Das schlimmste Zugunglück in Griechenlands Geschichte, bei dem so viele Menschen ums Leben kamen wie nie zuvor, hat unter Arbeitern und Jugendlichen massive Empörung ausgelöst.
Eisenbahner begannen am Donnerstag einen 24-stündigen landesweiten Streik, um gegen den Tod von mindestens 57 Passagieren – darunter mindestens zehn Eisenbahner – zu protestieren. Im weiteren Verlauf des Freitags wurde ein 48-stündiger Ausstand angekündigt, der den Streik über das gesamte Wochenende verlängerte.
Tausende von Arbeitern und Jugendlichen protestieren in Athen seit Tagen vor der Zentrale des privaten Eisenbahnbetreibers Hellenic Train und dem Parlamentsgebäude. Am Freitag versammelten sich etwa 5.000 Menschen vor der Zentrale von Hellenic Train, an dessen Fassade sie das Wort „Mörder“ schrieben. Am Sonntag kam es am Rande einer Demonstration zu Zusammenstößen mit der Polizei, die Protestierende mit Tränengas angriff. Auch in vielen weiteren großen Städten Griechenlands fanden Demonstrationen statt.
Die Proteste richten sich gegen die Versuche der Nea-Dimokratia-Regierung und der Medien, ausschließlich menschliches Versagen eines Bahnhofsvorstehers in Larissa für die Katastrophe verantwortlich zu machen, womit sie bereits Stunden nach der Katastrophe begannen. Das griechische Schienennetz ist aufgrund der jahrelangen Etatkürzungen, des Personalmangels und der späteren Privatisierung in unsicherem Zustand. Griechenland ist das einzige Land der Europäischen Union (EU), das kein nationales automatisiertes Sicherungssystem für seine Züge besitzt.
Die tödliche Katastrophe ereignete sich am letzten Dienstag, kurz vor Mitternacht, als ein Personenzug mit mehr als 350 Menschen an Bord auf dem Weg von Athen nach Thessaloniki in der Nähe der Stadt Tempi in Zentralgriechenland frontal mit einem Güterzug zusammenstieß.
Fast 40 Überlebende befinden sich noch im Krankenhaus, sieben davon auf der Intensivstation. Einige der Fahrgäste auf der Passagierliste werden noch immer vermisst, die genaue Zahl ist noch unbekannt. Einige Eltern wussten auch drei Tage nach dem Zusammenstoß nicht, was mit ihren Kindern passiert ist. Der Independent berichtete am Freitag: „Panos Routsi... und seine Frau haben voller Angst auf Auskünfte gewartet, was mit ihrem 22-jährigen Sohn Denis passiert ist.“ Sein Vater drückte eine weit verbreitete Haltung aus, als er erklärte: „Sie haben ihn ermordet, das ist passiert. Sie sind Mörder, alle zusammen.“
Die erste Beerdigung eines Opfers, der 34-jährigen Athina Katsara, Mutter eines kleinen Jungen, fand am Freitag in ihrer Heimatstadt Katerini statt. Ihr Mann konnte nicht anwesend sein, da er bei dem Zusammenstoß ebenfalls verletzt wurde und sich noch im Krankenhaus befindet.
Die weit verbreitete Ansicht, mit der Millionen Arbeiter auf die Katastrophe reagieren, ist die, dass der Zusammenstoß von Tempi nicht allein eine Tragödie ist, sondern ein großes Verbrechen, das mit dem brutalen Austeritätskurs zusammenhängt, den die herrschende Elite der Bevölkerung seit über zehn Jahren aufzwingt.
Vor allem junge Menschen haben sich in großer Zahl an den Protesten beteiligt. Die Mehrheit der Todesopfer waren Studenten, die aus den Ferien rund um die griechisch-orthodoxe Fastenzeit an die Universität zurückkehrten. Schüler und Studenten protestieren im ganzen Land an den Schulen und Universitäten. Am Freitag blieben die Athener Universitäten wegen der anhaltenden Kundgebungen erneut geschlossen.
Am dritten Tag der offiziellen Staatstrauer kam es zu großen Demonstrationen in Athen, Thessaloniki, Larissa – der Stadt, die dem Unfallort am nächsten liegt – und weiteren Städten, darunter Patras und Volos. In Athen demonstrierten Tausende und skandierten: „Ihre Profite, unsere Toten.“ Viele gedachten der Opfer mit schwarzen Ballons und entrollten ein großes schwarzes Transparent. Am Abend startete ein Marsch von über 1.000 Menschen von der Propylaia, dem Haupttor zur Akropolis, und später versammelten sich mindestens 3.000 Menschen zu einem Schweigeprotest vor dem Parlamentsgebäude auf dem Syntagma-Platz.
Im Zentrum von Larissa fand eine weitere Demonstration von Tausenden von jungen Menschen statt (siehe Video unten). Sie skandierten: „Dieses Verbrechen darf nicht vertuscht werden, lasst uns die Stimme aller Toten sein.“ Eine weitere Parole spielte auf die Behauptungen der Regierung an, sie würde durch den Verkauf von Staatseigentum wie dem Eisenbahnnetz Investitionen anziehen und für Wachstum und Arbeitsplätze sorgen: „Die Schienen der Entwicklung wurden in Blut getränkt, wir werden das Verbrechen in den Zügen nie vergessen.“
In der zentralgriechischen Stadt Karditsa demonstrierten Hunderte von Schülern, Studenten und ihre Lehrkräfte. Sie zogen vom zentralen Platz der Stadt zum Bahnhof, wo sie Blumen und Schilder auf den Gleisen ablegten. Danach hielten sie eine Schweigeminute.
