Der Antisemitismus-Vorwurf dient rechten Kreisen immer häufiger dazu, gegen kritische und linke Politiker und Künstler vorzugehen. Jüngste Opfer einer derartigen Kampagne sind die Ruhrtriennale und der kamerunische Historiker Achille Mbembe, der in diesem Jahr die Eröffnungsrede halten sollte.
Das Theaterfestival im Ruhrgebiet wurde inzwischen abgesagt, gegen den Willen der Intendantin Stefanie Carp, die vom Kultusministerium erst drei Stunden vor der Entscheidung informiert worden war. Sie hatte ein Konzept für „eine kondensierte Ruhrtriennale“ im September vorgelegt. Diese hätte, wie sie der Süddeutschen Zeitung sagte, „ein Labor sein können für eine Präsentationsform von Kultur in Zeiten der Pandemie“.
Wie weit die Auseinandersetzung um Mbembe bei der Absage eine Rolle spielte, ist nicht klar. Aber die Kampagne gegen ihn ging von denselben Parteien aus, die in Düsseldorf die Regierung stellen, der FDP und der CDU. Bereits in den vergangenen beiden Jahren war es zu ähnlichen Kampagnen gegen die Ruhrtriennale und Carp gekommen; 2018 wegen der Einladung der israelkritischen schottischen Band Young Fathers, und 2019 wegen der Einladung der israelischen Regisseurin Ofira Henig, die zu den schärfsten Kritikerinnen der israelischen Regierungspolitik gehört.
Der schwarze Soziologe, Historiker und Philosoph Achille Mbembe ist in Kamerun geboren, einer ehemaligen deutschen Kolonie, in der – darauf weist er in einem Interview mit dem Sender Deutschlandfunk Kultur hin – „nacheinander mehrere Kolonial-Gouverneure, darunter Gouverneur Jesko von Puttkamer, für einige Gräueltaten verantwortlich waren“.
Mbembe lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten und seit 2001 an der Witwatersrand Universität in Johannesburg. Er ist in Deutschland kein Unbekannter. Der Suhrkamp Verlag veröffentlichte verschiedene Bücher von ihm. 2015 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis für sein Buch „Kritik der schwarzen Vernunft“. 2018 wurde er mit dem Ernst-Bloch-Preis und dem Gerda-Henke-Preis geehrt und im vorigen Jahr hielt er Gastvorlesungen im Rahmen der Albertus-Magnus-Professur an der Kölner Universität.
Mbembe vertritt die Theorie des Postkolonialismus und befasst sich hauptsächlich mit dem kulturellen, psychologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nachwirken der kolonialistischen Unterdrückung sowohl in den ehemaligen Kolonien, als auch in den imperialistischen Ländern selbst. Er ist alles andere als ein Marxist. Er ruft nicht zum Klassenkampf auf, sondern zur Versöhnung nach seinem Vorbild Nelson Mandela. Er stützt sich auf Philosophen wie Immanuel Kant, aber auch auf schwarze Theoretiker wie Frantz Fanon oder den Dichter und Politiker Leopold Sedar Senghor, aber auch auf Poststrukturalisten wie Michel Foucault und postmoderne Theoretiker wie Jacques Derrida.
Man kann an Mbembes Auffassungen Etliches kritisieren, aber ihm Antisemitismus vorzuwerfen, ist schlichtweg abwegig. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk Kultur weist er diesen Vorwurf zu Recht zurück. „So befremdlich es klingen mag, meine zentralen politischen Vorstellungen kommen aus einer sehr tiefen Überzeugung. Ich bin der Ansicht, dass es bestimmte Dinge gibt, die menschliche Wesen anderen menschlichen Wesen nicht antun können. Auf dieser Grundlage wende ich mich gegen Antisemitismus, alle Formen des Rassismus und Diskriminierung, ebenso wie gegen Kolonialismus und andere Formen von Entmenschlichung.“
Und in seinem Artikel in der Zeit schreibt er, alles was er je geschrieben oder gesagt habe, beruhe auf „der Hoffnung auf die Herausbildung einer wirklich universellen menschlichen Gemeinschaft, von deren Tisch niemand ausgeschlossen wird“. Diese Hoffnung sei für ihn „weitgehend durch bestimmte Traditionen des jüdischen und des afro-diasporischen Denkens inspiriert“.
Stefanie Carp sagte der Süddeutschen Zeitung, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, und die meisten anderen Ankläger Mbembes hätten dessen Bücher offenkundig nicht gelesen. Sie wiederholten lediglich drei verkürzte Zitate aus seinem mehrtausendseitigen Gesamtwerk. Israel sei überhaupt nicht sein Thema.
„Wenn man aus den wenigen Passagen, in denen er im Rahmen einer Argumentation über Segregationen in sich demokratisch wähnenden Gesellschaften die palästinensischen Wohngebiete in Israel beschreibt, einen Antisemitismus-Vorwurf konstruieren möchte, kann man das bei jedem Intellektuellen oder Künstler aus dem globalen Süden machen,“ so Carp.
