des Westens“.[7]
In Estland und anderen osteuropäischen Ländern wird rechter Geschichtsrevisionismus schon seit Jahren gefördert, etwa in Ausstellungen oder Schulbüchern. Seit Anfang der 1990er Jahre sind Museen entstanden, die das „Paradigma des doppelten Genozids“ propagieren, wie es der Forscher zu jiddischer Kultur und Geschichte, Dovid Katz, ausdrückt. Gemeint ist die Gleichsetzung der Verbrechen des NS- und des Stalin-Regimes, die mit einer Diskreditierung der jüdischen Opfer, der Heroisierung der NS-Kollaborateure und Täter sowie der Leugnung oder Verharmlosung der lokalen freiwilligen Beteiligung am Holocaust einhergehe.[8]
Einige Beispiele sind das Museum der Genozid-Opfer in Vilnius, Litauen (1992), das Museum der Okkupation 1940–1991 in Riga, Lettland (1993), das Haus des Terrors in Budapest, Ungarn (2002), das Museum der Besatzung in Tallinn, Estland (2003) und das Museum der Opfer von Besatzungsregimen (Lonzki-Gefängnis) in Lviv, Ukraine (2009).
Der Hintergrund des Hitler-Stalin-Pakts
Der Geschichtsrevisionismus rund um den Hitler-Stalin-Pakt fußt vor allem auf einer Gleichsetzung des nationalsozialistischen und stalinistischen Regimes. Beide seien Aggressoren, Imperialisten und Gewalttäter gewesen, die gemeinsam und gleichermaßen die kleinen Staaten in Ostmitteleuropa zermalmt hätten, so die Behauptung.
Doch diese Gleichsetzung verdreht die historischen Tatsachen und ignoriert die unterschiedlichen Interessen und die Ausgangslage beider Regime. Während Hitler einen Angriffskriegskrieg brauchte und lange vorbereitet hatte, wollte Stalin einen Krieg unbedingt vermeiden und hinausschieben.
Hitler vertrat die Interessen des deutschen Imperialismus, dessen Hunger nach Märkten, Rohstoffen und „Lebensraum“ im Osten nur durch eine gewaltsame Expansion zu befriedigen war. Für ihn war der Pakt mit Stalin lediglich ein taktischer Schritt, um Zeit zu gewinnen, mit England und Frankreich fertig zu werden und dann die Sowjetunion zu überfallen.
Der zukünftige „Führer“ hatte sich bereits in seiner Hetzschrift Mein Kampf auf den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion als zentrale Achse seiner Außenpolitik festgelegt. „Das Recht auf Grund und Boden kann zur Pflicht werden, wenn ohne Bodenerweiterung ein großes Volk dem Untergang geweiht erscheint“, schrieb er dort. „Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein. Zur Weltmacht aber braucht es jene Größe, die ihm in der heutigen Zeit die notwendige Bedeutung und seinen Bürgern das Leben gibt.“ Und weiter: „Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Russland und die ihm untertanen Randstaaten denken.“[9]
Nach seiner Machtüberahme im Januar 1933 konzentrierte Hitler dann die gesamte Rüstungs-, Wirtschafts- und Außenpolitik darauf, den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion vorzubereiten. Der Pakt mit Moskau war nur ein Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel.
Stalin dagegen verfolgte keine imperialistischen Expansionsziele. Er vertrat die Interessen der privilegierten Bürokratie, die die Sowjetmacht von der Arbeiterklasse usurpiert und sich vom Programm der sozialistischen Weltrevolution verabschiedet hatte. Setzten Lenin und Trotzki darauf, die Isolation der Sowjetunion durch erfolgreiche proletarische Revolutionen in anderen Ländern zu überwinden, bekannte sich Stalin nach Lenins Tod zur Doktrin des „Aufbaus des Sozialismus in einem Land“. Sie entsprach den konservativen Interessen der Bürokratie, die vom gesellschaftlichen Eigentum schmarotzte und Erhebungen der internationalen Arbeiter fürchtete, weil sie ihre eigene Herrschaft erschüttert hätten.
Auf internationaler Ebene verfolgte Stalin einen wilden Zickzackkurs. In Deutschland verbot er der Kommunistischen Partei zum Ende der Weimarer Republik, eine Einheitsfront mit der SPD gegen die Nazis zu bilden, obwohl die SPD damals noch über eine Massenbasis in der Arbeiterklasse verfügte. Er rechtfertigte dies mit der absurden Begründung, Nazis und Sozialdemokraten seien „Zwillinge“ und letztere „Sozialfaschisten“. Die Lähmung der Arbeiterklasse durch SPD und KPD ebnete Hitler den Weg an die Macht.
Als sich das Ausmaß der Katastrophe nicht mehr leugnen ließ, vollzog Stalin einen abrupten Schwenk. Er stützte die Verteidigung der Sowjetunion nicht mehr, wie Lenin und Trotzki dies getan hatten, auf die Mobilisierung der internationalen Arbeiterklasse, sondern auf Bündnisse mit „demokratischen“ imperialistischen Mächten – insbesondere mit Frankreich und Großbritannien.
Im Namen einer antifaschistischen „Volksfront“ mit bürgerlichen Parteien erdrosselte die Kommunistische Internationale in Frankreich und Spanien die proletarische Revolution. In der Sowjetunion, wo Stalin einen Aufstand der Arbeiterklasse gegen seine despotische Herrschaft fürchtete, enthauptete er im Großen Terror der Jahre 1937 und 1938 die Rote Armee und die Kommunistische Partei und machte die Sowjetunion damit praktisch wehrlos. Hunderttausende ergebene Kommunisten und erfahrene Offiziere starben unter den Hinrichtungskommandos der stalinistischen Geheimpolizei.
Doch das Bündnis mit den „demokratischen“ Mächten erwies sich bald als Sackgasse. Sowohl in Paris wie in London gab es starke Kräfte, die hofften, Hitler werde die Sowjetunion zerstören, ohne gleichzeitig Krieg gegen den Westen zu führen. Als Großbritannien und Frankreich im Münchener Abkommen von 1938 die Tschechoslowakei an Hitler auslieferten, musste Stalin daraus schließen, dass er sich nicht auf London und Paris verlassen konnte. Moskau verhandelte zwar mit Großbritannien und Frankreich bis zuletzt über ein Bündnis, doch diese spielten auf Zeit, bis sich Stalin schließlich in die Arme Hitlers warf. Trotz des Zynismus’, der Brutalität und der Rücksichtlosigkeit, mit der er dabei vorging, hatte der Pakt von Moskaus Seite im Wesentlichen einen defensiven Charakter.
Das eigentliche Verbrechen Stalins bestand darin, dass er mit diesem erniedrigenden Manöver die kommunistischen Arbeiter und Antifaschisten vollkommen demoralisierte. Leo Trotzki kommentierte:
Niemand hat Hitler so sehr geholfen wie Stalin. Niemand hat die UdSSR in eine so gefährliche Lage manövriert wie Stalin.
Fünf Jahre lang haben der Kreml und seine Komintern ein „Bündnis der Demokratien“ und „Volksfront“ mit dem Ziel eines Präventivkrieges gegen die „faschistischen Aggressoren“ propagiert. Der Einfluss dieser Propaganda auf die Volksmassen war gewaltig, was am Beispiel Frankreichs besonders deutlich wurde. Aber als der Krieg wirklich herannahte, sind der Kreml und seine Agentur, die Komintern, plötzlich ins Lager der „faschistischen Aggressoren“ übergelaufen. Stalin mit seiner Pferdehändlermentalität dachte auf diese Weise Chamberlain, Daladier und Roosevelt ein Schnippchen zu schlagen und strategische Positionen in Polen und im Baltikum zu gewinnen.
