Angesichts des exponentiellen Anstiegs der Infektionsfälle in Deutschland und Europa greifen Bundes- und Landesregierungen immer öfter zu pseudowissenschaftlichen Studien, um die Fortsetzung des Präsenzunterrichts in Schulen und Kitas zu rechtfertigen.
Jüngstes Beispiel ist ein Studienpapier des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn, das am Dienstag veröffentlicht und von vielen Medien begierig aufgegriffen wurde. Dem Papier zufolge hat der Unterrichtsbeginn nach den Sommerferien das Pandemiegeschehen in Deutschland nicht beschleunigt, sondern verlangsamt.
Diese haarsträubende These beruht auf einer statistischen Analyse der Infektionsberichte, die dem Robert-Koch-Institut (RKI) von den Gesundheitsbehörden der Landkreise übermittelt wurden und ignoriert sämtliche infektiologischen und virologischen Erkenntnisse.
Die Autoren vergleichen die tägliche Differenz der Fallzahlen zwischen Landkreisen in Bundesländern mit endenden Sommerferien und Landkreisen mit weiterhin geschlossenen Schulen und verfolgen diese Differenz über ein kurzes Zeitfenster von fünf Wochen – zwei Wochen vor Ferienende bis drei Wochen nach Schulbeginn. Sie stellen fest, dass das Muster der Daten zwar „tatsächlich einen kausalen Effekt des Sommerferienendes“ nahelegt. Allerdings sei dieser negativ.
Obwohl die Studie sich auf die Auswertung von Statistiken beschränkt und deren Hintergründe – wie vermehrte Tests von Urlaubsrückkehrern vor Schulbeginn, oder das Nichttesten von Klassenkameraden infizierter Schüler – nicht untersucht, ziehen die Autoren die weitreichendsten Schlussfolgerungen. So heißt es im Abriss:
Wir kommen zu dem Schluss, dass die Schulöffnungen in Deutschland unter strengen Hygienemaßnahmen, kombiniert mit Quarantäne- und Eindämmungsmaßnahmen, die Zahl der neu bestätigten SARS-CoV-2-Infektionen nicht erhöht hat.
Der Schlussteil enthält die arrogante Behauptung, das Papier liefere „erste kausale Beweise für das Ausbleiben einer Zunahme der Fälle nach Wiedereröffnung der Schulen am Ende der Sommerferien“ (Hervorhebung hinzugefügt). Und weiter:
Dieses Ausbleiben eines Anstiegs steht in krassem Gegensatz zu der Besorgnis über die Entstehung von Hotspots und Superspreading-Ereignissen in Schulen, die weltweit die Debatten über die Schulöffnungen beherrschen. Angesichts der hohen unmittelbaren und längerfristigen Humankapitalkosten der Schulschließungen sollten unsere Ergebnisse bei der Neubewertung der Kosten-Nutzen-Erwägungen für die Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts ernst genommen werden.
In Wirklichkeit belegen internationale Studien aus Japan, Israel und anderen Ländern übereinstimmend, dass Personenansammlungen in Innenräumen ohne Luftaustausch die besten Bedingungen für eine Ausbreitung virusbehafteter Aerosole bieten. Dies gilt insbesondere dann, wenn in diesen Räumen schwer geatmet, gesungen und gerufen wird, wie es in Klassenzimmern, Turnhallen und Umkleidekabinen der Fall ist.
Überall auf der Welt hat sich die Schließung der Schulen immer wieder als unerlässlich erwiesen, um die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus abzuschwächen. Wie der Spiegel am Mittwoch berichtete, wurden aus diesem Grund zuletzt in Nordirland und Moskau die Schulen erneut geschlossen.
Mittlerweile kann längst kein Zweifel mehr daran bestehen, dass der ungesicherte Präsenzbetrieb an Schulen, Kitas und auch Universitäten ein wesentlicher Treiber der Covid-19-Pandemie ist. Just einen Tag vor Veröffentlichung des IZA-Papiers publizierte das RKI eine unverbindliche „Handlungsempfehlung“ für Schulen, die explizit feststellt, dass „Ausbrüche in Schulen (…) nach Wiedereröffnung der Bildungseinrichtungen in zunehmendem Ausmaß beobachtet“ werden.
