„Ich habe zu viele Tote in einen Plastiksack einpacken müssen“

Zwei Jahre „Profite vor Leben“ in der Pandemie: Pflegekräfte und Ärzte ziehen Bilanz

„Ich bin gebrochen, moralisch, seelisch und körperlich – ich kann nicht mehr. Wie mir geht es vielen tausenden Pflegefachleuten und auch Ärztinnen und Ärzten. Man hat uns verbrannt, geopfert und versucht jetzt unseren letzten Funken Moral zu zerschießen. Zigtausende ITS-Betten sind nicht mehr betreibbar, weil das Personal völlig am Ende ist. Diejenigen, die gehen konnten, sind gegangen. [Die Verbliebenen] müssen nun eine vierte Welle durchstehen, die viele weitere Kolleginnen und Kollegen innerlich brechen wird.“

Mit diesem viralen Beitrag auf Twitter bringt ein anonymer Krankenpfleger die Situation im deutschen Gesundheitssystem auf den Punkt. Nach zwei Jahren Covid-19-Pandemie sind Ärzte und Pflegekräfte, die weltweit täglich für den Schutz von Menschenleben kämpfen, völlig am Limit. Die Situation ist dramatischer als je zuvor. Allein in Deutschland sterben trotz Impfungen täglich wieder mehr als 370 Menschen und etwa 50.000 infizieren sich.

Inmitten dieses Massensterbens, das durch die Ausbreitung der hochansteckenden Omikron-Variante weiter eskalieren wird, haben Arbeitgeber und Gewerkschaften einen neuen Tarifvertrag ausgeheckt, der für Pfleger und andere öffentlich Beschäftigte eine Reallohnsenkung von fünf Prozent bedeutet. Am entgegengesetzten Pol der Gesellschaft ist derweil das Vermögen der hundert reichsten Deutschen in der Pandemie um 116 Milliarden auf 722 Milliarden Euro angewachsen.

Die profitorientierte Reaktion der Regierung auf die Pandemie hat alle bestehenden Verwerfungen im Gesundheitsbereich zulasten von Arbeitern und Pflegebedürftigen auf die Spitze getrieben. Weil Pflegerinnen und Pfleger seit Jahren regelrecht verheizt werden, befindet sich die Zahl der verfügbaren Intensivplätze mittlerweile auf dem niedrigsten Stand seit Beginn der Pandemie.

Medizinisches Personal mit Schutzkleidung auf der Station 43 der Berliner Charité (Bild: DOCDAYS Production)

Die World Socialist Web Site sprach im Rahmen des Global Workers‘ Inquest zur Corona-Pandemie mit Ärzten und Pflegern verschiedener Berufszweige, die ein erschreckendes und schonungsloses Bild der Katastrophe zeichnen.

„Ich habe weiß Gott viel zu viele Tote in einen Plastiksack einpacken müssen“, berichtete Marion, die seit 25 Jahren als Krankenpflegerin arbeitet und seit Frühjahr 2020 auf einer peripheren Covid-Station eingesetzt ist.

„Wir sind voll und es ist fürchterlich anstrengend. Es ist ein Wahnsinn, wie wir arbeiten müssen und wie wir mit Patienten umgehen müssen. Ganz oft sind die Patienten alt und ohnehin pflegebedürftig. Sie sind völlig isoliert von ihren Familien und äußerst abhängig von unserer Mimik – die wir aber nicht haben, weil wir vollständig verkleidet sind.

Dann haben wir die Kinder, die sich in den Schulen, in den Kindergärten infizieren und das Virus mit nach Hause bringen und ihre Eltern und Großeltern infizieren, die dann anschließend im Krankenhaus landen – und vermutlich einsam und grausam daran versterben. Wir erleben all das mit und nehmen das auch mit nach Hause.“

Dass viele Pflegekräfte in den letzten Monaten „schreiend davongelaufen“ sind, so Marion, „ist auch mit Geld nicht mehr gut zu machen“:

„Es müssen die Bedingungen geschaffen werden, unter denen eine patientenorientierte und patientengerechte Pflege stattfinden kann – die hatten wir aber auch schon vor Corona nicht.

