Gegen den von US-Präsident Biden vermittelten Tarifvertrag:

Widerstand unter Eisenbahnern zeigt Zusammenbruch bürokratischer Kontrolle

Schienenarbeiter von BNSF in Vaughn (New Mexico) [Photo: BNSF]

Vor sechs Wochen verkündete US-Präsident Joe Biden unter großem Aufsehen eine vom Weißen Haus ausgehandelte Einigung im Tarifstreit mit den Gewerkschaften der Lokführer und Zugbegleiter, die angeblich die Aussicht auf einen landesweiten Eisenbahnerstreik abgewandt haben sollte. Biden inszenierte sich in der Presse als großer Sieger, und die Medien stellten die Vereinbarung als politischen Gnadenstoß dar – sogar als Beweis für die Unterstützung, die seine Regierung Industriearbeitern zukommen lasse.

Heute steht diese Einigung kurz vor dem Kollaps. Es gab „nur“ ein Hindernis, das Biden, die Eisenbahnkonzerne und die Unterhändler der Gewerkschaften nicht vorhergesehen hatten: die 120.000 Eisenbahner, die das Abkommen zu Recht als brutalen Ausverkauf ansehen. Es geht auf keine ihrer Forderungen ein, vor allem nicht auf die Abschaffung der extrem belastenden Bereitschaftsdienste und den Freizeitausgleich. Und trotz der lautstarken Behauptungen, es gebe Lohnerhöhungen von „historischem Ausmaß“ läuft der Vertrag wegen der hohen Inflation in Wirklichkeit auf eine Kürzung der Reallöhne hinaus.

Der Widerstand wächst weiter und äußert sich zunehmend organisierter und bewusster. Letzte Woche stimmten Wartungsarbeiter der drittgrößten Eisenbahnergewerkschaft BMWED mit 56 Prozent gegen ein landesweites Tarifabkommen, das sich an den Empfehlungen des von Biden ernannten Schlichtungsausschusses orientierte. Das Railroad Workers Rank-and-File Committee, ein Aktionskomitee von Eisenbahnarbeitern, das für Arbeiterkontrolle kämpft und gegründet wurde, um Widerstand gegen den Ausverkauf des Gewerkschaftsapparats zu leisten, weitet seine Arbeit durch Informationsveranstaltungen und stark besuchte öffentliche Versammlungen stetig aus.

Die Vereinbarung, die das Weiße Haus ausgehandelt hat, wurde unter eklatanter Missachtung des Willens der Mitglieder getroffen, die wiederholt mit 99 Prozent oder mehr für einen Streik gestimmt haben. Die Gewerkschaftsbürokratie hat dies schlicht ignoriert und mit Washington und den Konzernen Hand in Hand gearbeitet, um einen Tarifvertrag im Interesse der Konzerne durchzusetzen.

Schon jetzt verlegen die Gewerkschaften Streikfristen willkürlich auf die Zeit nach den Zwischenwahlen, um eine politische Blamage für die Demokraten zu verhindern und die Position des Kongresses zu stärken, falls dieser eine Verfügung gegen den Streik beschließen sollte. Die Gewerkschaft BMWED reagierte sofort auf die Ablehnung des Tarifvertrags, indem sie den Stichtag für den Streik auf „fünf Tage nach dem Wiederzusammentritt des Kongresses“ verlegte. Die Gewerkschaften BLET und SMART-TD verzögern das Ende der Urabstimmung für Lokführer und Zugbegleiter bis Mitte November nach den Zwischenwahlen. Dabei benutzen sie ein so undurchsichtiges Verfahren, dass Arbeiter nicht einmal wissen, wann oder ob die Abstimmung offiziell begonnen hat.

Dass der BMWED-Tarifvertrag abgelehnt wurde, löste in der bürgerlichen Presse Schock und Besorgnis aus, da sie davon ausgegangen war, dass die Gefahr eines Streiks abgewandt sei. Eine typische Reaktion war der Leitartikel des Wall Street Journal vom Donnerstag, in dem es hieß, die Abstimmung bei BMWED werde „vermutlich andere beeinflussen, die vor dem Abkommen vom September ebenfalls hart verhandelt haben. Sobald die Frist abläuft, könnte eine einzelne Weigerung eine Vereinbarung zu Fall bringen, weil andere die Streiklinie nicht durchbrechen werden.“

Das Sprachrohr der Finanzoligarchie kam zu folgendem Schluss: „Es ist möglich, dass die Tarifparteien eine neue Einigung erzielen werden. Doch nun, da der Kampf wieder aufgenommen wurde, scheint der Präsident – der prahlerisch ,pünklich fahrende Züge‘ versprochen hat – den Showdown lediglich auf einen Zeitpunkt verschoben zu haben, der für die Demokraten günstiger ist.“

Das Journal spricht für eine Fraktion der herrschenden Klasse, die den Tarifvertrag durch eine Intervention des Kongresses durchsetzen will. Biden und die Demokraten sind zwar ebenfalls bereit, den Tarifvertrag mit Gewalt durchzudrücken, ziehen es aber vor, zur Durchsetzung von einstweiligen Verfügungen die Gewerkschaftsbürokratie zu benutzen. Das Vorgehen des Weißen Hauses gegen die Eisenbahner ist eine Fortsetzung der Politik, die sie bereits in den Docks an der Westküste und in den Ölraffinerien verfolgt hat. Dies ist die wahre Bedeutung von Bidens Behauptung, er sei der „gewerkschaftsfreundlichste Präsident in der Geschichte Amerikas“.