Laut dem jüngsten Coronavirus-Bericht der französischen Gesundheitsbehörde entfallen 35 Prozent der Infektionscluster auf „das schulische und universitäre Umfeld“. Einer aktuellen amtlichen Studie aus Großbritannien zufolge sind dortige Bildungseinrichtungen sogar für nahezu die Hälfte des Infektionsgeschehens verantwortlich. In Deutschland hat die unabhängige Lehrerinitiative #Bildungabersicher bislang weit über 1000 Infektionsfälle an Schulen und Kitas gezählt.
Das Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) ist keine wissenschaftliche Akademie, sondern ein rechter Thinktank des deutschen Imperialismus. Es wird von der Deutsche-Post-Stiftung finanziert und kooperiert unter anderem mit der Bertelsmann-Stiftung, der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) sowie der RAND Corporation, einer berüchtigten US-amerikanischen Denkfabrik. Die Arbeit all dieser Akteure ist von der pseudowissenschaftlichen Rechtfertigung ultrarechter Politik gekennzeichnet.
So forderte die INSM zuletzt, bei einem Anstieg der Corona-Neuinfektionen „Schulen und Kitas zuletzt“ zu schließen, während die Bertelsmann-Stiftung trotz der Pandemie in einer Studie dafür plädierte, mehr als jedes zweite Krankenhaus zu schließen. Was die RAND Corporation betrifft, so erarbeitete sie in den vergangenen Jahren unter anderem Strategien zur „Destabilisierung Russlands“ und für einen „Krieg gegen China“.
Präsident des IZA ist der verurteilte Steuerhinterzieher Klaus Zumwinkel, zugleich Mitglied des Vorstands der Post-Stiftung. Im „Wissenschaftlichen Beirat“ des IZA, der das Institut „in strategischen Fragen berät“, sitzen unter anderem die Professoren Jürgen Kluge – ehemaliger Vorstandsvorsitzender der milliardenschweren Investmentholding Franz Haniel & Cie GmbH – und Christopher Pissarides, Träger des „Wirtschaftsnobelpreises“ der schwedischen Reichsbank. Beiratsvorsitzender ist Dr. Thomas von Mitschke-Collande, Spross eines ostelbischen Adelshauses und ehemaliger Seniorpartner der Unternehmensberatung McKinsey.
Ein weiteres Beiratsmitglied ist Frank-Jürgen Weise, der in seiner Zeit als Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit eine Politik des staatlich organisierten Lohndumpings durchsetzte, die es der öffentlichen Einrichtung erlaubte, einen Überschuss von drei Milliarden Euro einzustreichen. Auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), dessen Leitung er 2015 übernahm, wurde von Weise mithilfe von McKinsey-Beratern auf Tempo und Effizienz getrimmt.
Weise ist Beiratsmitglied der Bundesakademie für Sicherheitspolitik und der Clausewitz-Gesellschaft – zweier militaristischer Kaderschmieden – und leitete im Jahr 2010 die „Bundeswehr-Strukturkommission“, die eine „radikale Erneuerung der Bundeswehr“ ausarbeitete. Mit der „Best Owner Group“ (BOG) leitet Weise zudem den Private-Equity-Fonds der Gewerkschaften IG Metall und IG BCE, der künftig dazu dienen soll, „Überkapazitäten“ in der Industrie abzubauen und Arbeitsplätze zu vernichten.
Vor diesem Hintergrund stellt die Publikation des IZA-Papiers einen bewussten Versuch dar, die Aufrechterhaltung des Präsenzunterrichts inmitten der Pandemie zu rechtfertigen und dient dazu, über die erdrückende Beweislast hinwegzutäuschen, die diese mörderische Politik verbietet.
So bezeichnet das Institut in seiner Ankündigung des Papiers „Schulschließungen“ als eine der „häufigsten und zugleich umstrittensten Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus“. Bei „lokal aufflammendem Infektionsgeschehen“ solle man „Kosten und Nutzen sorgfältig abwägen“, anstatt „reflexartig wieder zum Mittel der Schulschließungen zu greifen“.
Die „Kosten der entgangenen Bildung“ für die von den letzten Schulschließungen „weltweit betroffenen Schülerjahrgänge“ beziffert der Thinktank wiederum auf „bis zu 15 Billionen US-Dollar“. Damit ist die Summe gemeint, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten aus jungen Arbeitern herausgepresst werden soll, um den Einbruch der Kapitalmärkte im März auszugleichen.