Spätestens seit der Einführung der DRGs [diagnosebezogene Fallgruppen, ‚Fallpauschalen‘] werden die Krankenhäuser zu Wirtschaftsbetrieben. Wenn meine Oma sich die Hüfte prellen würde, wäre sie ein extremer ‚Kostenfaktor‘. Wenn sie sich allerdings die Hüfte bricht, kann man mit ihr richtig viel Geld verdienen, weil sie dann operiert werden muss – und das honoriert die Krankenkasse.“

Im Interesse des Profits würden Liegezeiten minimiert und der „Durchsatz“ der Stationen maximiert, berichtet Marion:

„Es ist ein Kommen und Gehen, oft mit blutigen Entlassungen. Die Pandemie hat die Situation auf den Stationen weiter verschlimmert. Manche meiner Kollegen konnten aufgrund von Long Covid dieses Jahr noch kein einziges Mal zur Arbeit kommen – auch diese Leute fehlen uns.

Ich liebe meinen Beruf und arbeite seit 25 Jahren am Bett, aber unter diesen Bedingungen werde ich wahrscheinlich nicht bis zur Rente durchhalten. Ich bin gezwungen zu entscheiden, ob ich mich um diesen Kranken oder jenen Sterbenden kümmere – das ist auch eine Art von Triage. Ich wäre schon letztes Jahr für einen Lockdown gewesen. Das ständige Hin und Her zermürbt die Leute. Jetzt kommt ein Lockdown fast zu spät. Morgen geht es wieder an die Front…“

Laura (26) arbeitet seit fast drei Jahren als Krankenpflegerin in der Notaufnahme eines Krankenhauses in NRW. Sie berichtet:

„Ich halte die Patienten entweder stabil oder mache die ersten Maßnahmen der Therapie, bis sie entlassen, aufgenommen oder weiterverlegt werden. Im Moment arbeiten meine Kollegen und ich in drei Schichten von zwei Personen, aber je nach Patientenaufkommen müssten wir bei zwei dieser Schichten eigentlich zu viert sein. Bis vor Kurzem waren wir im Nacht- Feiertags- und Wochenenddienst allein.

Für das Patientenaufkommen ist das einfach nicht mehr machbar. Das äußert sich in der hohen Verantwortung, die man mit unterschiedlichen Patienten und Fachrichtungen hat. Ich bin Ansprechpartner, ausführende Person und Organisator für drei verschiedene Ärzte. Insgesamt habe ich deswegen teilweise 22 Patienten zur gleichen Zeit, die ich registrieren, versorgen, von Station zu Station transportieren oder übergeben muss.

Wenn viel los ist, schaffen wir das meiste oft nur, weil wir Schüler oder Praktikanten haben, auf die wir uns viel verlassen müssen. Es gibt Tage, da rennt man ununterbrochen ohne Pause und Toilette herum. Ein Kollege hat einmal in einer Tabelle dargestellt, wie stark unsere Zahlen in den letzten drei Jahren gestiegen sind. Es ist viel schwieriger geworden.“

Tina, die an einer Krankenpflegeschule in Nordrhein-Westfalen den Examenskurs belegt, bestätigt dies:

„Ohne uns Schüler könnten die Krankenhäuser dicht machen. Man läuft mittlerweile zu hundert Prozent mit und kann oftmals die eigenen Lernziele nicht erreichen. Ich hatte letztens Stress mit der Pflegedienstleitung, weil ich geäußert habe, dass ich mich verheizt fühle und es unmenschlich ist, wie die Patienten abgefertigt werden. Das will man dort natürlich nicht hören.

Für die Pflegebedürftigen war es auch vor Corona schon schlimm, weil das ganze System seit Langem überlastet ist. Für uns Schüler hatte Corona zur Folge, dass wir im Homeschooling waren. Das bedeutet: Kein angemessener Unterricht und dementsprechende Lernlücken, die wir dann irgendwann wieder aufholen mussten. Vor Ort hatten wir leider keine adäquaten Ansprechpartner.“

Robert ist Intensivmediziner und Oberarzt an einer Uniklinik in NRW. „Corona ist der Katalysator, der die ganzen angestauten Probleme zum Platzen bringt, die sich durch das Zusammensparen ergeben haben“, sagt er:

„Die medizinische Versorgung in Deutschland hat sich seit der Einführung des DRG-Systems durch den extremen Gelddruck über die letzten Jahre sehr verändert. Vieles ist zusammengestrichen worden. Unsere zwölf bzw. 18 Intensivbetten-Beatmungsstationen haben wir noch nie alle gleichzeitig einsetzen können, weil Pflegekräfte von Anfang an gefehlt haben. Der Druck im System – der durch den Arbeitsaufwand und die nicht angemessene Bezahlung erzeugt wird – wurde durch Corona noch einmal maximal verstärkt.