Aber die Wende des Kreml hatte weit tiefergehende Folgen: Er täuschte nicht nur die Regierungen, sondern desorientierte und demoralisierte auch die Volksmassen, vor allem in den sogenannten Demokratien. Mit seiner Propagierung der „Volksfront“ hinderte der Kreml die Massen daran, den Kampf gegen den imperialistischen Krieg zu führen. Durch seinen Wechsel ins Lager Hitlers brachte Stalin plötzlich alle Karten durcheinander und lähmte die militärische Kraft der „Demokratien“. Denn trotz der gesamten Ausrottungsmaschinerie bleibt der moralische Faktor im Krieg von entscheidender Bedeutung. Indem Stalin die Volksmassen Europas – und nicht nur Europas – demoralisierte, hat er den Agent provocateur im Dienste Hitlers gespielt.[10]
Selbst rein militärstrategisch betrachtet war der Hitler-Stalin-Pakt eine Katastrophe. Das geheime Zusatzprotokoll besiegelte die Liquidation Polens. Die deutsche Wehrmacht stand damit weit im Osten direkt an der sowjetischen Grenze, sie musste keinen Pufferstaat mehr überwinden, um im Sommer 1941 die Sowjetunion zu überfallen. Im Rahmen der Wirtschaftsvereinbarungen konnten sich die Nazis vorher dringend benötigte Rohstoffe aus der Sowjetunion für die deutsche Rüstungsindustrie verschaffen und den Blitzkrieg gegen die Westmächte führen, ohne zeitgleich eine zweite Front im Osten zu eröffnen.
Der russische Historiker Oleg Budnitzkij, der als einziger einen fundierten wissenschaftlichen Beitrag zum Ausstellungsband geliefert hat, antwortet auf die Frage „Wer profitierte vom Molotow-Ribbentrop-Pakt?“ eindeutig: nicht die UdSSR, sondern Deutschland.
Mit der Besetzung mehrerer europäischer Länder mit rund 1,9 Millionen Quadratkilometern und 122 Millionen Einwohnern habe Deutschland sein wirtschaftliches Potenzial fast verdoppelt und wichtige Rohstoffe gewonnen. Vor allem die Importe von Erdölprodukten aus der Sowjetunion waren für die deutsche Wirtschaft essentiell. Die UdSSR, die durch den Großen Terror extrem geschwächt war, habe ein viel kleineres Gebiet (460.000 Quadratkilometer mit rund 23 Millionen Einwohnern) besetzt, das eine deutlich geringere Bedeutung hatte.
Auch habe die Erhöhung der Rüstungsausgaben und die Förderung der Schwerindustrie die sowjetische Bevölkerung belastet. „Der sowjetisch-finnische Krieg und die sowjetischen Treibstoff- und Lebensmittellieferungen an Deutschland trugen stark zur Versorgungskrise 1939–41 bei.“[11] Wie schlecht die stalinistische Führung das Land politisch und militärisch auf den Krieg vorbereitet hatte, offenbarte der rasante Vormarsch der Wehrmacht im Sommer 1941. Bereits in den ersten Kriegswochen zählte die Rote Armee etwa 600.000 Gefallene und Verwundete.
Stalins Verbrechen bestand also nicht darin, dass er – wie Hitler – eine imperialistische Expansionspolitik verfolgte, sondern dass er den Widerstand gegen den Faschismus systematisch sabotierte, desorientierte und demoralisierte.
Wie der russische Soziologe Wadim Rogowin schreibt, untergrub der Stalinismus mit seiner „antisozialistischen Innen- und Außenpolitik den moralischen Einfluss, den die Sowjetunion und die internationale kommunistische Bewegung in der ganzen Welt errungen hatten“.[12]
Leo Trotzki, der die Linke Opposition gegen die Stalinisten anführte, bezeichnete Stalin als „Hitlers Quartiermeister“.[13] Trotzki kämpfte für eine politische Revolution innerhalb der UdSSR, d. h. den Sturz der stalinistischen Bürokratie durch die Arbeiterklasse. Er kritisierte den Pakt, weil er das Schicksal des sowjetischen Arbeiterstaats gefährdete und eine revolutionäre Erhebung in anderen Ländern, die den Faschismus hätte stoppen können, unterminierte.
Die Kritik an dem Pakt, die heute von rechten bürgerlichen Politikern und Akademikern vorgebracht wird, hat eine völlig entgegengesetzte Funktion und Klassenorientierung. Der Pakt wird als Vorwand genutzt, um die Sowjetunion – und den „Kommunismus“ insgesamt – zu verteufeln und die heutige Kriegspolitik der Nato gegen Russland zu rechtfertigen.
Gleichzeitig soll verhindert werden, dass sich Arbeiter und Jugendliche angesichts der tiefen Krise des Kapitalismus erneut sozialistischen Ideen zuwenden. Zu diesem Zweck wird der Stalinismus mit dem Kommunismus gleichgesetzt und die linke Alternative, die Leo Trotzki vertrat, totgeschwiegen. Dabei ist es für ein wissenschaftliches Verständnis des Hitler-Stalin-Pakts entscheidend, dass er ein Ergebnis der stalinistischen Entartung der Sowjetunion war und im Gegensatz zur Perspektive der Weltrevolution stand. Doch diese Tatsache wird im Ausstellungsprojekt ignoriert.
Antikommunistische Erinnerungspolitik: Der Gedenktag vom 23. August
Stattdessen steht die Ausstellung im Zeichen einer antikommunistischen Erinnerungspolitik, die nach dem EU-Beitritt mehrerer osteuropäischer Länder im Jahr 2004 immer größeren Einfluss gewann. Einen vorläufigen Höhepunkt markierte die Einführung des Gedenktags vom 23. August im Jahr 2009. Die Kampagne dafür begann bereits in den 1980er Jahren im Zuge der Auflösung der Sowjetunion und wurde von Dissidenten und nationalistischen Gruppierungen in und aus Osteuropa und dem Baltikum vorangetrieben.
Am 3. Juni 2008 verabschiedeten europäische Politiker die sogenannte „Prager Erklärung zum Gewissen Europas und zum Kommunismus“, die die EU auffordert, den Gedenktag einzuführen. Zu den Initiatoren und Erstunterzeichnern gehörten neben Politikern aus Tschechien, den baltischen Staaten, Schweden und Großbritannien auch der ehemalige Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde, Joachim Gauck, der vier Jahre später zum deutschen Bundespräsidenten ernannt wurde und die außenpolitische Wende und Militarisierung Deutschlands einläutete.
Die Verfasser der Erklärung beziehen sich explizit auf den „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ am 27. Januar, den Jahrestag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee 1945. Sie fordern, dass nun der Opfer der „totalitären Regime“ ebenso wie der NS-Opfer gedacht wird.
