Am Abend des 14. August gab Jürgen Behrend, der Sprecher der Eigentümerfamilien Hueck und Röpke, bekannt, dass der Autozulieferer Hella an den französischen Konzern Faurecia verkauft wird. Die beiden Familien besitzen 60 Prozent der Aktien des börsennotierten, in Lippstadt ansässigen Konzerns. Diese werden nun bis Anfang 2022 in das Eigentum von Faurecia übergehen.
Sechs Wochen nachdem ein früherer Interessent, das Münchner Unternehmen Knorr-Bremse, sein Kaufangebot auf Grund des Drucks seiner Investoren überraschend zurückgezogen hat, ist es den beiden Familien doch noch gelungen, ihren Aktienschatz zu spekulativ-hohen Börsenkursen zu versilbern.
Sie erhalten von dem französischen Konzern mit Sitz in Nanterre nahe Paris nicht weniger als 4 Milliarden Euro. Weitere 2,8 Milliarden Euro gehen an die übrigen Aktienbesitzer. Insgesamt werden also Aktien im Wert von 6,8 Milliarden Euro zu Geld gemacht. Faurecia zahlt davon 3,4 Milliarden in bar, die andere Hälfte – eine gigantische Summe – finanziert das Unternehmen mit neuen Schulden in Form von Bankdarlehen und Anleihen.
Was für ein oder zwei Dutzend Mitglieder der Eigentümerfamilien eine ungeheure Bereicherungsorgie ist, bedeutet für die Beschäftigten beider Konzerne, Hella und Faurecia, den Auftakt zu heftigen Kämpfen um Standorte, Arbeitsplätze und Löhne. Und dies nicht nur in Deutschland und Frankreich, sondern weltweit. Beide Unternehmen haben Entwicklungs- und Produktionsstandorte in den USA, in Ländern wie Mexiko, Indien, in ganz Osteuropa und Südosteuropa, in Südostasien und China.
Auch das Handelsblatt schätzt die Übernahme so ein. Es schrieb am 16. August: „Die Transaktion ist eine Antwort auf die sich stark verändernde Autoindustrie. Die Antriebswende und die zunehmende Bedeutung von Elektronik und Software lösen eine Konsolidierungs- und Fusionswelle aus, die Branchenexperten bereits seit Längerem erwarten.“
„Konsolidierung“ ist ebenso wie „Sanierung“ McKinsey-Sprech: Diese euphemistischen Begriffe stehen für massiven Arbeitsplatzabbau, verlängerte Arbeitszeiten und Lohnsenkung. Sie stehen für die Stilllegung oder den Verkauf von Standorten und Geschäftszweigen, die von den Beschäftigten oft in jahrelanger oder jahrzehntelanger harter Arbeit aufgebaut worden sind. Jetzt aber soll ihre Entsorgung dem Unternehmen und seinen Shareholdern das schnelle große Geld in die Kassen spülen.
Der Vorstandsvorsitzende von Faurecia, Patrick Koller, begründete die Übernahme unter anderem mit den Worten: „Ich bin überzeugt, dass Faurecia und Hella hervorragend zueinander passen, da wir eine gemeinsame Vision, Werte und Kultur haben.“ (Handelsblatt, 15.08.2021) Wenn in den blumigen Presseerklärungen der Hella-Eigentümer und des Faurecia-Vorstands über die rosige Zukunft des Unternehmens nach der Übernahme irgendein wahres Wort stand, dann dieses.
Konsolidierung in Permanenz
Die Kultur beider Unternehmen ist tatsächlich gleich. Man kann sie am besten mit „Konsolidierung in Permanenz“ charakterisieren. Kaum ein Jahr vergeht, in dem die Geschäftsleitung nicht im gesamten Konzern oder für einzelne Standorte ein neues Konsolidierungs- oder Sanierungsprogramm ausruft.
CEO Rolf Breidenbach war 2004 von der Unternehmensberatungsgesellschaft McKinsey zu Hella gewechselt. Bis heute – bis 2017 zusammen mit dem Familienvertreter Jürgen Behrend – führt er das operative Geschäft: Entwicklung, Produktion und Verkauf von Scheinwerfern und anderen Lichtsystemen sowie von elektronischen Komponenten für die großen Autohersteller der Welt.
Seine erste große „Kulturtat“ war ein brutales Sanierungsprogramm, das er mit tatkräftiger Mithilfe der Eigentümerfamilien durchsetzte.
