Griechenland: Proteste und Streiks nach Zugunglück mit mindestens 57 Toten

Bei dem Zugunglück in Griechenland am Dienstag kurz vor Mitternacht sind mindestens 57 Menschen ums Leben gekommen. Ein Personenzug mit mehr als 350 Fahrgästen an Bord – darunter viele Studenten, die aus den Ferien rund um die griechisch-orthodoxe Fastenzeit an die Universität zurückkehrten – war auf der Strecke von Athen nach Thessaloniki außerhalb der zentralgriechischen Stadt Tempi frontal mit einem Güterzug zusammengestoßen.

Laut einem Bericht des öffentlichen Rundfunksenders ERT vom Donnerstag liegen noch immer 52 Menschen, die bei dem Unglück verletzt wurden, im Krankenhaus der Stadt Larissa. Sechs davon schweben wegen Kopfverletzungen und schweren Verbrennungen in Lebensgefahr. In Larissa, in der Nähe des Unglücksortes, standen die Einwohner teilweise über eine Stunde in starkem Regen Schlange, um Blut zu spenden.

Kräne beseitigen die Trümmer nach der Zugkollision in Tempi, etwa 376 km nördlich von Athen, in der Nähe der Stadt Larissa. Rettungskräfte suchten am 2. März 2023 die Trümmer der Züge ab [AP Photo/Vaggelis Kousioras]

Am Donnerstagabend, fast 48 Stunden nach dem Zusammenprall, wurden 56 Personen der Passagierliste von den Behörden noch immer als vermisst geführt.

In den völlig zerstörten und zerquetschten Eisenbahnwaggons dauern die Rettungs- und Bergungsarbeiten immer noch an. Konstantinos Imanimidis, einer der Rettungskräfte, erklärte am Donnerstag gegenüber Reuters: „Wegen der Temperaturen, die sich [aufgrund der Brände] in den Waggons entwickelt haben, wird es sehr schwer werden, Überlebende zu finden... Das ist das Schlimmste: Statt Leben zu retten, müssen wir Leichen ausgraben.“

Am Mittwoch kündigte die Regierung eine dreitägige Staatstrauer an. Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis erklärte, das Unglück gehe „hauptsächlich auf einen tragischen menschlichen Fehler“ zurück.

Der Bahnhofsvorsteher von Larissa, der seinen Beruf seit über 40 Jahren ausübt, wurde verhaftet. Doch der Versuch, eine einzelne Person für das Unglück verantwortlich zu machen, stieß auf allgemeine Ablehnung und löste Proteste sowie einen Streik der Eisenbahner gegen die konservative Regierung der Partei Nea Dimokratia (ND) aus.

Die Arbeiter wissen, dass das Eisenbahnnetz seit Jahren unter Einsparungen leidet, darunter auch Massenentlassungen. Ein Großteil des Eisenbahnnetzes, vor allem in Nordgriechenland, ist nicht automatisiert, und Signale werden noch von Hand bedient.

Der Bahnhofsvorsteher wurde am Donnerstag wegen gefährlicher Störung des Verkehrswesens angeklagt, möglicherweise droht ihm auch eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung, fahrlässiger Körperverletzung und gefährlichem Eingriff in den Verkehr. Allerdings tauchen bereits jetzt Beweise auf, die Zweifel an der Behauptung aufkommen lassen, menschliches Versagen trage die Schuld daran.

Kathimerini berichtete, der Bahnhofsvorsteher habe am Donnerstag vor einem Ermittlungsrichter in Larissa erklärt, er habe während seiner Schicht den Befehl erteilt, die Weichen so umzustellen, dass die beiden Züge nicht auf dem selben Gleis fahren würden, doch das System habe darauf offenbar nicht reagiert.

Die Zeitung fügte hinzu: „Diese Version der Ereignisse wird gestützt durch ein Foto aus dem Logbuch des Bahnhofsvorstehers, das zeigt, dass er den verunglückten Inter City 62 angewiesen hat, seine Fahrt nach Neos Poros fortzusetzen, offenbar ohne zu wissen, dass der Güterzug auf der gleichen Strecke auf ihn zufuhr.“

Weitere Beweise deuten auf die katastrophalen Auswirkungen der Tatsache hin, dass große Teile des Eisenbahnsystems vollständig auf Handbetrieb angewiesen sind und die international eingesetzten, weit verbreiteten automatisierten Bahnsysteme nicht eingeführt wurden. Kathimerini schrieb: „Ein Kollege soll vor kurzem in einem Interview erklärt haben, dass vor dem tödlichen Unfall bereits ein Zug bei Tempi anhalten musste. Um den stehenden Zug zum nächsten Bahnhof zu bringen, wurden Änderungen an den Gleisen vorgenommen, aber das Netzwerk wurde hinterher nicht in den vorherigen Zustand versetzt.“

Die Todesfälle lösten in Athen und Thessaloniki, wo viele der Todesopfer lebten, und in Larissa wütende Proteste aus.