Dahinter verbarg sich der Versuch einer offiziellen Umkehr in der Erinnerungspolitik, die in den vorangegangenen Jahrzehnten auf die NS-Verbrechen fokussiert war. Die österreichische Historikerin Heidemarie Uhl bezeichnete den neuen Gedenktag deshalb als „Antithese“ zum Holocaust-Gedenken:
Mit dem 23. August verbindet sich ein Geschichtsbild, das die Anerkennung des Holocaust als zentralem Bezugspunkt eines europäischen Geschichtsbewusstseins negiert, und zwar durch die Gleichsetzung der Opfer von Nationalsozialismus und Kommunismus und damit die Gleichstellung der beiden Systeme.[14]
In der Prager Erklärung wurde auch die Einrichtung eines entsprechenden europäischen Museums und Instituts sowie die Integration des Themas in europäische Geschichtsbücher gefordert, „damit Kinder über den Kommunismus und seine Verbrechen auf die gleiche Weise lernen und gewarnt werden können, wie ihnen beigebracht wird, die Nazi-Verbrechen zu bewerten“.[15] 2011 wurde in diesem Zusammenhang das EU-Projekt „Platform of European Memory and Conscience“ mit Sitz in Prag geschaffen.
Hier geht es also keineswegs um rein symbolische Postulate, sondern um ein konkretes geschichtsrevisionistisches Programm, das die breite Bevölkerung über Museen, Veranstaltungen und Schulen erreichen soll.
Die Prager Erklärung wurde umgehend vom Europäischen Parlament aufgegriffen. In einer Resolution im September 2008 wurde die Einführung des Gedenktags vorgeschlagen, in einer weiteren Resolution vom 2. April 2009 schließlich offiziell festgelegt.[16]
Der Antrag wurde von mehreren Fraktionen des EU-Parlaments eingebracht: der rechten UEN (Union für ein Europa der Nationen), die bis 2009 existierte und der auch polnische, baltische und slowakische Parteien ebenso wie die rechtsextreme italienische Lega Nord angehörten, der EVP (Europäische Volkspartei, Christdemokraten), der ALDE (Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa) und den Grünen/ALE (Europäische Freie Allianz), hierunter auch die sächsische Grünenpolitikerin Gisela Kallenbach. 553 EU-Abgeordnete stimmten mit großer Mehrheit dafür, nur 44 dagegen (bei 33 Enthaltungen).
Die Antragsteller begründeten ihren Vorstoß mit einem weit gefassten Totalitarismusbegriff, der das heutige Russland einschließt. Der estnische Christdemokrat und Mitantragsteller Tunne Kelam verharmloste in der Parlamentsdebatte offen das Nazi-Regime: „Die Oligarchie in Russland ist eine Frankenstein-Diktatur, schlimmer als alle anderen, Hitler eingeschlossen.“[17]
Bemerkenswert ist in dieser EU-Resolution, wie die Geschichtsfälschung methodisch begründet wird. So heißt es dort, Historiker würden darin übereinstimmen, dass „es keine objektive Geschichtsschreibung gibt“, auch wenn sie „wissenschaftliche Instrumente zur Erforschung der Vergangenheit“ einsetzen. (Punkt A)
Statt objektiver historischer Tatsachen werden die subjektiven Empfindungen und Meinungen der Opfer bzw. Zeitzeugen zum Maßstab genommen. So wird die Forderung, allen „Opfern totalitärer Regime“ gemeinsam zu gedenken, damit begründet, dass „es vom Blickwinkel der Opfer aus unwesentlich ist, welches Regime sie aus welchem Grund auch immer ihrer Freiheit beraubte und sie foltern oder ermorden ließ“. (Punkt N)
Eine solche Herangehensweise ermöglicht es, die Ereignisse aus dem historischen Kontext zu reißen und wissenschaftliche Kriterien durch moralische Abstraktionen zu ersetzen. Darf nun auch ein SS-Offizier, der das Blut von Tausenden Juden, Kommunisten und sowjetischen Bürgern an den Händen hat, als „Opfer“ geehrt werden, weil er von Rotarmisten der „Freiheit beraubt“ und hingerichtet wurde? Oder vielleicht ein faschistischer Kollaborateur der ukrainischen OUN? Stehen ihre Namen neben denen der Juden, die in den Gaskammern einen qualvollen Tod starben?
Tatsächlich scheint genau das die Intention gewesen zu sein. In der Ukraine und dem Baltikum wurden in den letzten Monaten und Jahren Denkmäler an den Sieg der Roten Armee, an die Millionen Menschen, die gegen die Nazis gekämpft und zu Tausenden ihr Leben gegeben haben, abgerissen und neue errichtet – diesmal für faschistische und nationalistische Kollaborateure wie Stepan Bandera in der Ukraine.
Das obige Bild, das in der Ausstellung „Riss durch Europa“ präsentiert wird, zeigt abgerissene Skulpturen für die Rote Armee in Lwiw. In der Bilderläuterung heißt es dazu: „Der russische Angriff 2014 veränderte den Blick auf den Zweiten Weltkrieg in der Ukraine. Die Ukrainer:innen lösten sich vom Narrativ eines sowjetischen Verteidigungskriegs zwischen 1941 und 1945. Den Pakt erinnern sie heute als Ausweitung der sowjetischen Besatzung des Landes. Dabei werden Parallelen zur aktuellen Situation gezogen.“
Ob diese Neubewertung den historischen Tatsachen entspricht oder nicht, spielt offenbar keine Rolle. Das Narrativ wird vielmehr danach bewertet, inwiefern es politisch nützlich ist.
Kriegszeiten erfordern neue Kriegsmythen: Die Erinnerung an den heroischen Kampf der Rotarmisten und der Partisanen gegen die Nazis soll ausgelöscht und stattdessen die rechtsextremen Nationalisten und Kollaborateure von damals zu Vorbildern stilisiert werden, um heutige Faschisten wie das Asow-Bataillon in der ukrainischen Armee zu legimitieren.
Es ist nicht „unwesentlich“, ob ein Rotarmist einen Wehrmachtssoldaten oder umgekehrt die Wehrmacht einen sowjetischen Soldaten gefangen genommen hat. In diesem Krieg drohte die Eroberung der Sowjetunion durch eine faschistische Diktatur. Hätte Hitler den Krieg gegen die Rote Armee gewonnen, wäre die ohnehin schon hohe Opferzahl von 27 Millionen Sowjetbürgern und sechs Millionen Juden ins Unermessliche gestiegen und ganz Europa unter dem Joch der Nazis geblieben.
Der „Blickwinkel der Opfer“ ist hier nur vorgeschoben. Es geht darum, die objektiven Unterschiede im politischen Charakter und den Zielen beider Regime zu verschleiern und so das Ausmaß des Holocausts und Vernichtungskriegs der Nazis zu relativieren. Die Methode der Erfahrungs- bzw. Erinnerungsgeschichte wird systematisch missbraucht, um die Menschen emotional zu manipulieren und ihr berechtigtes Mitgefühl mit den Tausenden Opfern stalinistischer Verbrechen für eine antikommunistische Geschichtsrevision auszunutzen.