Die Hauptlast liegt dabei aus meiner Sicht noch nicht einmal bei den Ärzten. Ich war in den letzten Tagen zwar auf sechs ECMO-Einsätzen – aber die Menschen in der Pflege sind die, die wirklich unter dem Ganzen leiden.

Wer mit Corona-Patienten zu tun hat, verbringt vier bis sechs Stunden mit spezieller Schutzkleidung – Kittel, Haube, FFP2 Maske, Handschuhe – verkleidet in den Corona-Zimmern. Die Patienten, von denen der große Teil adipös ist, sind pflegerisch enorm aufwendig. Sie müssen regelmäßig vom Rücken auf den Bauch gewendet und gewaschen werden, Infusionsleitungen müssen gewechselt werden und so weiter.

Auf der einen Intensivstation haben wir fünf Kräfte pro Schicht – wenn wir Glück haben – die zehn Intensivpatienten betreuen müssen. Die Geräte sind laut, alles piepst und viele unserer Pflegekräfte werden auch nicht jünger. Die Todesrate bei den ECMO Patienten mit Corona liegt bei ca. 50 Prozent.

Der Job zerstört sowohl körperlich als auch seelisch. Medikamente kontrollieren, aufziehen und geben, Patienten waschen, drehen, Beatmungsparameter anpassen, Blut abnehmen etc., das ganze natürlich im Schichtdienst mit vielen Nacht- und Wochenendschichten. All das führt dazu, dass viele Kollegen sagen: Ich will und ich kann nicht mehr.

Darüber hinaus ist der Dienstplan maximal auf Kante gestrickt. Wenn kurzfristig jemand ausfällt, z.B. wegen Krankheit, ist die Pflege zu Dienstbeginn auf einmal nur zu dritt oder viert. Man kann aber nicht Patienten einfach verlegen, um den Pflegeschüssel anzugleichen, sondern anstelle von zwei schwerkranken Patienten müssen die Pflegekräfte dann drei betreuen – worunter die Qualität der Arbeit leidet und die Pflegekraft maximal gestresst wird. Unsere erfahrenen Mitarbeiter kennen das, und ertragen vieles sehr stoisch, aber wer jetzt neu dazukommt, fühlt sich wie von einem Lkw überfahren.

Ich weiß, dass viele Angestellte von anderen Kliniken ihre Schutzausrüstung teilweise tagelang tragen mussten. Wir selbst haben durch Corona viel weniger Blutspenden, sodass unsere Blutkonserven teilweise knapp werden. An einem Punkt haben wir fünf Tage lang bis auf Notfälle keine Operationen mehr durchführen können, weil dafür keine Blutkonserven mehr verfügbar waren. Solche und viele weitere Nebenwirkungen hat die Pandemie.

Sinnvoll wäre eine Niedriginzidenzstrategie gewesen, damit alle Patienten gut versorgt werden können. Diejenigen, die bei uns landen, sind nicht unbedingt Angehörige des ‚Querdenker-Milieus‘. Was wir viel eher sehen, sind Leute mit Migrationshintergrund, die wenig Deutsch sprechen und keine medizinische Anbindung haben. Das sind 60 bis 80 Prozent unserer schwerkranken Patienten.“

Die World Socialist Web Site wird in den nächsten Tagen und Wochen weitere Berichte und Interviews mit Betroffenen über die katastrophalen Auswirkungen der Pandemie und die Konsequenzen der offiziellen „Profite vor Leben“-Politik veröffentlichen. Registriert euch für das Global Workers' Inquest, um uns über eure Erfahrungen zu informieren und den Kampf für die weltweite Eliminierung von SARS-CoV-2 aufzunehmen.

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