„Wissenschaftsleugnung“ und „Durchseuchung“: Führende Virologen rechnen mit Öffnungspolitik ab

Obwohl die Zahl der Covid-19-Patienten auf den deutschen Intensivstationen seit vier Wochen exponentiell ansteigt, weigern sich Bund und Länder, Schulen und Betriebe zu schließen und so das Pandemiegeschehen einzudämmen. Während Medizin und Wissenschaft seit Wochen einhellig einen „harten Lockdown“ fordern, hat sich der infektiösere und tödlichere Virusstamm B117 ungehindert ausgebreitet und ist nun laut Robert-Koch-Institut (RKI) für über 90 Prozent aller Neuinfektionen verantwortlich.

„Ich glaube, alle Virologen sind sich einig, dass wir in dieser kritischen Phase der dritten Welle sofort einen harten Lockdown brauchen“, erklärte der Virologie-Professor Oliver Keppler von der Ludwig-Maximilians-Universität München am Dienstag gegenüber der Tagesschau. „Ehrlich gesagt frage ich mich: Wo ist der? Er hätte eigentlich schon kommen müssen. Es gibt dazu keine Alternative. Und wir brauchen ihn jetzt, und am besten einheitlich in ganz Deutschland.“

Doch die Regierung macht keinerlei Anstalten, dieser Aufforderung auch nur annähernd nachzukommen. Stattdessen, so die Planung der Regierung, soll das Impfprogramm bei gleichzeitigem Anstieg der Inzidenzzahlen ausgeweitet werden – laut Experten wie der Max-Planck-Forscherin Viola Priesemann ein Rezept für das Entstehen impfresistenter Virusmutanten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel, die noch vor zwei Wochen persönlich die von allen Länderchefs verabschiedete sogenannte „Osterruhe“ gekippt hatte, ließ gestern durch eine Regierungssprecherin verkünden, dass jede Forderung nach einem „kurzen einheitlichen Lockdown“ zwar „richtig“ sei, aber für vorgezogene Bund-Länder-Beratungen derzeit „erkennbar keine Mehrheit“ existiere.

Erklärtes „Modell“ der neuen Stufe der Durchseuchungspolitik ist das Vorgehen der Regierung des Saarlandes. Die Große Koalition aus CDU und SPD, die das Bundesland regiert, veranlasste am Dienstag die flächendeckende Öffnung der Außengastronomie, der Fitness-Studios, der Theater und Kinos, obwohl die Fallzahlen in sämtlichen Stadt- und Landkreisen steigen und in den letzten Beschlüssen von Bund und Ländern nur von „ausgewählten Regionen“ die Rede war.

Der von unwissenschaftlichen Schnelltest-Regelungen flankierte Vorstoß ist selbst unter den betroffenen Inhabern hoch umstritten. So haben laut einer Umfrage des Hotel- und Gaststätttenverbands des Saarlands knapp 60 Prozent aller Mitglieder angegeben, man wolle trotz großer Einkommenseinbußen „mit einer Öffnung noch warten“.

Wie der Saarländische Rundfunk berichtet, soll die sogenannte „Notbremse“ – die ohnehin aus weitgehend wirkungslosen Maßnahmen besteht – erst „bei drohender Überlastung des Gesundheitswesens“ gezogen werden. Einen solchen „Stufenplan“ samt Orientierung an „freien Intensivbetten“ und anderen Parametern außer der Inzidenz hatten rechte Durchseuchungs-Befürworter in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder gefordert.

Im Hinblick auf das Saarland und ähnliche „Modellprojekte“ in Niedersachsen, Sachsen und Sachsen-Anhalt erklärte Virologin Sandra Ciesek (Institut für Medizinische Virologie Frankfurt) am Dienstag im NDR: „Wenn geöffnet wird, muss dem Bürger klar sein, dass das nichts mit Sicherheit zu tun hat.“ Anstatt die Pandemie durch eine wissenschaftliche Teststrategie einzudämmen, werde „die Verantwortung auf den Bürger abgewälzt“, stellte sie fest. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, so Ciesek, „dass das sicher ist“ – ein etwaiger Impfeffekt sei „noch nicht in Sicht“ und werde darüber hinaus „überschätzt“.