Der Historiker Jürgen Zarusky, der auch Timothy Snyders Geschichtsfälschung zum Hitler-Stalin-Pakt pointiert widerlegt hat, erläutert die Implikationen des neuen Gedenktags:
Die Gedenkfunktion des 23. August ist gerade aus einer diktaturvergleichenden Sicht höchst fragwürdig. […] Sie droht die Tatsache zu vernebeln, dass der Pakt für Hitler ein Durchgangsstadium für sein Zentralprojekt, die Eroberung von „Lebensraum im Osten“ in einem geschichtlich beispiellosen Vernichtungskrieg, war. Stalins Regime erreichte den Höhepunkt seiner terroristischen Machtausübung mit der Zwangskollektivierung, dem Hunger und dem Großen Terror in den Jahren 1929 bis 1938. Von einem Hitler-Stalin-Pakt war da noch keine Rede. Das Nazi-Regime dagegen erfuhr mit dem Angriff auf die Sowjetunion den höchsten Radikalisierungsgrad. Hier waren Massenmord und millionenfacher Hungertod geplant, und die Invasion der UdSSR bildete zugleich den unmittelbaren Auftakt zum Holocaust. Grundlage dieser neuen Stufe war nicht der Hitler-Stalin-Pakt, sondern sein Bruch.[18]
Im September 2019 forderte das Europäische Parlament anlässlich des 80. Jahrestags des Zweiten Weltkriegs alle Mitgliedstaaten in einer weiteren Resolution auf, den Gedenktag zu begehen. In der Resolution heißt es, die „beiden totalitären Regime“ hätten mit dem Hitler-Stalin-Pakt die „Weichen für den Zweiten Weltkrieg“ gestellt, „gleichermaßen das Ziel der Welteroberung“ verfolgt und „Massenmorde, Völkermord und Deportationen“ durchgeführt.[19]
„Das Ziel dieser geschichtspolitischen Resolution“ sei es, so die Historikerin Uhl, „der Sowjetunion eine Mitschuld am Zweiten Weltkrieg zu geben und die Verbrechen des Kommunismus mit jenen des Nationalsozialismus – beide als gleichermaßen totalitär bezeichnet – und insbesondere des Holocaust gleichzusetzen.“ Mehrere Verbände von KZ-Überlebenden hätten daraufhin gegen den „Geschichtsrevisionismus“ und die „Verfälschung der historischen Wahrheit“ protestiert.[20]
Seitdem wird auch in Deutschland versucht, den Gedenktag bekannt zu machen – wenn auch bislang mit wenig Erfolg. Das konstatierten 2023 die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags, die ein Dossier über die „Diskussion in der Wissenschaft und Umsetzung der Forderung des Europäischen Parlaments in den EU-Mitgliedstaaten“ veröffentlichten. Hier werden ein paar wenige Veranstaltungen in DDR-Gedenkstätten in Ostdeutschland aufgelistet, darunter die notorisch rechtslastige Gedenkstätte Hohenschönhausen. Vor diesem Hintergrund muss die aktuelle Wanderausstellung als wesentlicher Schritt in der Verbreitung des Gedenktags in Deutschland gewertet werden.
In dem Bundestags-Dossier werden die Positionen der Gegner und Fürsprecher des Gedenktags dargestellt. Die Gegner sind überwiegend Historiker aus der Holocaust-Forschung, darunter Yehuda Bauer, der jüngst verstorbene emeritierte Professor für Holocaust-Studien an der Hebräischen Universität in Jerusalem und bis 2000 Leiter der Gedenkstätte in Yad Vashem.
Er protestierte gegen die EU-Resolution von 2009 mit einem mehrseitigen Memo, in dem er vor einer Relativierung und Trivialisierung des Holocausts und einer „verlogenen Revision der jüngsten Weltgeschichte“ warnt und wesentliche historische Fakten zur Rolle der Sowjetunion richtigstellt. Auch wenn beide Regime totalitär gewesen seien, so waren sie gänzlich unterschiedlich, betont Bauer.
Die größere Bedrohung für die gesamte Menschheit war Nazi-Deutschland, und es war die Sowjetarmee, die Osteuropa befreite und die zentrale Kraft war, die Nazi-Deutschland besiegte und damit Europa und die Welt vor dem Nazi-Albtraum bewahrte. Tatsächlich haben die Sowjets unbeabsichtigt die baltischen Nationen, die Polen, die Ukrainer, die Tschechen und andere vor einer beabsichtigten Ausweitung des nationalsozialistischen Völkermords auf diese Nationalitäten gerettet.[21]
Bauer weist auch den Versuch zurück, den Beginn des Zweiten Weltkriegs der UdSSR anzulasten:
Sie [die EU-Resolution] impliziert auch, dass der Krieg von beiden Regimen gleichermaßen angezettelt wurde und dass sie daher gleichermaßen für den Tod von etwa 35 Millionen Menschen allein in Europa verantwortlich sind (wenn man den Krieg in Asien hinzurechnet, beläuft sich die Gesamtzahl nach Ansicht einiger Historiker auf etwa 55 Millionen). Dies ist eine völlige Verdrehung der Geschichte.[22]
Im Sommer 1939 wollte Stalin vielmehr verhindern, dass Deutschland die UdSSR angreift. „Er wusste sehr wohl, dass seine Armee durch die Säuberungen desorganisiert war und dass die UdSSR nicht in der Lage war, einem deutschen Angriff allein standzuhalten.“ Bis Juni 1939 habe er noch mit der Möglichkeit eines Bündnisses mit Großbritannien und Frankreich gespielt, doch diese Verhandlungen scheiterten.
Der Zweite Weltkrieg wurde von Nazi-Deutschland und nicht von der Sowjetunion begonnen, und die Verantwortung für die 35 Millionen Toten in Europa, davon 29 Millionen Nicht-Juden, liegt bei Nazi-Deutschland und nicht bei Stalin. Ein gleiches Gedenken an die Opfer ist eine Verzerrung.[23]
Bauer geht auch auf die „massive Kollaboration bei der Verfolgung und Ermordung der Juden vor allem in Litauen und Lettland“ ein. „Von den Deutschen rekrutierte baltische Polizeibataillone, darunter auch lettische, waren ein sehr wichtiger Teil der deutschen Mordmaschinerie, die Juden in Belarus und sogar in Polen und der Ukraine ermordete.“
Der Historiker Thomas Lutz, bis 2023 Leiter des Gedenkstättenreferats der Stiftung Topographie des Terrors, stellte in seiner Kritik am EU-Gedenktag fest, dass die Kollaboration rechtsextremer Kräfte in den besetzten Gebieten zugunsten einer nationalistischen Geschichtsschreibung verharmlost wird:
Es werden unter dem Mantel der Europäisierung der Erinnerung nationale Mythen und Tabus vor allem hinsichtlich der Tatbeteiligung der eigenen Gesellschaft weiter gepflegt. Eine kritische Aufarbeitung der Geschichte, die auf der einen Seite mitfühlend mit den Opfern argumentiert, und auf der anderen Seite der Kollaboration mit den Besetzungsregimen und der Frage nach den Verantwortlichkeiten nachgeht, findet nicht statt.[24]
Die Advokaten des Geschichtsrevisionismus
Während einige der Hauptkritiker des Gedenktags in den letzten Jahren verstorben sind, darunter Uhl, Bauer, Zarusky und Wolfgang Benz, wurden jene Akademiker gefördert und in den Medien hofiert, die den Gedenktag befürworten, u. a. Karl Schlögel und Claudia Weber.
Der emeritierte Geschichtsprofessor und Ex-Maoist Karl Schlögel, ein enger Kollege Jörg Baberowskis, hatte 2023 die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten kritisiert, weil sie keine Gedenkveranstaltung am 23. August abhalten wollte. Er lamentierte in einem Gastbeitrag für die Märkische Allgemeine, dass „im Bewusstsein der meisten Deutschen“ der 1. September 1939 und der 22. Juni 1941 präsent seien, nicht jedoch die Zeit des Hitler-Stalin-Pakts und „das Schicksal der unter doppelte Herrschaft geratenen Völker Osteuropas“.