Mittlerweile haben 37 jüdische und israelkritische Wissenschaftler und Künstler die Abberufung von Felix Klein aus seinem Amt gefordert. „Wir halten Herrn Kleins Versuch, Professor Mbembe als Antisemiten hinzustellen, für unbegründet und unangemessen, anstößig und schädlich“, heißt es in einem an Bundesinnenminister Horst Seehofer gerichteten Brief, den u.a. der Künstler Dani Karavan, der Informatiker David Harel und die Sozialwissenschaftler Micha Brumlik, Moshe Zimmermann und Aleida Assmann unterzeichnet haben.
Neben Klein haben auch die beiden nordrhein-westfälischen Landtagsabgeordneten Lorenz Deutscher (FDP) und Günther Bergmann (CDU) die Kampagne gegen Mbembe befeuert.
Deutscher hat als kulturpolitischer Sprecher der FDP-Landtagsfraktion einen Offenen Brief an Stefanie Carp verfasst, in dem er unter anderem das folgende Zitat aus Mbembes Essay „Die Gesellschaft der Feindschaft“ als Beweis für dessen angeblichen Antisemitismus anführt: „Das Apartheidregime in Südafrika und – in einer ganz anderen Größenordnung und in einem anderen Kontext – die Vernichtung der europäischen Juden sind zwei Manifestationen dieses Trennungswahns.“
Mit „Trennungswahn“ meint Mbembe kolonialistische Unterdrückung, Ausgrenzung und Rassismus. Doch weil Mbembe an anderer Stelle auch die israelische Palästinenserpolitik kritisiert, interpretiert Deutscher folgendes in diesen Satz hinein: „Er relativiert nicht nur den Holocaust, er setzt die heutigen Juden Israels in der Logik der Gesamtargumentation an die Stelle der nationalsozialistischen, weißen Verbrecher – ein bekanntes Muster! Es scheint sich zu bestätigen, dass manche mit den toten Juden mehr anfangen können, als mit den lebenden.“
Mbembe bestreitet auch, dass er die Bewegung BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) unterstützt, die zum Boykott wirtschaftlicher, kultureller und akademischer Aktivitäten Israels aufruft, wie ihm vorgeworfen wird. Er hatte nur einmal, 2010, zusammen mit dem Friedensnobelpreisträger Bischof Tutu eine Resolution unterzeichnet, die den Abbruch der Beziehungen zur Ben-Gurion-Universität Beer Sheva forderte. Das Motiv für den Aufruf war laut Mbembe, der Zusammenarbeit mit Institutionen entgegenzuwirken, welche die gegen die Palästinenser gerichtete Politik Israels unterstützen. Ein Jahr zuvor hatte die israelische Armee drei Wochen lang den Gazastreifen bombardiert und dabei laut UN-Angaben 1444 Palästinenser getötet.
Am 28. April meldete sich in der Neue Züricher Zeitung auch der Historiker Michael Wolffsohn zu Wort, der 31 Jahre lang an der Bundeswehrhochschule in München unterrichtet hat. Er verband die Kritik an Mbembe mit einem Rundumschlag gegen alle linken und liberalen Kritiker der israelischen Regierungspolitik.
Ein „bestimmtes linkes Milieu“ pflege „eine offene Judenfeindschaft“, behauptete Wolffsohn. „Den Li-Libs [Linke und Liberale] und ähnlich programmierten Westlern ist nicht nur die jüdische und erst recht die israelische Politik – besonders unter Netanyahu –, sondern deren Weltsicht im Grunde ihres Seins zuwider. Ohne zwangsläufig Antisemiten oder Antizionisten zu sein – eigentlich haben sie ‚wirklich nichts gegen Juden oder Israel‘ –, sind sie dem Welt- und Menschenbild der Mehrheitsjuden und -Israeli abhold bis feindlich.“
Dieser pauschale Angriff auf alle, die im Namen von Humanität und Völkerrecht die Politik der Regierung Netanyahu kritisieren, ist Wasser auf die Mühlen von Rechtsextremen, von denen die wirkliche Gefahr des Antisemitismus ausgeht, wie der Aufstieg der AfD und ihres faschistischen „Flügels“ sowie der Anschlag auf die Synagoge in Halle zeigen.
Doch auf diesem Auge ist Professor Wolffsohn offensichtlich blind. Bereits am 1. Oktober 2014 war er gemeinsam mit dem rechtsextremen Historiker Jörg Baberowski im Deutschen Historischen Museum aufgetreten, wenige Monate nachdem Baberowski im Spiegel den Nazi-Apologeten Ernst Nolte rehabilitiert und erklärt hatte: „Hitler war nicht grausam“. Auch als Baberowski auf der gemeinsamen Veranstaltung erklärte, um islamistische Terrorgruppen zu bekämpfen, müsse man bereit sein, „Geiseln zu nehmen, Dörfer niederzubrennen und Menschen aufzuhängen und Furcht und Schrecken zu verbreiten“, nahm Wolffsohn daran keinen Anstoß.
Die Angriffe auf die Ruhrtriennale und Mbembe dienen durchsichtigen, reaktionären politischen Zielen und müssen zurückgewiesen werden.