Wie das manager magazin am 27. April 2007 enthüllte, schickte der Vertreter der Familien in der Geschäftsführung, Jürgen Behrend, den Belegschaften und Führungskräften aller Standorte über die Computer-Monitore der Firma eine Drohung: Umsatz und Gewinne aus dem Lichtgeschäft seien eingebrochen, binnen 12 bis 18 Monaten müsse der Erfolg des Sanierungsprogramms „Lion“ (Light On) durch schwarze Zahlen nachgewiesen werden. Ansonsten werde er den Eigentümerfamilien im November 2007 den Verkauf vorschlagen.
Ein Verkauf unter diesen Bedingungen hätte unweigerlich die Zerschlagung des Konzerns und das Verschleudern einzelner Teile an „Heuschrecken“ bedeutet. So werden Finanzinvestoren und Hedgefonds genannt, die über Unternehmen herfallen, sich die besten Teile herauspflücken, zurechtsanieren und profitabel weiterverkaufen, während sie den Rest stilllegen.
Das Sanierungsprogramm wurde umgesetzt. Innerhalb eines Jahres stiegen Umsatz und Gewinne wieder steil nach oben. Dennoch wurde nach der Finanzkrise 2008/2009 die „Konsolidierung“ weiter vorangetrieben. Es kam zu massiven Produktionsverlagerungen nach Osteuropa und China. Deutsche Standorte wie Paderborn (700 Mitarbeiter) wurden stillgelegt oder ausgedünnt. Die Zahl der Arbeitsplätze in Deutschland sank von 14.000 im Jahre 2004 auf 9500 im Jahr 2021. Weltweit stieg hingegen die Zahl der Beschäftigten um 50 Prozent auf heute 36.000.
All dies geschah mit der Unterstützung von Betriebsrat und IG Metall, die einige hohle Proteste organisierten, um abzuwiegeln und ernsthafte Kampfmaßnahmen wie Streiks oder Betriebsbesetzungen zu verhindern.
Die „Konsolidierung in Permanenz“, die die Belegschaft in einem Dauerzustand von Angst und Sorge hält und zu immer höheren Arbeitsleistungen antreibt, erfolgt mit Hilfe von Betriebsrat und Gewerkschaft.
Sanierungsprogramm „Phoenix“
2019/20 wurden im Stammwerk in Lippstadt 200 Arbeitsplätze abgebaut. Wenig später, im August 2020, verkündete Breidenbach das Sanierungsprogramm „Phoenix“. Wie die Sagengestalt Phoenix aus der Asche solle das Unternehmen nach einem Jahr von Umsatzverlusten und leicht sinkenden Gewinnen wieder aufsteigen zu finanziellem Glanz.
900 Arbeitsplätze werden in diesem und im nächsten Jahr in der Verwaltung der Zentrale in Lippstadt, 450 weitere durch die sofortige Schließung der Standorte Regensburg und Würzburg und andere Maßnahmen ausradiert.
Die Investitionen im Entwicklungsstandort für Software und Elektronik in Rumänien und Litauen werden hingegen ausgebaut. Ingenieure und Produktionsarbeiter bekommen dort brutto wie netto nur 27 Prozent (2020) der Löhne, die in Deutschland bezahlt werden. In Polen sind es 32 Prozent.
Als Folge steht das Unternehmen laut jüngstem Geschäftsbericht vom August für das vergangene Geschäftsjahr so gut wie nie zuvor und besser als jeder andere Autozulieferer da. Es ist völlig schuldenfrei und verfügt über eine Eigenkapitalquote von über 40 Prozent – in der gesamten Autozulieferindustrie liegt diese durchschnittlich bei 21 Prozent, bei Faurecia nur bei 18 Prozent. Der Umsatz ist trotz Corona-Pandemie um 13 Prozent auf 6,5 Milliarden Euro gestiegen, der Gewinn hat sich mit 510 Millionen Euro mehr als verdoppelt.
Technologisch gesehen sind nur noch 10 Prozent des Umsatzes vom Einbau von Hella-Komponenten in Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren abhängig. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist Hella vorbereitet auf die Umstellung der Autoindustrie zum elektrischen Antrieb. Zudem sind nicht mehr allein Scheinwerfer, sondern elektronische Komponenten wie Radar-Sensoren und Fahrerassistenzsysteme die Haupttreiber des Umsatzes. Das Unternehmen ist bei der Entwicklung automatisierten Fahrens dick im Geschäft.
