Perspektive

Der Widerstand der Chicagoer Lehrer und der Kampf gegen die Pandemie

Am Samstag stimmten über 20.000 Chicagoer Lehrer mit überwältigender Mehrheit gegen die Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts. Sie trotzen damit der Kampagne des Schuldistrikts Chicago Public Schools (CPS), der Bürgermeisterin und Demokratin Lori Lightfoot und der Biden-Regierung, die die Schulen wiederöffnen wollen, obwohl in den USA jeden Tag mehr als 3.000 Menschen an Covid-19 sterben.

Die Wiedereröffnung der Schulen ist ins Zentrum des Klassenkampfs in den Vereinigten Staaten gerückt. Angesicht der Opposition unter den Pädagogen, die sich zunehmend der Kontrolle der Chicagoer Lehrergewerkschaft (CTU) entzieht, sah sich der Chicagoer Schuldistrikt am Dienstag gezwungen, seine aggressiven Pläne für vollen Präsenzunterricht inmitten der Pandemie vorübergehend zurücknehmen und auf Distanzunterricht umzustellen. Parallel arbeiten der CPS und die CTU daran, einen Deal auszuhandeln, den die Gewerkschaft ihren Mitgliedern verkaufen kann.

Der Widerstand der Chicagoer Lehrer wird von der gesamten herrschenden Klasse als Bedrohung angesehen, weil die Kampagne zur Rückkehr an den Arbeitsplatz inmitten der wütenden Pandemie mit den Schulöffnungen steht und fällt.

Die Schulen müssen wieder geöffnet werden, damit die Eltern in die unsicheren Betriebe zurückkehren und die Profite weiter sprudeln. Das ist der einzige Grund, warum die Biden-Regierung und Politiker beider Parteien mit Unterstützung der Lehrergewerkschaften – der American Federation of Teachers (AFT), der National Education Association (NEA) und ihrer lokalen Mitgliedsorganisationen – auf die Wiedereröffnung der Schulen im ganzen Land drängen.

Die Unternehmensmedien und das politische Establishment sind sich der Militanz der Pädagogen sehr wohl bewusst und führen eine wilde Propagandakampagne, um die Lehrer zu verunglimpfen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu verzerren.

Das Wall Street Journal, der konsequenteste Verfechter der „Herdenimmunität“ und Durchseuchungspolitik, bringt den Standpunkt der herrschenden Klasse am unverhülltesten zum Ausdruck.

Am Montag denunzierte die Redaktionsleitung des Wall Street Journals die Chicagoer Lehrer als „selbstsüchtig“ und erklärte: „71 Prozent der stimmberechtigten CTU-Mitglieder lehnen eine Rückkehr zum Präsenzunterricht ab, bis die Schulen ‚sicher‘ sind – also wenn die Lehrer Lust haben, zurückzukehren.“

Die Autoren kritisieren, dass die Stadtverwaltung angesichts des zunehmenden Widerstands der Lehrer eingeknickt ist: „Haben die Leiter des Schulbezirks nicht das Kinderbuch ‚If You Give a Mouse a Cookie‘ [Wenn man einer Maus einen Keks gibt] gelesen? Unvernünftigen Forderungen entgegenzukommen, führt zu noch unvernünftigeren Forderungen.“

Die tiefe Verachtung für die Lehrer, die in diesen Zeilen deutlich wird, bringt den ganzen Hass der herrschenden Klasse auf alle Arbeiter zum Ausdruck, deren Leben ihnen nichts bedeutet. Das Wall Street Journal lehnt die Forderungen der Lehrer nach „sicheren“ Bedingungen verächtlich ab, obwohl täglich in den USA über 3.000 Menschen an Corona sterben und rund 175.000 infiziert werden. Die ansteckenderen und tödlichen Virusmutationen verbreiten sich unentdeckt im ganzen Land.

Während der gesamten Pandemie hat das Journal zahlreiche Artikel geschrieben, die das „schwedische Modell“ unterstützen, also eine Durchseuchungspolitik, bei der sich das Virus ohne Eindämmungsmaßnahmen in der ganzen Bevölkerung verbreiten soll. Sie führte in Schweden zur höchsten Pro-Kopf-Todesrate der Welt.

Am 4. Mai, als die Todeszahl in den USA bei 71.447 lag, schrieb das Journal: „Die Gouverneure der USA sollten das schwedische Modell studieren, wenn sie beginnen, den landesweiten Lockdown zu lockern.“ Am 3. August rechtfertigten sie die damalige Wiedereröffnung der Schulen und warfen den protestierenden Lehrern „politische Erpressung“ vor.