Auch ein vierwöchiger „Lockdown, bei dem die Kontakte um bis zu 50 Prozent zurückgefahren werden“, genüge nicht, um das Blatt entscheidend zu wenden, stellte die Virologin mit Blick auf Äußerungen des CDU-Vorsitzenden Armin Laschet fest. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen hatte zu Beginn der Woche von einem „Brücken-Lockdown“ für „zwei, drei Wochen“ gesprochen, ohne die Schließung von Schulen, Kitas und Betrieben auch nur zu erwähnen.

Obwohl die Wocheninzidenz in rund dreißig Stadt- und Landkreisen von NRW die dunkelrote Marke von 100 überschritten hat, werden indes vielerorts nicht einmal die beschlossenen „Notbremse“-Maßnahmen ergriffen. „Wenn wir als Ärzte klar gegen Evidenz handeln, hat das massive Folgen“, erklärte Ciesek zuletzt auf Twitter – doch „wenn dies Politiker tun, ist das egal“.

Wie die World Socialist Web Site berichtete, wird diese wissenschaftsfeindliche und menschenverachtende Politik von allen bürgerlichen Parteien gleichermaßen verfolgt. Im von der Linkspartei geführten Thüringen liegt die Wocheninzidenz in 19 Stadt- und Landkreisen höher als 100 und in acht Kreisen sogar über 200 (392 im Kreis Greiz). Auch die landesweite Inzidenz liegt mit 217 seit Wochen fast zweimal so hoch wie der Bundesdurchschnitt.

Der Anteil der mit Covid-19-Patienten belegten Intensivbetten beträgt in Thüringen bereits 35 Prozent und ist damit nahe am bisherigen Höchstwert, als im Januar täglich mehr als 1000 Menschen starben. Obwohl der Altersdurchschnitt der eingelieferten Patienten immer weiter sinkt, muss derzeit mehr als jeder Zweite künstlich beatmet werden. Trotzdem haben Ministerpräsident Bodo Ramelow und Kultusminister Helmut Holter (beide Linkspartei) im März beschlossen, Thüringer Schulen auch bei Inzidenzwerten von über 200 nicht mehr zur Schließung zu verpflichten.

„Was wir jetzt hier machen, ist ein Durchseuchungskurs“, stellte die Virologie-Professorin Melanie Brinkmann am Freitag in der Talkshow „Markus Lanz“ fest. „Was ist das Ziel? Die Intensivstationen nicht zu überlasten? Das ist ein ziemlich bescheuertes und absolut falsches Ziel“, so die um Worte ringende Wissenschaftlerin. „Wir könnten jetzt schon bei Zehner-Inzidenzen sein, wenn die Politiker bei der Bund-Länder-Konferenz im Januar ernst genommen hätten, was wir ihnen gesagt haben.“

Auch auf die Ankunft von B117 habe man „nicht reagiert“, obwohl die Modellierungen bereits im Januar „eindeutig“ die jetzige katastrophale Entwicklung vorhergesagt hatten. Brinkmann schlussfolgerte: „Man hätte die Ausbreitung dieser infektiöseren Variante aufhalten können, wenn man es gewollt hätte.“

Doch Politik und Wirtschaft „wollten nicht“ – ebensowenig, wie sie im März des vergangenen Jahres die weltweite Ausbreitung des SARS-CoV-2-Wildtyps verhindern wollten. In einem aktuellen Twitter-Beitrag, der sich mit dieser Frage befasst, stellt Virologin Isabella Eckerle von den Genfer Universitätskliniken fest:

„Ich habe immer mehr das Gefühl, dass die Eindämmung der Pandemie oder auch nur die objektive Auseinandersetzung mit Daten bei einigen Politikern nie das Ziel war.“ Ausschlaggebend für die Entscheidungsträger sei vielmehr „nur die Frage, wie man das jetzt irgendwie laufen lassen kann, ohne hinterher verantwortlich gemacht zu werden“. Anders, so die Forscherin, seien die scheinbar „vollkommen irrationalen Entscheidungen“ nicht zu erklären.