Die Gewerkschaften reagierten auf den Widerstand der Arbeiter, indem sie noch schamloser vorgingen. Wenn Arbeiter ihre jeweiligen Tarifverträge ablehnten, zwangen sie sie erneut abzustimmen oder sie „bewilligten“ sie in Abstimmungen, die von vorne bis hinten vom Apparat kontrolliert wurden und erhebliche Unregelmäßigkeiten aufwiesen. Die BLET stützt sich immer mehr auf die Drohung einer Intervention des Kongresses und lud letzte Woche die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, zu ihrem Kongress ein. Dort wurde Pelosi, die bereits Antistreik-Gesetze ausgearbeitet hat, absurderweise als Freundin der Arbeiter präsentiert.

Die Eisenbahnkonzerne fühlen sich davon ermutigt. In einer Stellungnahme des National Carriers Conference Committee vom Mittwoch wurde darauf hingewiesen, dass die BMWED selbst zuvor „die vorläufige Vereinbarung begrüßt hat“, die von den Arbeitern abgelehnt wurde, und dass „sechs Gewerkschaften die durch die Vermittlung der Biden-Regierung ausgehandelten vorläufigen Vereinbarungen bereits ratifiziert haben“. Deshalb würden die Unterhändler der Unternehmen weder in der Frage der Krankentage noch bei irgendetwas anderem nachgeben, das von den vom Weißen Haus ausgehandelten Bedingungen abweicht. Wenn dies die Position des Managements ist, dann gibt es keine Rechtfertigung dafür, nicht sofort zum Streik aufzurufen. Diese Tatsache unterstreicht nur, in welchem Ausmaß die Gewerkschaftsbürokratie den Kampf vorsätzlich sabotiert.

Die Skrupellosigkeit des Gewerkschaftsapparats, Washingtons und des Managements darf nicht unterschätzt werden. Doch die Entwicklungen haben bereits deutlich gemacht, dass der Kontrollapparat zur Unterdrückung der Arbeiter – auf den sich die Konzernelite jahrzehntelang verlassen konnte – durch das rapide Anwachsen des Klassenkampfs stark geschwächt und diskreditiert wird. Biden hatte gehofft, ein Hinterzimmerabkommen mit einigen Dutzend Gewerkschaftsführern würde ausreichen, um die Angelegenheit zu regeln. Doch die letzten sechs Wochen haben gezeigt, dass alle an den Gesprächen beteiligten Parteien zutiefst isoliert und bei den Arbeitern verhasst sind, unter denen sie keinen breiten Rückhalt haben.

Trotzki erklärte einmal: „Die Gesetze der Geschichte sind stärker als die bürokratischen Apparate.“ Das Anwachsen des Klassenkampfs ist eine objektive Tatsache und speist sich aus dem Aufeinandertreffen einer gewaltigen wirtschaftlichen und politischen Krise. Diese Krise wird durch die verzweifelten und inkonsequenten Improvisationen der herrschenden Klasse verschärft – etwa die Erhöhung der Zinssätze, um Massenarbeitslosigkeit auszulösen und die Forderungen nach höheren Löhnen zu untergraben, oder die Versuche, die Welt an den Rand eines Atomkriegs zu treiben.

Die Krise hat internationale Ausmaße. Dieses Jahr kam es überall auf der Welt zu Massenprotesten und Streiks gegen die steigenden Lebenshaltungskosten, u.a. zu einem Streik der Raffineriearbeiter und einer breiteren Streikwelle in Frankreich sowie einer Serie von Streiks der britischen Bahn- und Hafenarbeiter.

Diese Entwicklung geht einher mit extremer politischer Instabilität. Alle Institutionen der kapitalistischen Herrschaft stehen am Rande des Zusammenbruchs. In Großbritannien ist Premierministerin Liz Truss nach nur sechs Wochen zurückgetreten. In Sri Lanka wurde Präsident Gotabhaya Rajapaksa Anfang des Jahres durch Massendemonstrationen zum Rücktritt gezwungen. Die USA, das Zentrum der Krise, befinden sich in der schwersten politischen Krise seit dem Bürgerkrieg. Es wird immer wahrscheinlicher, dass die Zwischenwahlen in zwei Wochen mit einem Debakel für die Demokraten und dem Wiederaufleben der republikanischen extremen Rechten enden werden.

Ein wesentliches Merkmal dieser Bewegung ist nicht nur ihre wachsende Militanz, sondern auch die zunehmende Aufgeschlossenheit der Arbeiter gegenüber dem Sozialismus. Dies findet unter Arbeitern einen besonders wichtigen Ausdruck in der Unterstützung für Will Lehman – einen Autoarbeiter und Sozialisten, der für das Amt des Präsidenten der United Auto Workers kandidiert. Viele Arbeiter beginnen, Wahlkomitees zu organisieren, um ihre Kollegen zur Wahl von Lehman aufzurufen. Die Tatsache, dass überhaupt Direktwahlen stattfinden, ist zugleich auf die tiefe Krise der UAW-Bürokratie zurückzuführen, von der mehr als ein Dutzend ehemaliger Spitzenfunktionäre wegen Korruption angeklagt wurden.

Die wachsende Bewegung von Arbeitern mit dem Ziel, sich durch den Aufbau eines Netzwerks von Aktionskomitees unabhängig von und gegen den Gewerkschaftsapparat zu organisieren, muss auf alle Branchen und Bereiche in den USA und weltweit ausgedehnt werden. Dies muss mit dem systematischen Aufbau einer politischen Führung in der Arbeiterklasse verbunden werden, um die zunehmenden Kämpfe der Arbeiter weltweit in eine bewusste politische Bewegung für den Sozialismus zu verwandeln.

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