Großbritannien rechnet mit Millionen Corona-Infizierten im Sommer

Die konservative Regierung von Boris Johnson verfolgt nicht nur offen die Politik der Herdenimmunität, sondern rühmt sich sogar ihrer Gleichgültigkeit gegenüber der Aussicht auf einen massiven Anstieg der Infizierten, Erkrankten und Toten.

Ab dem 19. Juli werden alle Geschäfte wieder öffnen und Massenveranstaltungen erlaubt werden. Maskenpflicht und Abstandsregeln werden abgeschafft. Gesundheitsminister Sajid Javid kündigte am Mittwoch an, dass sich zweifach geimpfte Erwachsene und Jugendliche unter achtzehn Jahren ab dem 16. August nicht mehr in Selbstisolation begeben müssen, wenn sie mit einer positiv auf Covid-19 getesteten Person in Kontakt gekommen sind. Die Quarantäneblasen in Schulen sollen bis zum Ende des Sommerhalbjahres abgeschafft werden.

Verkehrsminister Grant Shapps wird voraussichtlich ankündigen, dass vollständig geimpfte Erwachsene sowie ungeimpfte Kinder bald ohne anschließende Quarantäne in Länder reisen dürfen, die auf der gelben Liste stehen.

Am Mittwochabend wurden 60.000 Fußballfans dazu ermutigt, sich in das Londoner Wembley-Stadion zu drängen, um dem Halbfinalspiel der Fußballeuropameisterschaft zwischen England und Dänemark beizuwohnen. Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng erklärte am Mittwochmorgen auf die Frage, ob er befürchte, das Spiel könnte sich zu einem „Superspreader-Ereignis“ entwickeln: „Im Leben gibt es immer Risiken... Wir müssen einfach sehen, was passiert.“

Johnson hat ganz offen erklärt, Großbritannien müsse sich an „mehr Tote gewöhnen“, da die Zahl der Neuinfektionen auf 50.000 pro Tag steigen wird. Javid forderte die Bevölkerung auf, „mit der Existenz von Covid leben zu lernen“ und gab zu, dass die Zahl der täglichen Neuinfektionen bis Ende des Sommers auf 100.000 ansteigen könnte. Professor Neil Fergusson, ein Epidemiologe, der für die Regierung Modelle anfertigt, warnte vor einem noch deutlicheren Anstieg der Fälle auf 150.000 oder sogar 200.000 pro Tag.

Laut dem Guardian könnte es in den letzten sechs Sommerwochen ganze zwei Millionen Fälle geben, doch diese Zahl basiert auf einer sehr konservativen Schätzung von durchschnittlich 35.000 Fällen pro Tag zwischen Anfang Juli und dem 19. Juli, und 60.000 zwischen dem 19. Juli und dem 16. August.

In den Vorstandsetagen und Redaktionen in Großbritannien herrscht ein fieberhaftes, blutrünstiges Verlangen danach, die letzten Reste der Pandemiemaßnahmen zu beseitigen. Die Titelseiten der Zeitungen waren am Mittwoch voll mit Klagen, das Datum für die Abschaffung der Selbstisolation sei viel zu spät, sodass Millionen gezwungenermaßen zu Hause bleiben müssen und die Arbeitgeber mit „Chaos“ konfrontiert sind.

Die Daily Mail sprach von „Isolationswahnsinn“ und forderte: „Mr. Javid, verlieren Sie jetzt nicht die Nerven“. Sie forderte Javid auf, die Einschränkungen „sofort“ abzuschaffen und rief das Land auf, „das Kindermädchen loszulassen“. Der Daily Telegraph erklärte, die Isolationsregeln würden „eine Vollbremsung für die Freiheit“ bedeuten und zitierte den rechten ehemaligen Tory-Parteichef Sir Iain Duncan Smith, der erklärt hatte, der Plan der Regierung würde den „Freedom Day“ zur „Farce“ machen. In ihrem Leitartikel schrieb sie zum Thema Selbstisolation: „Warum warten?... Dieses Land muss wieder in die Gänge kommen.“