Die Eigentümerfamilien können also für das Sanierungsprogramm „Phoenix“ schon jetzt einen vollen Erfolg verbuchen – und es mit dem Verkauf von Hella krönen. Die Aktienkurse sind in diesem Jahr um 50 Prozent gestiegen, und so ist auch der Verkaufspreis stark emporgeschnellt.
Unter den Gesichtspunkten der technologischen Ausrichtung und der Profitabilität macht für Hella die Übernahme durch Faurecia keinen Sinn. Das einzige und alles beherrschende Motiv der Eigentümerfamilien ist die unbändige Gier, von der gegenwärtigen Börsenbonanza zu profitieren und so viel Geld wie möglich zu machen, bevor die Kurse irgendwann wieder einbrechen. Es gibt keinen anderen Grund.
„Wir wollten nicht warten“, war denn auch die Antwort von Familiensprecher Jürgen Behrend auf die erstaunte Frage des Handelsblatts, weshalb trotz der glänzenden technischen und finanziellen Aufstellung die Familie Hella jetzt verkauft.
Bezahlen sollen dafür die 150.000 Beschäftigen des neuen fusionierten Konzerns, bisher fest angestellte Produktionsarbeiter und Zeitarbeiter ebenso wie Entwicklungsingenieure und Verwaltungsangestellte, sowie Hunderte von externen Ingenieurdienstleistern.
Die Tatsache, dass Faurecia die Übernahme zur Hälfte durch neue Schulden finanziert und der Gesamtschuldenberg damit auf 6,5 Milliarden Euro steigt, lässt auf den raschen Beginn eines grausamen „Sanierungsprogramms“ schließen. Die Belegschaften von Hella und Faurecia sollen durch verschärfte Ausbeutung die Rückzahlung der Schulden finanzieren. Faurecia hat bereits den Verkauf von Standorten und Geschäftszweigen im Wert von 500 Millionen Euro bekannt gegeben. Doch dies ist erst der Anfang.
McKinsey-Sanierer und Hella-CEO Rolf Breidenbach steht in den Startlöchern. Er soll, wie auch andere Führungskräfte, nach der Fusion „eine herausragende Rolle in der Leitung des Konzerns spielen“, wie es in der Pressemitteilung vom 15. August heißt.
Die Konsolidierung in Permanenz bei Faurecia
Faurecia ist seit 1999, seiner Gründung als Tochterunternehmen des französischen Autoherstellers PSA, von einem Unternehmen mit 32.000 Mitarbeitern zu einem globalen Konzern mit 114.000 Mitarbeitern gewachsen – ausschließlich durch eine Vielzahl von Übernahmen von Konkurrenzfirmen. Diese liefen immer nach demselben Muster ab: Finanzierung durch den Mutterkonzern PSA und Kredite, anschließend massiver Abbau der Arbeitsplätze und Löhne in den übernommenen Werken.
Auch hier haben die Gewerkschaften und ihre Betriebsräte eine entscheidende Rolle gespielt. Ein typisches Beispiel ist das Werk in Scheuerfeld, Rheinland-Pfalz. 2011 stellten dort noch über 530 Arbeiter Autoinnenausstattungen her. 2012 verkündete die Konzernleitung von Faurecia, sie wolle den Standort schließen, da er nicht genug Profit bringe.
IG Metall und Betriebsrat vereinbarten den Abbau von 30 Arbeitsplätzen und die Verlängerung der Wochenarbeitszeit von 35 auf 37,5 Stunden ohne Lohnausgleich als Preis für die „Standorterhaltung“. Doch der Abbau ging weiter. Heute sind weniger als 200 Arbeitsplätze übrig, Urlaubs- und Weihnachtsgeld um 25 Prozent gekürzt und die Wochenarbeitszeit auf 38,5 Stunden erhöht.
Laut einem Bericht in der Rhein-Zeitung kommentierte der zuständige Bevollmächtigte der IG Metall dieses Ergebnis auf einer Betriebsversammlung am 7. September 2020 mit den Worten: „Scheuerfeld gehört zu den erfolgreichsten Faurecia-Werken in Europa!“
Die Werke in Unna, Stadthagen und Lohr sind nach ähnlichen Jahren des Lohnverzichts bereits vollständig geschlossen worden.