Jetzt – bei einer US-Todeszahl von über 438.000 – veröffentlicht das Journal weiterhin endlose Sophistereien, um eine Politik zu rechtfertigen, die das Leben dem Profit unterordnet.

Das andere große Sprachrohr des politischen Establishments der USA, die New York Times, veröffentlichte am Sonntag einen Artikel von Erica Green mit dem Titel „Surge of Student Suicides Pushes Las Vegas Schools to Reopen“ (Anstieg der Suizide unter Schülern drängt Schulen in Las Vegas zur Wiederöffnung). Green behauptet, die Schulöffnungen seien eine Antwort auf die gesundheitliche Krise und psychischen Probleme, mit denen junge Menschen konfrontiert sind.

Das ist eine Lüge. Bei der Kampagne zur Wiedereröffnung der Schulen geht es nicht um das Wohl der Schüler, sondern um die Maximierung dessen, was die Times selbst als „Erwerbsbeteiligung“ bezeichnet. Brian Deese, Bidens designierter Direktor des Nationalen Wirtschaftsrats, ließ Anfang des Monats die Katze aus dem Sack, als er sagte: „Wir müssen die Schulen öffnen, damit die Eltern ... wieder arbeiten können.“

Green bringt in einer anderen Form das gleiche Argument vor, das ursprünglich von Thomas Friedman in der New York Times gemacht wurde: „Die Heilung darf nicht schlimmer als die Krankheit sein“, d.h. die Rettung von Leben darf nicht zu einem Hindernis für die Profitmaximierung werden. Das wurde zur Hauptlosung der Trump-Regierung, als sie im letzten Sommer die nicht lebensnotwendigen Betriebe und dann die Schulen öffnete.

Diese Artikel sind nur eine kleine Auswahl aus der Flut der Medienpropaganda, mit der in den letzten Wochen versucht wurde, die Schulöffnungen zu rechtfertigen.

Am Dienstag griffen die Medien zwei Studien der vom Gesundheitsministerium betriebenen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) auf, um ihre Lüge zu stützen, dass Schulen nicht zur Verbreitung von Covid-19 beitragen.

Eine der beiden Studien wurde im Morbidity and Mortality Weekly Report (MMWR) der CDC veröffentlicht und untersucht nur 17 Schulen mit kleinen Klassengrößen im ländlichen Bundesstaat Wisconsin. Die Autoren schränken selbst ein, dass sie „nicht in der Lage waren, eine asymptomatische Übertragung innerhalb der Schule auszuschließen, da keine flächendeckenden Tests durchgeführt wurden“.

In der Studie wird absurderweise behauptet, dass „Corona-Ausbrüche im Zusammenhang mit dem Bildungsbereich vom Kindergarten bis zur zwölften Klasse (K-12) selten berichtet wurden“. Ähnlich heißt es in der zweiten Studie: „Es gibt wenig Beweise dafür, dass Schulen in bedeutendem Maße zu einer erhöhten unkontrollierten Übertragung beigetragen haben.“

Die Autoren beider Berichte ignorieren die grundlegenden Fakten. Über 2,7 Millionen Kinder in den USA wurden positiv auf Covid-19 getestet. Die massive Verschärfung der Pandemie im November ging mit der stetigen Wiedereröffnung der Schulen im Herbst einher. Sie verschweigen außerdem, dass mindestens 530 Lehrer in den USA im vergangenen Jahr an Corona gestorben sind.

Die CDC-Berichte schweigen auch über zahlreiche Studien, die zeigen, dass die Schulschließungen eine der effektivsten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sind. Eine Studie, die jüngst im Wissenschaftsjournal Science erschien und 41 Länder untersuchte, fand heraus, dass die Schließung von Schulen und Universitäten die zweitwirksamste Maßnahme darstellt, die Regierungen weltweit ergriffen haben. Eine im Juli im Journal of the American Medical Association veröffentlichte Studie schätzt, dass die Schulschließungen in den USA zu Beginn der Pandemie über 40.000 Leben gerettet haben.

Die Behauptungen der CDC-Berichte lassen auch die Daten außer Acht, die von der Datenwissenschaftlerin und Whistleblowerin Rebekah Jones im „Covid Monitor“ zusammengestellt wurden, der einzigen umfassenden Übersicht von Ausbrüchen in amerikanischen Schulen. Der „Covid Monitor“ hat mindestens 505.068 Corona-Infektionen unter Schülern und Schulpersonal gezählt.