Eine Auswahl von Videos und Fotos der Proteste in Karditsa findet sich hier.
In der gesamten Präfektur Karditsa wurden mindestens 13 Sekundarschulen besetzt. Die Schüler klagten die Behörden und Hellenic Train auf Transparenten, Plakaten und mit Parolen als Mörder an.
Es wird bereits damit begonnen, die Ursache der Todesfälle zu vertuschen. Die Regierung hat einen angeblich „unabhängigen“ Ausschuss eingesetzt, der die Todesfälle untersuchen soll. Verkehrsminister Georgios Gerapetritis hat Athanasios Ziliaskopoulos in das Gremium berufen. Er war vor der Privatisierung fünf Jahre lang Vorsitzender des staatlichen Eisenbahnunternehmens TrainOSE. Später wurde er Vorsitzender des griechischen Privatisierungsfonds TAIPED, der für die laufenden Privatisierungen von Staatseigentum im Wert von Milliarden Euro zuständig ist.
Dieses Jahr wird Griechenland vermutlich eine langfristige Konzession an seiner längsten Autobahn und einen Gaskonzern im Wert von fast zwei Milliarden Euro verkaufen. Reuters berichtete, Griechenland müsse „jährlich 2,2 Milliarden Euro aus dem Verkauf von Staatseigentum einnehmen... Athen hat seit 2011 insgesamt 7,6 Milliarden Euro durch Privatisierungen eingenommen, ein wichtiger Bestandteil der drei internationalen Rettungsprogramme, die 2018 ausliefen.“
Alle Parteien der herrschenden Elite sind mitverantwortlich für die Todesfälle, da sie seit Jahren nichts gegen die unsicheren Zustände im Eisenbahnnetz unternommen haben. Vor der Privatisierung im Jahr 2017 wurde der Etat von TrainOSE zusammengestrichen, um es für die Profiteure, die es gekauft haben, der staatliche italienische Bahnkonzern Ferrovie Dello Stato, rentabel zu machen.
Mehrere aufeinanderfolgende Regierungen haben den Austeritätskurs rigoros durchgesetzt. Im Jahr 2010 brachte die sozialdemokratische PASOK-Regierung einen Plan auf den Weg, um die Belegschaft der TrainOSE um fast 40 Prozent zu verringern, d. h. von über 6.000 auf etwa 3.700. In den darauffolgenden zehn Jahren kürzten Nea Dimokratia und Syriza die Zahl der Beschäftigten noch weiter, sodass beim nationalen Eisenbahnnetz heute nur noch 750 Arbeiter beschäftigt sind.
In einem Tweet von 2019 rühmte sich der Arbeits- und Sozialminister Kostis Hatzidakis, der auch Vizevorsitzender der ND ist: „OSE war europaweit das Unternehmen mit den meisten Problemen. Wir haben einen Konsolidierungsplan umgesetzt, der hunderte Millionen eingespart und TrainOSE profitabel gemacht hat. Unsere Interventionen haben die spätere Privatisierung des Unternehmens möglich gemacht.“
Syriza hat die wichtigste Rolle dabei gespielt. Die Partei wurde 2015 wegen ihrer Versprechen gewählt, sich den Austeritätsdiktaten der Europäischen Union, des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank (allgemein als die „Troika“ bekannt und verhasst) zu widersetzen. Doch nach der Wahl verriet Syriza dieses Mandat und verschärfte den Austeritätskurs. In den Jahren 2017 und 2018 privatisierte die Syriza-Regierung TrainOSE und den Instandhaltungsbetrieb für Schienenfahrzeuge EESSTY.
Während die Profite flossen, wurden grundlegende Sicherheitsmaßnahmen geopfert. Die Times schrieb am Freitag unter Berufung auf ein führendes Mitglied der Eisenbahnergewerkschaft: „Die Regierung hat vor den Olympischen Spielen 2004 in Athen ein modernes Sicherheitssystem gekauft, aber nie installiert, sodass das griechische Eisenbahnsystem ,blind‘ operiert.“ Der Guardian schrieb am Donnerstag: „Ein griechischer Untersuchungsrichter hat eine sofortige Untersuchung der Vorwürfe [der Eisenbahnergewerkschaft] angeordnet. Ein langer Streckenabschnitt zum internationalen Flughafen Athen, der jedes Jahr von Millionen Touristen genutzt wird, werde mit unzureichenden Signalen betrieben, so die Gewerkschaft.“
Am Donnerstag erschien der Bahnhofsvorsteher, dessen Name von den Behörden noch nicht genannt wurde, vor einem Staatsanwalt in Larissa. Ihm wird vorgeworfen, „den falschen Knopf gedrückt“ und danach den Zusammenstoß der beiden Züge nicht verhindert zu haben. Die Times berichtete, er habe in seiner ersten Aussage erklärt, er hätte seinen Fehler „zwölf Minuten, nachdem er dem Personenzug trotz eines roten Signals die Ausfahrt aus dem Bahnhof erlaubt hatte“, erkannt. Der Vorsteher beantragte für seine Aussagen drei weitere Verhandlungstage.
Sein Anwalt Stefanos Pantzartzidis erklärte: „Mein Klient hat Verantwortung übernommen, aber er ist nicht der Alleinschuldige. Es gibt zahllose Mitschuldige, gegen die ebenfalls ermittelt werden muss. Es gibt auch Versäumnisse von Seiten der Behörden.“
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