Kate Nicholls, die Vorsitzende des Gastronomieverbands Hospitality UK, klagte, die Selbstisolation sei „verheerend“ für Unternehmen, der Plan für ihre Abschaffung gehe „nicht weit genug und nicht schnell genug.“

Die Meinung der Labour Party brachte Sir Keir Starmer in der Fragestunde gegenüber Johnson vor: „Für die Unternehmen wird es sich nicht wie ein Tag der Befreiung anfühlen. Sie warnen bereits jetzt vor schwerwiegenden Folgen, wenn Personal und Kundschaft ausbleiben.“ Labour wirft der Regierung eine „rücksichtslose“ Öffnungspolitik vor, fordert aber nur einen alibihaften „grundlegenden Schutz“.

Die Logik des Vorgehens der Regierung führt dazu, dass das Datum für die Abschaffung der Pflicht zur Selbstisolation vom 16. August vorverlegt wird. Laut Zahlen des Guardian werden diesen Sommer etwa zehn Millionen Menschen aufgrund der neuen Infektionswelle gezwungen sein, sich in Selbstisolation zu begeben. Das Großkapital wird alles daran setzen, diese Behinderung ihrer Profitmaximierung zu verhindern. Die Zeitung i erklärte unter Berufung auf eine Quelle aus der Regierung, diese habe die Maskenpflicht abgeschafft, nachdem sie erfahren hatte, dass die Veranstaltungs- und Gastronomiebranche andernfalls mit einem Verlust von vier Milliarden Pfund rechnet, verursacht durch die zögerliche Stimmung der Bevölkerung.

Dieses kriminelle Fallenlassen der Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit wird schreckliche Folgen haben.

Impfstoffe haben die Sterblichkeitsrate bei Covid-19 deutlich reduziert, laut den meisten Schätzungen in Großbritannien auf einen Todesfall bei tausend Infektionen. Allerdings bedeutet das dennoch, dass in wenigen Wochen zwischen 100 und 200 Menschen sterben könnten. Zudem wird das Gesundheitssystem, das sich noch immer nicht vom letzten Jahr erholt hat, erneut unter stärkeren Druck geraten.

Modellberechnungen des wissenschaftlichen Beratungsgremiums Scientific Advisory Group for Emergencies (SAGE) deuten darauf hin, dass die Zahl der Hospitalisierungen durch Covid-19 bis Ende Juli und Anfang August auf 1.300 steigen wird, wenn die Zahl der Neuinfektionen auf 100.00 pro Tag ansteigt. Bereits jetzt stieg die Zahl der Einweisungen in der Woche bis zum 5. Juli um 70 Prozent auf 416 Personen.

Zudem werden zahlreiche Menschen schwere Schäden durch Long Covid davontragen. Die British Medical Association (BMA) erklärte gegenüber dem Independent, dass bis zu 10.000 Menschen am Tag erkranken könnten, zwanzig Prozent davon könnten deshalb für mehr als ein Jahr nicht arbeiten, studieren oder alltägliche Aktivitäten ausführen. Bisher sind zwei Millionen Menschen von Long Covid betroffen, 385.000 davon seit mehr als einem Jahr – nur neun Prozent davon mussten bei ihrer ersten Infektion ins Krankenhaus. Laut Dr. David Strain, einem Sprecher der BMA, gibt es derzeit keine Beweise dafür, dass Impfstoffe die Zahl der Erkrankten, die Long Covid entwickeln, um weniger als 10 bis 17 Prozent verringern könnten.

Die meisten Infektionen wird es unter den einfach geimpften und den Ungeimpften, jungen Erwachsenen und vor allem unter Kindern geben. Zahlen des Bildungsministeriums belegen, dass am 1. Juli 640.000 Kinder und Jugendliche in der Schule fehlten, 560.000 davon waren wegen Covid in Selbstisolation, was einer Erhöhung im Vergleich zur Vorwoche um 66 Prozent entspricht. 28.000 davon waren bestätigte Fälle, 34.000 waren Verdachtsfälle.