Während Trump und die Republikaner zuerst an der Spitze der Schulöffnungen standen, hat die Biden-Regierung jetzt ihren Platz eingenommen. Ende letzten Jahres setzte die Trump-Administration die CDC unter Druck, damit sie erklärten, dass Schulen nicht zur Ausbreitung der Pandemie beitragen. Das damalige CDC-Gutachten wurde deshalb als politisch voreingenommen kritisiert.

Aber jetzt ist es die Biden-Regierung, die die Schulöffnungen vorantreibt und die Gesundheitsbehörden unter Druck setzt, damit sie Daten liefern, die eine „sichere“ Wiedereröffnung der Schulen angeblich belegen.

Rebekah Jones antwortete am Dienstag in einem Tweet auf die World Socialist Web Site und kommentierte die Versuche der Regierung, die Rolle der Schulen als wichtigen Hort für die Corona-Verbreitung zu leugnen: „Das ist eine politische Einmischung in die Wissenschaft, die falsch ist, egal ob sie von Ron Desantis in Florida oder Joe Biden in Washington ausgeht. Schulen führen zur Ausbreitung. 500.000 Fälle in K-12-Schulen und sie steigen weiter.“

Die Arbeiterklasse muss die verlogenen Argumente der Medien und Politik, um sie in unsichere Klassenzimmer und Betriebe zu zwingen, mit Verachtung zurückweisen.

In ihrem Widerstand gegen die Schulöffnungen kämpfen die Chicagoer Lehrer für den Schutz ihrer Schüler, ihrer Familien, ihrer eigenen Gesundheit und der gesamten Gesellschaft. Ihr Kampf ist der Gegenpol zur mörderischen Gleichgültigkeit der herrschenden Klasse, die vom Wall Street Journal und der New York Times zum Ausdruck gebracht wird.

Zeitgleich mit dem Protest in Chicago haben in Montgomery, Alabama, Dutzende Lehrer am Montag die Arbeit niedergelegt, nachdem der Schulbezirk den Präsenzunterricht fortgesetzt hatte, obwohl allein in der letzten Woche vier Pädagogen an Covid-19 gestorben waren. Der Streik zwang den Schulbezirk zum Rückzug. Er kündigte innerhalb weniger Stunden an, dass die Schulen am 1. Februar vollständig auf Distanzunterricht umstellen werden.

Lehrer und die gesamte Arbeiterklasse sind mit der Biden-Regierung und der herrschenden Klasse konfrontiert, die die Schulen wieder öffnen wollen – ohne Rücksicht auf die Folgen für Pädagogen, Schüler, Eltern und Arbeiter. Zu ihren Gegnern zählen auch die Lehrergewerkschaften, einschließlich der CTU und anderer „radikaler“ lokaler Verbände, die alle der Wiedereröffnung von Schulen zugestimmt oder faule Vereinbarungen mit den Demokraten in New York, Houston, Boston, Baltimore, Washington D.C., Detroit, Salt Lake City, Michigan, Washington, Oregon, Kalifornien und zahlreichen anderen Städten und Bundesstaaten getroffen haben.

Im ganzen Land sind Lehrer und andere Mitarbeiter im Bildungsbereich entschlossen, sich der mörderischen Politik der herrschenden Klasse zu widersetzen. Pädagogen in Chicago, Alabama, New York, Michigan, Kalifornien, Texas, Pennsylvania und Tennessee haben ein Netzwerk von Aktionskomitees für sichere Bildung aufgebaut, die unabhängig von den Gewerkschaften und den beiden kapitalistischen Parteien sind und einen landesweiten politischen Generalstreik vorbereiten.

Diese Komitees müssen mit voller Tatkraft auf alle Arbeiter in den USA und international ausgeweitet werden, um eine vereinte Bewegung der Arbeiterklasse aufzubauen, die für ihre eigenen Interessen kämpft.

Alle Schulen und nicht lebensnotwendigen Arbeitsplätze müssen sofort geschlossen werden! Der Distanzunterricht muss voll finanziert werden und alle Arbeiter müssen mit den notwendigen Ressourcen ausgestattet werden! Die 3,9 Billionen Dollar, die von den Pandemie-Profiteuren weltweit angehäuft wurden, müssen enteignet und zur Finanzierung dieser Sozialprogramme verwendet werden!

Letztendlich ist der Kampf, vor dem Lehrer und alle Arbeiter stehen, ein globaler Kampf gegen das kapitalistische System. Die Kapitalisten werden es niemals dulden, dass ihre Profite sinken – egal, wie viele Menschen sterben und wie viele Familien zerstört werden. Die Arbeiterklasse kann die Pandemie nur beenden, wenn sie für eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft kämpft, die auf sozialer Gleichheit beruht und in der die menschlichen Bedürfnisse über dem privaten Profit stehen.

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