Diese vorgegaukelte Fürsorge für die „Völker Osteuropas“ dient erneut dazu, die Verbrechen beider Regime auf eine Ebene zu heben („doppelte Herrschaft“) und die Aufrüstung gegen Russland zu begründen.
So warb Schlögel letzten Herbst in der Welt am Sonntag dafür, dass Deutschland und der Westen noch aggressiver gegen Russland vorgehen und Waffen liefern, die das russische Hinterland treffen können. Die nächste Bundesregierung müsse den Mut haben, der deutschen Bevölkerung klar zu machen, dass die „Zeitenwende“ ein langer Prozess sei.
Die prominenteste Vertreterin einer Geschichtsrevision in Bezug auf den Hitler-Stalin-Pakt ist Claudia Weber, Professorin an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und Mitautorin des Ausstellungsbands. Weber gehört derselben rechten Akademiker-Riege wie Baberowski an, wurde bei ihm habilitiert und trat wie er dem rechtextremen „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ bei, das 2021 gegründet wurde.
Weber und die Herausgeber des Ausstellungsbands beziehen sich auch auf den britischen Historiker Roger Moorhouse, dessen Buch über den Hitler-Stalin-Pakt von 2014 mit einem Plädoyer für den Gedenktag der EU endet. In den Worten des renommierten Historikers Richard J. Evans ist es ein „zutiefst problematisches Buch“, weil darin der Stalinismus als viel schlimmer als der Nationalsozialismus dargestellt werde. „Dies spiegelt die postkommunistische Stimmung in den baltischen Staaten wider, wo SS-Veteranen als ‚Freiheitskämpfer‘ gegen die Russen gefeiert werden und ungehindert durch die Straßen Tallinns paradieren dürfen“, erläutert Evans.[25]
Bereits 2014 verfasste Weber ein Buch über das Katyn-Massaker, die Massenerschießungen polnischer Offiziere durch den sowjetischen Geheimdienst im Frühjahr 1940. Der erste Satz lautet: „Im September 1939 begann der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall der Sowjetunion und des ‚Dritten Reiches‘ auf Polen.“ Die zwei Jahre des Hitler-Stalin-Pakts beschreibt Weber hier als „deutsch-sowjetischen Vernichtungsfeldzug“.[26]
Beide Aussagen sind haarsträubende Geschichtsfälschungen, die darauf hinauslaufen, die Sowjetunion als Täter und Verursacher des Zweiten Weltkriegs darzustellen. Die Tatsache, dass der Krieg mit dem deutschen Überfall auf Polen begann und der Vernichtungsfeldzug von den Nazis ausging, will Weber revidieren.
Ihren Beitrag in dem aktuellen Sammelband stützt sie weitgehend auf ihr Buch Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz 1939–1941, das 2018 erschien und von der Bundeszentrale für politische Bildung zum Einsatz in Schulen und Universitäten neu aufgelegt wurde.
Das Buch beginnt mit einem unverblümten Plädoyer für Geschichtsrevisionismus. Sie wolle der „Furcht vor dem Geschichtsrevisionismus“ in Westeuropa und besonders Deutschland entgegentreten, denn es gehöre zum „professionellen Grundverständnis, Vergangenheiten stets neu zu betrachten, umzudeuten, kurzum: die Geschichte der Revision zu unterziehen“. Ein Blick in die hier gesetzte Fußnote verrät, wessen Geistes Kind Weber ist. Sie belegt ihre Aussage mit dem Briefwechsel zwischen dem französischen Historiker und Antikommunisten François Furet und dem deutschen NS-Apologeten Ernst Nolte.[27]
Sie orientiert sich explizit an Timothy Snyders „Bloodlands“ und verwischt die historischen Unterschiede zwischen den – wie sie schreibt – „nationalsozialistischen und stalinistischen Gewaltakteuren“. Wie der Historiker Stefan Plaggenborg in einer Rezension kritisch anmerkt, führe ihre Interpretation „zur impliziten These von der totalitären Konvergenz der Regime“. Dabei gehe der von Hitler geplante und angeordnete Vernichtungskrieg in ihren Beschreibungen unter, „wie überhaupt die deutschen Strategien weniger berücksichtigt werden als die sowjetischen“.
Laut Weber habe der Pakt für Stalin eine „unglaubliche Machtsteigerung“ bedeutet, die außenpolitische Isolation der UdSSR beendet und die Kriegsgefahr reduziert. Stalin sei als „Gewinner vom Platz“ gegangen und habe „brutal und kompromisslos“ den „Export der kommunistischen Ideologie“ in Osteuropa betrieben. (S. 70)
Die historische Bedeutung des Nichtangriffspakts habe darin bestanden, dass die in „Feindschaft verbundenen Diktaturen mit diesem Vertrag den Zweiten Weltkrieg in Europa entfesselten. Er stand am Beginn eines zerstörerischen Weltgemetzels, das in den Holocaust führte und eine Massenvernichtungsmaschinerie in Gang setzte, von deren Folgen sich Europa bis heute nicht erholt hat. Hitler und Stalin teilten Europa und die Welt für Jahrzehnte.“ (S. 71)
Die Formulierungen sind bewusst so gewählt, um beide Regime für das „zerstörerische Weltgemetzel“ und die „Massenvernichtungsmaschinerie“ verantwortlich zu machen. Nicht Hitler habe das Gemetzel begonnen, das in den Holocaust führte, und Europa aufgeteilt, sondern Hitler und Stalin gemeinsam.
Weber distanziert sich in einem Unterabschnitt des Pakt-Buchs zwar von der Präventivkriegsthese, laut der der deutsche Überfall auf die Sowjetunion lediglich einem sowjetischen Angriff zuvorkam – nur um sie dann durch die Hintertür doch wieder einzuführen. Laut Weber habe Stalin nämlich lediglich aus taktisch-propagandistischen Gründen darauf verzichtet, Deutschland als erster anzugreifen:
Plante Stalin also im Frühjahr 1941, dem deutschen Überfall zuvorzukommen? Wahrscheinlich nicht, und neben vielen anderen guten Gründen, die gegen diese These sprechen, war vor allem Stalins Widerwillen, den Pakt vor Hitler zu brechen und als Aggressor aufzutreten oder als solcher bezeichnet werden zu können, ausschlaggebend. Diese Rolle hatte er schon im September 1939 strikt vermieden, als Hitler mehr als zwei Wochen auf den sowjetischen Einmarsch in Polen warten musste. Seitdem hatte sich diese Einstellung nicht geändert, und wenn der Krieg schon unvermeidbar war, dann sollte er doch auf sowjetischem Boden beginnen. Im Unterschied zu Stalin scherten Hitler derartige Feinheiten weniger, obwohl ihm ein sowjetischer Angriff im Juni 1941 einige Propagandalügen erspart hätte. (207f.)
Hinter der „Präventivkriegsthese“ steht die Kriegsschuldfrage: Wer war der eigentliche Aggressor und trägt die Verantwortung für den Kriegsausbruch? Obwohl sie längst wissenschaftlich widerlegt ist, wurde die „Präventivkriegsthese“ deshalb auch nach dem Krieg immer wieder aufgewärmt und neu verpackt.[28]
Nach dem Krieg hatten Kriegsteilnehmer und -verbrecher die Behauptung vom „Präventivkrieg“ verbreitet. In den 1980er Jahren wurde sie von Ernst Nolte im Historikerstreit erneut aufgegriffen. Im Zuge der Perestroika und der Auflösung der Sowjetunion machten sich einige Geschichtsrevisionisten Enthüllungen über den Stalinismus – darunter auch die Veröffentlichung des geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Pakts – zunutze, um die Präventivkriegslüge wiederzubeleben, darunter der sowjetische Überläufer und ehemalige Nachrichtendienstler Viktor Suworow.