Genau wie zuvor ist überwiegend die Arbeiterklasse betroffen. Laut einem Bericht der Health Foundation vom Dienstag hat Covid in den zehn ärmsten Gebieten des Landes bei den Menschen unter 65 Jahren eine 3,7 Prozent höhere Sterblichkeitsrate als in den reichsten zehn Prozent der Gebiete. Unter den Bewohnern des fünftärmsten Dezils war die Sterblichkeitsrate immer noch mehr als doppelt so hoch wie im ersten Dezil.

Für die herrschende Klasse zählt das alles nicht, sie fühlt sich nicht einmal mehr dazu verpflichtet, Sorge vorzutäuschen. Die Öffnungsstrategie wird gestützt durch ein offenes Bekenntnis zur Herdenimmunität, die weiterhin hauptsächlich durch Durchseuchung erreicht werden soll. Die Daily Mail zitierte eine Quelle aus der Regierung: „In dem, was wir tun, steckt ein Element der Herdenimmunität... Es ist nicht zu vermeiden, dass einige die Immunität durch Infektion erlangen werden.“

Die Regierung versucht, die schnelle Aufhebung der Einschränkungen mit der Behauptung zu rationalisieren, die entstehende Herdenimmunität werde eine größere Welle im Winter verhindern, wenn die Kinder wieder in der Schule sind und der National Health Service unter größerer Belastung steht. Chief Medical Officer Chris Whitty erklärte am Dienstag auf einer Pressekonferenz in der Downing Street: „Zu einem bestimmten Zeitpunkt kommt man in die Situation, wo man Hospitalisierungen und Todesfälle nicht mehr verhindern, sondern nur noch verzögern kann... Im Sommer anzufangen, hat seine Vorteile.“

Der Preis, den die Arbeiterklasse durch Erkrankung und Tod zahlt, wird kein Ende der Pandemie zur Folge haben. Professor Paul Hunter erklärte am Mittwoch gegenüber der Zeitung i, die Herdenimmunität sei in Wirklichkeit „weit entfernt“, weil Delta deutlich ansteckender ist und den Infektionsschutz durch Impfstoffe verringert.

Zudem hat die Regierung keine Pläne für die Impfung von Kindern angekündigt, sodass weiterhin ein riesiges Reservoir von potenziellen Infektionsherden besteht. Das Ergebnis werden ständige Wellen von Covid-19 sein, vor allem in den kälteren Monaten. Der Wissenschaftsredakteur des Guardian Ian Sample erklärte dazu am Montag: „Für den NHS bedeutet ein Leben mit dem Coronavirus, dass man sich jeden Winter auf eine doppelte Welle einstellen muss, weil das Coronavirus und die Grippe gleichzeitig eintreffen.“ Am Mittwoch erklärte Whitty gegenüber der Local Government Association: „Es wird trotzdem ein sehr schwieriger Winter, vor allem für den NHS.“

Tatsächlich schafft die Regierung die Bedingungen für eine neue, impfstoffresistentere und möglicherweise tödlichere Variante des Virus. Diese wird durch die bevorstehende Welle von Neuinfektionen genug Gelegenheit zum Mutieren haben.

Großbritannien ist mittlerweile Vorreiter für die ganze Welt, in der einem Großteil der Menschen wegen der deutlich niedrigeren Impfquoten ein noch viel verheerenderes Szenario droht. Während die Regierungen weltweit damit beschäftigt sind, alle Einschränkungen zum Schutz der Gesundheit zu beseitigen, zeigt Großbritannien, wie stark die Infektionen dadurch ansteigen werden. Sein Beispiel muss der internationalen Arbeiterklasse als Warnung dienen: Sie muss jetzt handeln, um die Kontrolle über die Reaktion auf die Pandemie zu übernehmen. Als Grundlage dafür wird ein sozialistisches Programm benötigt, das Billionen Dollar für ein global koordiniertes Gesundheitsprogramm zur Ausrottung des Virus bereitstellt.

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