In Athen demonstrierten am Mittwoch hunderte – überwiegend junge – Menschen vor der Zentrale der Griechischen Eisenbahn, dem privatisierten Unternehmen, das für die Instandhaltung der griechischen Eisenbahnen zuständig ist. Sie wurden von Bereitschaftspolizei mit Tränengas und Blendgranaten attackiert. Danach zogen die Demonstranten zum Syntagma-Platz vor dem Parlament, wo sie erneut von der Polizei attackiert wurden.

In Larissa fand eine Mahnwache zum Gedenken an die Opfer des Zusammenstoßes statt. Nikos Savva, ein Medizinstudent aus Zypern, erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur AFP: „Das Eisenbahnnetz machte einen problematischen Eindruck, das Personal ist überarbeitet und schlecht bezahlt.“ Der verhaftete Bahnhofsvorsteher dürfe aber nicht „den Preis für ein völlig marodes System“ zahlen. Der Arzt Dr. Costas Bargiotas aus Larissa erklärte: „Das ist ein nicht zu vertretender Unfall. Wir kennen diese Situation seit 30 Jahren.“

Teilnehmer einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der Zugkollision mit Kerzen vor dem Bahnhof von Larissa (Foto: Vaggelis Kousioras/WSWS) [Photo: Vaggelis Kousioras/WSWS]

Die BBC berichtete: „Familien haben DNA-Proben abgegeben, um die Identifizierung von Opfern zu unterstützen; die Ergebnisse werden für Donnerstag erwartet. Eine Angehörige, eine Frau namens Katerina, deren Bruder sich in dem Zug befand, rief vor dem Krankenhaus von Larissa: ,Mörder!‘ Ihre Wut richtete sich gegen die Regierung und die Eisenbahngesellschaft.“

Am Donnerstag begannen die Eisenbahner der Föderation der Eisenbahnbediensteten einen 24-stündigen landesweiten Streik, um gegen die Todesfälle und die unsicheren Bedingungen im griechischen Eisenbahnnetz zu protestieren. In einer Erklärung der Gewerkschaft hieß es: „Der Schmerz über die Dutzenden von toten und verletzten Kollegen und Mitbürgern hat sich in Wut verwandelt.“ Eine Regierung nach der anderen habe die wiederholten Forderungen nach einer Verbesserung der Sicherheitsstandards ignoriert. Das Eisenbahnnetz brauche „fest eingestelltes Personal, bessere Ausbildung, und vor allem moderne Sicherheitstechnologie.“ Diese Vorschläge seien jedoch immer wieder „im Mülleimer“ gelandet.“

Auch die Linien 2 und 3 der Athener U-Bahn wurden aufgrund eines Solidaritätsstreiks der Athener U-Bahnbeschäftigten für die Dauer des Eisenbahnerstreiks ausgesetzt.

Am Abend protestierten streikende Arbeiter vor der Zentrale der Griechischen Eisenbahn in Athen. Danach zogen Tausende zum Syntagma-Platz, wo sich ihnen junge Menschen anschlossen, um vor dem Parlament zu demonstrieren.

Überall in Griechenland protestieren Schüler und Studenten mit selbstgebastelten Plakaten auf den Schulhöfen und mit ihren Schultaschen, mit denen sie Wörter darstellten.

Auf diesem Foto bilden die Taschen die Worte: „Ich vergesse Tempi nicht“ – was sich auf den Ort des Zugunglücks bezieht. Auf dem Plakat, das die Schüler in der Hand halten, steht: „Ihre Gewinne – Unser Leben“. Andere Taschen bilden das Wort „Wut“.

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Auf einigen der Plakaten, die von Studenten gehalten werden, steht: „Verbrechen“, „Mord“, „Wir werden euch nicht vergessen“, „Gerechtigkeit“ und „Nie wieder“.

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Diese Taschen bilden die Worte: „Ruf mich an, wenn du ankommst.“ Diese typischen Worte jeder Mutter werden in den sozialen Medien weithin geteilt, um die Trauer der Eltern auszudrücken, die ihre Kinder bei dem Zusammenstoß verloren haben.