Im Jahr 2000 betonte die Historikerin Bianka Pietrow-Ennker die politische Relevanz der Wiederkehr der Präventivkriegsthese:
Auch für den politischen Standort der nachfolgenden Generationen in Deutschland scheint es wesentlich zu sein, eine klare Antwort auf die Kriegsschuldfrage zu finden, da das historische Erbe zugleich das Fundament darstellt, von dem aus die Beziehungen zu den europäischen Nachbarn, insbesondere Russland, gestaltet werden.[29]
Heute wird die Präventivkriegsthese von AfD-„Historikern“ wie Stefan Scheil offen vertreten, der deshalb 2014 den Historikerpreis der rechtsextremen Erich und Erna Kronauer-Stiftung verliehen bekam. Die Laudatio stammte von Ernst Nolte. Denselben Preis erhielt zwei Jahre später der US-Akademiker Sean McMeekin, der in seinem jüngsten revisionistischen Machwerk (in deutscher Übersetzung „Es war Stalins Krieg“, erschienen 2023 in einem rechtsextremen Verlag) Stalin als eigentlichen Verantwortlichen und Profiteur des Zweiten Weltkriegs präsentiert.
Doch die Fakten sind eindeutig: Hitler und die Wehrmachtsführung gingen nicht von einer Bedrohung durch die Sowjetunion aus. Angesichts der enormen Schwächung der Roten Armee im Großen Terror waren sie vielmehr überzeugt, dass Moskau nicht zu einem Angriff bereit wäre. Die gesamte Politik Stalins bis zum 22. Juni 1941 orientierte sich auf die Vermeidung eines Kriegs, den Erhalt des Bündnisses mit Deutschland und die Beschwichtigung des Aggressors durch Zugeständnisse. Stalin erlaubte keine systematische militärische Vorbereitung der Roten Armee auf einen Überfall und schlug alle Warnungen bis zum Moment des Angriffs in den Wind.[30]
Geschichtsrevision als Kriegswaffe
Wenn jetzt in der Ausstellung und dem Band zum Hitler-Stalin-Pakt davon gesprochen wird, man wolle den „Erfahrungen“ und „Perspektiven“ der Länder Ost- und Mitteleuropas zuhören und sie berücksichtigen, dann ist das ein Taschenspielertrick. Der herrschenden Klasse Deutschlands geht es nicht um die Leiden der Bevölkerung in Osteuropa oder das Schicksal der Opfer des Stalinismus. Sie stützt sich wie im Ersten und Zweiten Weltkrieg auf lokale nationalistische Kräfte, um die Region wirtschaftlich und militärisch zu dominieren.
Seit 2017 sind Nato-Battlegroups im Baltikum und Polen stationiert, um Russland einzukreisen. 2023 beschloss die Bundeswehr, eine Kampfbrigade von 5000 Mann dauerhaft in Litauen zu stationieren. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren, 2025 soll sie in den Dienst gestellt und 2027 einsatzbereit sein. Zudem haben baltische Politiker, die antirussische Scharfmacher sind, hohe Posten in der neuen EU-Kommission erhalten.
Ende Oktober weihte Verteidigungsminister Boris Pistorius ein neues Marinehauptquartier in Rostock ein, das für die sogenannte maritime Lagebilderstellung im Gebiet der Ostsee im Rahmen der Nato-Kriegsoffensive gegen Russland zuständig ist.
2023 trat Finnland der Nato bei – ausgerechnet das Land, dessen Streitkräfte im Vernichtungskrieg der Nazis gegen die Sowjetunion gekämpft und eine wesentliche Rolle in den Offensiven gegen Leningrad und Murmansk gespielt hatten. Vom 18. bis 28. November 2024 fand hier erstmals eine groß angelegte Artillerieübung der Nato statt. Im Laufe des Jahres wurden in Nordeuropa bereits weitere Nato-Manöver abgehalten, die gegen Russland ausgerichtet sind.
Im Ausstellungsband wird der Nato-Beitritt Finnlands als Ergebnis der historischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg dargestellt. Die „Finnen“ hätten den Krieg als das „Überleben ihrer eigenen Demokratie gegen die sowjetische Aggression“ erlebt, behauptet der Autor Ville Kivimäki. Das „finnische Narrativ“ verlaufe hierbei parallel zu den baltischen Staaten:
„Die größte Bedrohung für ihre nationale Existenz kam aus dem Osten und Stalin war der Hauptverantwortliche für den Krieg.“ Unter der Oberfläche habe die „kontinuierliche Angst vor dem unberechenbaren Nachbarn im Osten“ fortgewirkt. Daher sei es in Finnland selbstverständlich, „den Hitler-Stalin-Pakt als das wahre und anhaltende Gesicht der russischen Ambitionen in Europa zu sehen“.[31]
Diese Instrumentalisierung der Geschichte ist für die herrschende Klasse Deutschlands von besonderer Bedeutung, weil sie im 20. Jahrhundert die monströsesten Verbrechen begangen hat. Ein erneuter Krieg gegen Russland, der in einen Dritten Weltkrieg eskaliert, stößt in der Bevölkerung auf Ablehnung. Die Geschichtsklitterung dient dazu, die Bevölkerung zu verwirren, die historischen Fakten zu vernebeln und auf diese Weise die tiefverwurzelte Antikriegshaltung zu durchbrechen.
Dieses Ziel brachte am deutlichsten Felix Ackermann auf den Punkt, ein Professor für Public History an der Fern-Universität Hagen, der selbst an der Vorbereitung der Pakt-Ausstellung beteiligt war und Studierende in die Arbeit am Ausstellungskonzept eingebunden hatte. In einem Gastbeitrag für die FAZ unter dem Titel „Russlands Erpressung: Die Angst der Deutschen vor dem Dritten Weltkrieg“ kommentierte er im Dezember letzten Jahres:
Das historische Bewusstsein, in der unmittelbaren Kampfzone eines vorgestellten Dritten Weltkriegs zu liegen, hat hierzulande ein kollektives Trauma hinterlassen. Dieses erklärt, warum die Rufe nach Frieden und die Aufrufe zur Kapitulation der Ukraine im Osten und im Westen Deutschlands gleichermaßen zu hören sind.
Die deutsche Politik sei bislang „im Nachkrieg verharrt“ und habe versucht, Putin über Verhandlungen einzubinden. Weiter schreibt er:
Das Verharren in einer postnationalsozialistischen Form von Zeitlichkeit, die das Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft im Kern an das fortwährende Überwinden des Nationalsozialismus bindet, hat die Illusion eines immerwährenden Nachkriegs geschaffen. Dabei handelt es sich um eine Epoche, die nicht nur die Kriege außerhalb von Europa weitgehend ausblendet, sondern auch jene Kriege, die in Zukunft in Europa ausgetragen werden. […] Die Zeitenwende fordert nicht nur dazu auf, sich dem realen Krieg in unmittelbarer Nachbarschaft zu stellen, sondern auch einen neuen Modus von Zeitlichkeit anzuerkennen, in dem der Nachkrieg unwiederbringlich beendet ist.