Wenn die IG Metall jetzt Verhandlungen über die „Erhaltung des Standorts Lippstadt“ ankündigt und die Erste Bevollmächtigte der IG Metall von Lippstadt, Britta Peter, dies mit den Worten begleitet: „Wir müssen in Deutschland agiler werden, um konkurrenzfähig zu bleiben“ (Wirtschaftswoche, 15.08.2021) – dann sollten bei allen Arbeiterinnen und Arbeitern von Hella und Faurecia die Alarmglocken läuten.
Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) warnt sie eindringlich davor, den hohlen Reden der Gewerkschaftsfunktionäre über „Zukunftskonzepte“ und „Standortverteidigung“ das geringste Vertrauen zu schenken. „Agiler werden, um konkurrenzfähig zu bleiben“ – das ist McKinsey-Sprech für flexible Arbeitszeiten auf Abruf, längere Arbeitszeiten und niedrigere Löhne.
Vorbild Faurecia USA
Vorbild für diese „Agilität“ sind die Zustände in den Faurecia-Werken der USA. Am Standort Gladstone in Columbus (Indiana) hat das Unternehmen gerade angekündigt, von drei Schichten eine komplett zu entlassen und für die beiden anderen dafür den 12-Stunden-Arbeitstag einzuführen. Dabei wird die Arbeitszeit flexibel sein und sich von Tag zu Tag nach dem Bedarf richten. Auch an den Wochenenden sollen die Bänder durchlaufen.
Dieses „Programm der agilen Produktion“ wird von der zuständigen Gewerkschaft International Brotherhood of Electrical Workers (IBEW) voll unterstützt.
Vor einem Jahr ist im Werk Gladstone ein Rank-and-File Safety Committee gegründet worden, das gegen die gefährlichen Arbeitsbedingungen unter Corona-Bedingungen kämpft, denn auch in dieser Frage steht die Gewerkschaft voll auf Seiten des Unternehmens.
Dieses Rank-an-File-Committee hat am 18. August auf die angekündigten Angriffe mit einem Aufruf an die Kollegen in Gladstone und allen anderen Faurecia-Werken reagiert, unabhängig von der Gewerkschaft den Kampf dagegen aufzunehmen. Der Aufruf zeigt den Zusammenhang der Entlassungen und Arbeitszeitverlängerungen mit der Übernahme von Hella auf:
„Die brutalen Methoden, die mit solchen Übernahmen einhergehen, sind dem Unternehmen nur allzu vertraut. Als Faurecia den Betrieb des ehemaligen Ford-Werks in Saline, Michigan, übernahm, um zum größten Komponentenhersteller Nordamerikas zu werden, verhängte das Unternehmen pauschale Lohnkürzungen und eine massive Arbeitsplatzvernichtung. Es folgte ein Regime der rücksichtslosen Arbeitshetze und unsicheren Bedingungen in den Betrieben, die von der Gewerkschaft UAW (United Auto Workers) voll unterstützt wurde.“
Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) schlägt allen Arbeitern von Hella und Faurecia vor, es wie die Kollegen in den USA zu machen!
- Versäumt keine Zeit! Bereitet die Gründung von Aktionskomitees vor, die den Kampf zur bedingungslosen Verteidigung jedes einzelnen Arbeitsplatzes und der Löhne unabhängig von den Gewerkschaften und Betriebsräten in die Hand nehmen!
- Nehmt Verbindung zu den Aktionskomitees auf, die mit denselben Zielen in den USA bereits gegründet worden sind. Die SGP und die WSWS können Euch dabei unterstützen und die Verbindung herstellen.
- Nehmt den Kampf für die internationale Vereinigung der Arbeiterklasse im Kampf für eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft auf, in der nicht der Profit von einigen Millionären und Milliardären, sondern die Lebensinteressen von Milliarden arbeitenden Menschen im Zentrum stehen.
Mehr lesen
- Ifo-Studie: Bis 2025 sind 178.000 Arbeitsplätze in der Autoindustrie gefährdet
- Autoindustrie: Die Tesla-Giga-Factory in Brandenburg und der weltweite Verdrängungswettbewerb
- Nein zum Ausbeuter-Tarifvertrag bei Dana in den USA! Arbeiter brauchen eine Strategie für den Sieg!
- Conti/Vitesco in Bebra und Mühlhausen: Der Ausverkauf der IG Metall