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Das tödliche Zugunglück ist das Ergebnis der sozialen Verbrechen, für die alle Parteien der herrschenden Elite mitverantwortlich sind. Ihre Vorsitzenden sollten auf der Anklagebank sitzen.

Das griechische Eisenbahnnetzwerk war bereits früher unterdurchschnittlich mit Mitteln und Personal ausgestattet, was sich jedoch in den letzten zehn Jahren durch die Privatisierung der staatlichen Eisenbahngesellschaft TrainOSE und des Unternehmens für die Instandhaltung der Schienenfahrzeuge durch die pseudolinke Syriza-Regierung von 2017–18 noch weiter beschleunigt hat.

Syriza wurde 2015 durch eine Welle von Protesten und Streiks gegen den brutalen Austeritätskurs der vorherigen fünf Jahre an die Macht gebracht. Dann hat sie dieses Mandat mit Füßen getreten und, wie die ND und die sozialdemokratische PASOK vor ihr, ein verheerendes Austeritätsprogramm durchgesetzt. Die Privatisierung wichtiger nationaler Wirtschaftsgüter und Infrastruktur war der Preis, den die Europäische Union und der Internationale Währungsfonds als Gegenleistung für weitere Kredite forderten. Syriza befolgte ihre Anweisungen auf den Buchstaben genau.

TrainOSE wurde 2017 im Rahmen des dritten nach 2010 eingeführten Austeritätspakets verkauft. Die Privatisierung der Eisenbahn und der Verkauf von weiterem Staatseigentum sollten bis 2018 sechs Milliarden Euro einbringen. Das Unternehmen wurde von der staatlichen italienischen Eisenbahnholding Ferrovie Dello Stato Italian für nur 45 Millionen Euro gekauft.

Der Syriza-Ministerpräsident Alexis Tsipras stellte dies bei einer aufwendigen Zeremonie auf Korfu als glorreichen Erfolg dar. Die Wirtschaftszeitung Naftemporiki berichtete: „Tsipras erklärte, die Bedeutung der Investition liegt in der Tatsache, dass dem Land eine große finanzielle Belastung erspart geblieben ist... was den Preis selbst angeht, aber auch den Umfang der Investition in die griechische Wirtschaft und die griechische Eisenbahn, die sich auf 500 Millionen Euro beläuft.“

Tsipras' Lügen wurden bald entlarvt, als das frisch privatisierte Unternehmen, das in Griechische Eisenbahn umbenannt wurde, keine Investitionen zur Modernisierung des Eisenbahnnetzes unternahm. Wie Syriza genau wusste, plante Ferrovie Dello Stato Italiana nur immense Profite. Der Vorstandsvorsitzende von Ferrovie, Renato Mazzoncini, bezeichnete den Kauf von TrainOSE als „strategischen Schritt für das Unternehmen. Es geht nicht so sehr darum, ein Stück von Griechenland zu einem reduzierten Preis zu kaufen, sondern um eine strategische Expansionsoperation angesichts der großen Investition in die Linie Athen-Thessaloniki, die Teil des europäischen Korridor-Projekts ist.“ Dieses Projekt ist laut Mazzoncini etwa drei Milliarden Euro wert.

Wie schrecklich die menschlichen Kosten sind, bestätigte letztes Jahr ein Bericht der EU über die „Eisenbahnsicherheit und Interoperabilität in der EU“. Laut diesem Bericht ist Griechenland der einzige Mitgliedsstaat ohne „Zugsicherungssysteme“, obwohl diese „allgemein als eine der wirksamsten Eisenbahn-Sicherheitsmaßnahmen zur Reduzierung der Gefahr von Zusammenstößen zwischen Zügen gelten“.

Seit der Privatisierung ist das griechische Eisenbahnnetz eines der gefährlichsten in Europa. Von 2018 bis 2020 war die Quote der Todesfälle pro Million Eisenbahnkilometer in Griechenland laut der Eisenbahnbehörde der Europäischen Union die höchste unter 28 europäischen Staaten.

Die Financial Times berichtete am Donnerstag: „Fünfzehn Tage vor dem schlimmsten Zugunglück in Griechenland seit Jahrzehnten hatte die Europäische Kommission das Land vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt, weil es [von 2015 bis heute] ,seine Verpflichtungen‘ gemäß der Richtlinie über den einheitlichen europäischen Eisenbahnraum in Bezug auf Investitionen in die Infrastruktur und Notfallverfahren nicht nachgekommen ist.“

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