Es ist nicht mehr Nachkriegszeit, es ist Kriegszeit, will Ackermann in seinem pseudophilosophischen Kauderwelsch sagen. Schluss mit „Post-Nationalsozialismus“ – stattdessen eine Zeitenwende, die die Rückkehr zu den Methoden und Verbrechen des Nationalsozialismus ermöglicht. Um das zu erreichen, muss das historische Bewusstsein und die darin wurzelnde Angst vor einem Dritten Weltkrieg durchbrochen werden.
Ackermann hat für seinen Kommentar einen brisanten Titel gewählt, denn er erinnert an einen Artikel von Paul Carrell in der Welt am Sonntag vom 21. Oktober 1979: „Die Rote Erpressung“. Der ehemalige SS-Obersturmbannführer und Pressechef von Außenminister Ribbentrop im Zweiten Weltkrieg, Paul Karl Schmidt, machte unter dem Pseudonym Carrell in der Nachkriegszeit eine schillernde Karriere als persönlicher Berater des rechten Verlegers Axel Springer, Informant des Bundesnachrichtendiensts und prominenter Verfechter der Präventivkriegsthese.
Während der Debatte um den Nato-Doppelbeschluss und die Aufrüstung der BRD gegen die Sowjetunion forderte er 1979 in dem besagten Welt-Artikel eine Änderung der Einsatzdoktrin der Bundeswehr zugunsten einer präventiven „Vorneverteidigung“ und verlangte die Modernisierung der taktischen Atomwaffen.
Ackermann betritt also alte Pfade. Wo früher die Alt-Nazis die Aufrüstung und Kriegshysterie gegen Moskau schürten, übernehmen heute Journalisten und Akademiker denselben Job – mit dem Vorteil, dass ihnen nicht der Makel der braunen Vergangenheit anhaftet und sie ohne nennenswerte Gegenrede die Talkshows und Feuilletons beschallen können.
Doch trotz aller Bemühungen: Nach zwei Weltkriegen und angesichts der heutigen Kriegsschauplätze im Nahen Osten und in der Ukraine ist die Ablehnung von Militarismus und Krieg in der Mehrheit der Bevölkerung tief verankert. Auch in den Reaktionen der Museumsbesucher in Berlin-Karlshorst spiegelt sich diese Tatsache wider.
Wer die kleine Ausstellung betritt, stößt am Eingang auf eine große Weltkarte mit angepinnten Zetteln. Dutzende persönliche Notizen auf Deutsch, Englisch, Russisch antworten auf die Frage: „Wo war meine Familie?“ Sie erzählen von Flucht, Vertreibung, Ermordung, Zwangsarbeit, Deportation, zerrissenen Familien. Die Notizen geben einen Eindruck davon, wie tief die Spuren sind, die der Zweite Weltkrieg und besonders die Verbrechen der Nazis über Generationen hinweg hinterlassen haben.
Ein Zettel fällt ins Auge: „Warum lernt die Menschheit nichts aus solchen Kriegen? Wann erleben wir eine Welt ohne Kriege?“
Auf einem anderen Zettel heißt es: „Mein Uropa war im Gefängnis bis zum Ende des Krieges, weil er gegen Nazis gekämpft hat.“ Ein weiterer: „Die Herkunftsfamilie meines Großvaters wurde ermordet da jüdischer Hintergrund. Mein Großvater konnte nach England emigrieren. Meine Tanten und Onkel fanden Sicherheit in England, Kanada und USA. So wurde meine Familie zu Weltbürgern.“ Oder: „Meine Großeltern mütterlicherseits mussten vor den Nazis 1933 nach Frankreich fliehen und haben den Terror dank vielfältiger Solidarität überlebt. Wichtiges Element für den Umgang mit Geflüchteten heute.“
Auf einem russischsprachigen Zettel wird geschildert, wie die Uroma aus Belarus zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurde und ihren Ehemann verlor; wie ihre Brüder 1943 im Krieg verschollen sind; wie der Uropa den Krieg durchhielt und heimkehrte.
Im Gästebuch prallen die politischen Positionen aufeinander. Neben vereinzeltem positivem Feedback kritisieren mehrere Beiträge die Ausstellung und die heutige Kriegslinie Deutschlands.
Auf Russisch schreibt eine Ukrainerin: „Ich bin sehr froh, dass es dieses Museum gibt, damit eine neue Generation die Gräuel des Krieges kennt und sich daran erinnert. Aber es macht mich sehr traurig, dass das heutige Deutschland dabei hilft, Krieg zwischen zwei verbrüderten Völkern zu führen.“ Sie denkt, dass die Mehrheit der Bevölkerung gegen den Krieg sei, und schildert, wie eng verwoben beide Länder in ihrer Familie sind: „Ich bin Ukrainerin, mein Mann ist Deutscher (aus Kasachstan), Schwiegermutter Russin, Schwiegervater Deutscher, Schwiegertochter Deutsche, Enkel Deutsche. … Ich bin für Frieden! Und ich will, dass Deutschland bei der Beilegung dieses Konflikts hilft.“
Ein anderer Besucher kritisiert: „Es ist eine positivistische Ausstellung – die Begründungen für das Handeln sowie die Interessen, besonders die wirtschaftlichen, werden nicht genannt.“ Zudem werde das Schicksal der Juden in den vom Deutschen Reich besetzten Gebieten kaum behandelt. Stattdessen werde „vor allem die ‚böse‘ Sowjetunion“ einseitig dargestellt.
In einem weiteren Gastkommentar steht: „Aus der Geschichte lernen? Mit dieser Ausstellung sicher nicht! Gerade jetzt entsteht der ‚eiserne Vorhang‘ neu, der Krieg eskaliert, das alte Lagerdenken funktioniert wieder. Deutsche Panzer fahren wieder auf alten Pfaden. Die Waffen nieder!“
Diese Reaktionen der Besucher zeigen einerseits, wie aktuell und brennend die Kriegsfrage ist, und andererseits, dass der Hitler-Stalin-Pakt und seine fatalen Folgen bis heute für Verwirrung und offene Fragen sorgen.
Gerade ein Verständnis der Ursachen, Ausmaße und Kontinuitäten der NS-Verbrechen im Zweiten Weltkrieg ist aus Sicht der Eliten in Deutschland jedoch ein Hindernis, weil es die heute wieder geforderte „Kriegstüchtigkeit“ untergräbt. Herfried Münkler, Politikwissenschaftler und Regierungsberater, hatte dieses Dilemma der deutschen Imperialisten 2014 in der Süddeutschen Zeitung auf den Punkt gebracht: „Es lässt sich kaum eine verantwortliche Politik in Europa betreiben, wenn man die Vorstellung hat: Wir sind an allem schuld gewesen.“
Je umfassender und aggressiver die Beteiligung der Bundesregierung am Ukrainekrieg und am Völkermord in Gaza, desto schärfer werden auch die Schlachten an der historischen Front geführt.
Allein im vergangenen Jahr wurden im Hauptgebäude der Humboldt-Universität (HU) zwei Ausstellungen gezeigt, die mit den Methoden der Gräuelpropaganda die Studierenden und Lehrenden für eine Fortsetzung und Ausweitung des blutigen Ukrainekriegs gewinnen sollten.
Ausgerechnet an der HU – der Universität, an der der „Generalplan Ost“ für den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion ausgearbeitet wurde, – lehrten mit Herfried Münkler und Jörg Baberowski zwei Professoren, die systematisch die Rolle Deutschlands im Ersten und Zweiten Weltkriegs umschrieben.