Tatsächlich spiegeln die kriminellen und bewusst getroffenen Entscheidungen der herrschenden Elite lediglich die Irrationalität des kapitalistischen Weltsystems wider, auf dessen Boden sich die Pandemie zunehmend zu einem Faktor in der imperialistischen Geopolitik verwandelt. Dies brachte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Dezember in einer Regierungserklärung unmissverständlich zum Ausdruck, als sie betonte, dass die Pandemie im „weltweiten Systemwettbewerb“ die „Kräfteverhältnisse“ der Großmächte „neu ordne“.

Um die mörderische Durchseuchungspolitik, die aus diesem Kalkül folgt, gegen die Bevölkerung durchzusetzen, stützte sich die herrschende Klasse Deutschlands seit Beginn der Pandemie auf eine gut geschmierte Propagandamaschine aus Boulevardpresse, pseudowissenschaftlichen Karrieristen und staatlicher Desinformation. Gemeinsam trugen diese Akteure dazu bei, die Profitinteressen voranzubringen und den Deutschen Aktienindex auf sein gegenwärtiges Allzeithoch von über 15.000 Punkten zu treiben, während in ganz Europa Hunderttausende den Erstickungstod starben.

Professor Christian Drosten hatte bereits in seinem letzten Coronavirus-Update am Dienstag vergangener Woche „klassische Motive der Wissenschaftsleugnung“ in der politischen Diskussion festgestellt, „die man schon aus der Klimadebatte kennt“. Dazu zählten unter anderem diverse „Pseudo-Experten mit Professoren- und Doktorentitel“, wie etwa die Unterzeichner der „Great Barrington Declaration“ und der „KBV-Stellungnahme“. Vervollständigt würden die „Hauptlinien der Wissenschaftsleugnung“ durch eine „falsche Ausgewogenheit“ der medialen Berichterstattung, „Ad-hominem-Attacken“ in führenden Zeitungen, „irreführende Analogien“ wie dem Vergleich zur saisonalen Grippe, sowie die Behauptung, man müsse „mit dem Virus leben lernen“ – das berüchtigte Credo der Durchseuchungsbefürworter um den Bonner Virologen Hendrik Streeck.

Insgesamt, so Drosten, hätten „Medien und Politik“ im Verein mit „gewissen soziale Gruppen, die das befeuern“ einen „großen Beitrag“ zur „Desinformation“ geleistet. Er sei angesichts der weitverbreiteten Wissenschaftsleugnung in der Politik „nicht sicher“, ob das notwendige Instrument eines neuen Lockdowns auch „letztendlich gewählt werde“.

Die vernichtenden Urteile über die deutsche Pandemiepolitik aus dem Munde der führenden Covid-19-Experten verdeutlichen ein weiteres Mal die Wissenschafts- und Menschenfeindlichkeit der kapitalistischen Agenda. In Folge der rücksichtlosen Durchseuchungspolitik sind allein in Deutschland bereits mehr als 77.000 Menschen an Corona gestorben. Die dramatische Erfahrung der letzten Monate zeigt, dass die Pandemie nicht durch Appelle an die Herrschenden besiegt werden kann.

In seinem Podcast-Beitrag warnte Drosten die Regierung davor, dass sich die Bevölkerung der Profite-vor-Leben-Politik durch ein unabhängiges Eingreifen widersetzen könnte: „Wenn wir eine hohe Inzidenzwelle bekommen, dann wird die Bevölkerung ganz von selbst dagegensteuern. Dann ist wirklich ein Schaden auch für die Wirtschaft gesetzt.“ Bereits im März hatte der Physiker und Regierungsberater Dirk Brockmann angesichts der Weigerung von Bund und Ländern, den notwendigen Lockdown zu verhängen, gegenüber der Zeit gesagt: „Ich glaube, die Leute begreifen, dass sie die Pandemie selbst bekämpfen müssen.“

Es ist dieses Programm, das nun in die Tat umgesetzt werden muss. Um „die Pandemie selbst zu bekämpfen“ und durch einen europaweiten Generalstreik einen wirklichen Lockdown herbeizuführen, der auch Schulen und alle nicht lebensnotwendigen Betriebe schließt, benötigen Arbeiter neue Organisationen, die in der Lage sind, international koordiniert vorzugehen. Ein wissenschaftliches und rationales Gesundheitsprogramm kann dabei nur auf der Grundlage einer sozialistischen Perspektive gegen den Widerstand der nationalen Kapitalisten durchgesetzt werden.

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