Bis heute stellt sich die Universitätsleitung hinter den rechtsradikalen Baberowski, der an seinem gut ausgestatteten Lehrstuhl die Verharmlosung der NS-Verbrechen weiterbetreibt. Einer seiner ehemaligen Mitarbeiter und Ziehsöhne, Robert Kindler, hat mittlerweile auch den zweiten Berliner Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte an der Freien Universität übernommen und sofort nach seinem Antritt den bisherigen Schwerpunkt des Lehrstuhls auf polnisch-jüdische Geschichte und die Verbrechen des Nationalsozialismus abgeschafft.
Mit dem Kampf gegen diesen Geschichtsrevisionismus im Interesse des deutschen Imperialismus ist vor allem eine politische Tendenz identifiziert: die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) und die International Youth and Students for Social Equality (IYSSE), die Jugendorganisation der SGP und des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI).
Die IYSSE kämpfen seit mehr als zehn Jahren gegen die Verwandlung der Universitäten in ideologische Kaderschmieden des Militarismus und rufen zum Aufbau einer internationalen sozialistischen Bewegung gegen Krieg auf. Die politischen Aufgaben, vor denen Jugendliche, Studierende und Arbeiter heute stehen, erfordern eine historisch fundierte Perspektive.
So wie die herrschende Klasse Geschichtslügen braucht, um ihre Kriegsagenda zu rechtfertigen, so ist die historische Wahrheit für die Arbeiterklasse lebenswichtig, um das ideologische Geflecht dieser Kriegsagenda zu durchschauen und zu durchbrechen. „Wissenschaft statt Kriegspropaganda“ – auf diesem Grundsatz muss die sozialistische Antikriegsbewegung beruhen.
Anke Hilbrenner, Christoph Meißner, Jörg Morré (Hg.), Riss durch Europa. Die Folgen des Hitler-Stalin-Pakts. Perspektiven aus Ostmitteleuropa, Göttingen 2024, S. 10.
Nataliia Nechaieva-Yuriichuk, „Der Molotow-Ribbentrop-Pakt im Spiegel aktueller Herausforderungen und Bedrohungen. Der Fall der Ukraine“, in: Riss durch Europa, S. 146.
Anke Hilbrenner, Christoph Meißner, Jörg Morré (Hg.), Riss durch Europa, S. 10f.
Ana Milošević, „Die Entkolonisierung der europäischen Erinnerung an den Molotow-Ribbentrop-Pakt? Pakte von Erinnerung und Vergessen“, in: Riss durch Europa, S. 24.
Karte „Unter der NS-Herrschaft ermordete Juden nach Land“, Bundeszentrale für politische Bildung, https://www.bpb.de/fsd/centropa/ermordete_juden_nach_land.php (Zugriff: 8.2.2025).
Kristo Nurmis, „Niemand hört uns. Der lange Schatten des Molotow-Ribbentrop-Pakts in Estland“, in: Riss durch Europa, S. 186.
Ebd., S. 188.
Dovid Katz, „Is Eastern European ‚Double Genocide‘ Revisionism Reaching Museums?“, in: Dapim: Studies on the Holocaust (2016), S. 1–30.
Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, hrsg. von Christian Hartmann et al im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, 2016, Online-Edition, Band II, S. 316 (Hervorhebung im Original).
Leo Trotzki, „Die Rolle des Kreml in der europäischen Katastrophe“ (18.6.1940), in: Trotzki Schriften, Bd. 1.2, Hamburg 1988, S. 1338–39.
Oleg Budnitzkij, „Wer profitierte vom Molotow-Ribbentrop-Pakt? Eine russische Perspektive“, in: Riss durch Europa, S. 70.
Wadim S. Rogowin, Weltrevolution und Weltkrieg, Essen 2002, S. 280. Die fatalen Folgen für die Komintern, deren Führung den Pakt verteidigte, zeigt auch dieser Quellenband auf: Bernhard H. Bayerlein (Hg.), „Der Verräter, Stalin, bist Du!“ Vom Ende der linken Solidarität 1939–1941, Berlin 2008.
Leo Trotzki, „Hitlers Quartiermeister“ (2.9.1939), in: Trotzki Schriften, Bd. 1.2, S. 1260.
Heidemarie Uhl, „Neuer EU-Gedenktag: Verfälschung der Geschichte?“ (21.8.2009), online veröffentlicht: https://sciencev1.orf.at/uhl/156602.html (Zugriff: 8.2.2025).
Punkt 17 der „Prague Declaration on European Conscience and Communism“ (3.6.2008), https://en.wikipedia.org/wiki/Prague_Declaration (aus dem Englischen, Zugriff: 13.2.2025).
„Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. April 2009 zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus“, online abrufbar unter: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-6-2009-0213_DE.html (Zugriff: 8.2.2025).
Zitiert aus dem Englischen nach Thomas Lutz, „Der 23. August. Thesen zur Installierung eines europäischen Gedenktages für alle Opfer von Diktaturen und Totalitarismen“, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Forschungen zum Nationalsozialismus und dessen Nachwirkungen in Österreich, Wien 2012, S. 373.
Jürgen Zarusky, „Vom Totalitarismus zu den Bloodlands. Herausforderungen, Probleme und Chancen des historischen Vergleichs von Stalinismus und Nationalsozialismus“, in: ders., Politische Justiz, Herrschaft, Widerstand. Aufsätze und Manuskripte, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte München–Berlin 2021, S. 167.
„Entschließung des Europäischen Parlamentes vom 19. September 2019 zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas“, online abrufbar unter: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2019-0021_DE.html (Zugriff: 8.2.2025).
Heidemarie Uhl, „Holocaust-Gedächtnis und die Logik des Vergleichs. Erinnerungskulturelle Konflikte in (Zentral-)Europa“, in: Hendrik Hansen et al (Hrsg.), Erinnerungskultur in Mittel- und Osteuropa. Die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Kommunismus im Vergleich, Baden-Baden 2020, S. 53f., online abrufbar unter: https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783845290539-53.pdf (Zugriff: 8.2.2025).
Yehuda Bauer, „Memo to the ITF on Comparisons between Nazi Germany and the Soviet Regime“ (2009), S. 5, online abrufbar unter: https://www.erinnern.at/gedaechtnisorte-gedenkstaetten/gedenktage/23-august (aus dem Englischen, Zugriff: 8.2.2025).
Ebd.
Ebd.
Thomas Lutz, „Der 23. August“, S. 383.
Richard J. Evans, „The Devils’ Alliance: Hitler's Pact with Stalin, 1939–1941 – review“, The Guardian, 6.8.2014, https://www.theguardian.com/books/2014/aug/06/devils-alliance-hitlers-pact-stalin-1938-1941-roger-moorhouse-review (aus dem Englischen, Zugriff: 8.2.2025).
Claudia Weber, Krieg der Täter. Die Massenerschießungen von Katyn, Bonn 2016, S. 13.
Claudia Weber, Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz 1939–1941, Bonn 2021, S. 14. Die folgenden Seitenangaben im Text stammen aus dem Buch.
Dieser Sammelband gibt einen fundierten Einblick in das Thema und widerlegt die Präventivkriegsthese: Bianka Pietrow-Ennker (Hg.), Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion, Frankfurt am Main 2000.
Ebd., S. 7.
Vgl. hierzu die Beiträge im Sammelband von Pietrow-Ennker, ebd.
Ville Kivimäki, „Finnland und der Hitler-Stalin Pakt von 1939. Der Fall eines Überlebenden“, in: Riss durch Europa, S. 170.