Armut in Deutschland: Lebensmittel-Tafeln zählen zwei Millionen Hilfesuchende

Die schreiende soziale Ungleichheit nimmt auch in Deutschland ständig zu. Als Folge von Pandemie, Krieg und der hohen Inflation ist die offizielle Armutsquote im letzten Jahr auf 16,6 Prozent geklettert, was 13,8 Millionen Menschen in Armut entspricht. Das bedeutet, dass für immer mehr Menschen, Arbeitslose, Alleinerziehende, Niedriglohnarbeiter, arme Rentnerinnen und Rentner das Geld nicht mehr zum Leben reicht.

Dies drückt sich auch an den Rekordzahlen von Menschen aus, die bei den Tafeln um Lebensmittelspenden anstehen.

Tafel in München

Am letzten Donnerstag, dem 14. Juli, warnte der Vorsitzende des Dachverbands Tafel Deutschland, Jochen Brühl, dass die Tafeln den Ansturm bald nicht mehr bewältigen könnten. Infolge von Inflation, Pandemie und Kriegsfolgen seit Jahresbeginn sei die Nachfrage von in Not geratenen Menschen sprunghaft angestiegen. Die Zahl der Nutzer habe sich um die Hälfte erhöht und einen neuen Rekordstand erreicht. Wie er sagte, nutzen inzwischen deutlich mehr als zwei Millionen von Armut Betroffene die Angebote an kostenlosen Lebensmitteln. Das sind so viele Menschen wie nie zuvor.

„Die Tafeln sind am Limit und berichten uns, dass viele Menschen zu ihnen kommen, die bisher gerade so über die Runden gekommen sind und zum ersten Mal Hilfe in Anspruch nehmen müssen“, sagte Brühl. Da die Tafeln den Ansturm kaum noch oder nicht mehr bewältigen können, muss jede dritte Tafel seinen Angaben zufolge einen Aufnahmestopp einführen. Um allen zu helfen, die nach Unterstützung fragen, fehlt es an Lebensmitteln und an Ehrenamtlichen.

Der Bundesverband die Tafel Deutschland hat im Juni und Juli 962 Tafeln befragt, die im Verband Mitglied sind, und 603 Tafeln haben sich an der Umfrage beteiligt. Wie die Ergebnisse zeigen, haben 60 Prozent der Tafeln seit Jahresbeginn einen Zuwachs ihrer Kunden um bis zu 50 Prozent verzeichnet. Knapp ein Viertel (22,6 Prozent) der Befragten gaben an, dass sie jetzt 50 bis 100 Prozent mehr Menschen unterstützten als zuvor. Bei 16 Prozent der Tafeln habe sich die Zahl der Hilfesuchenden verdoppelt oder mehr als verdoppelt.

Bei den Tafeln handelt es sich um ein freiwilliges Angebot. Der Dachverband Tafel Deutschland ist ein gemeinnütziger Verein. Entstanden sind die Tafeln ursprünglich mit dem Ziel, der Lebensmittelverschwendung entgegenzutreten und von Armut betroffene Menschen durch die (fast) kostenlose Verteilung zu unterstützen. Von dem dadurch eingesparten Geld sollten sie in die Lage versetzt werden, sich andere dringend benötigte Dinge zu leisten. Um von einer Tafel Unterstützung zu erhalten, muss man sich anmelden und seine Bedürftigkeit, zum Beispiel Hartz IV-Bezug, nachweisen.

Mit dem Anwachsen der Armut in Deutschland in den letzten 15 bis 20 Jahren nahm auch die Zahl der Tafeln immer mehr zu. Einen besonders starken Anstoß dafür gaben die Hartz-Reformen der SPD/Grünen-Regierung (1998–2005). Sie sorgten mit der Einführung von Hartz IV als Existenzminimum, das in Wirklichkeit niemals ausreichte, und mit zahlreichen Sanktionsmöglichkeiten, um Arbeitslose bei den Jobcentern unter Druck zu setzen, für die Einführung und Ausbreitung eines riesigen Niedriglohnsektors. Sowohl Hartz IV-Empfänger als auch Arbeiter im Niedriglohnbereich müssen oft auf die Tafeln zurückgreifen, um über die Runden zu kommen.

Der dramatische Anstieg der Inflation hat nun diese Entwicklung extrem verschärft und unzählige Arbeiterhaushalte in Armut und Not gestürzt. Der tiefere Grund ist die „Profite-vor-Leben“-Politik aller Regierungen, die schon in der Corona-Pandemie weltweit Millionen Todesopfer gefordert hat. Die Inflation ist die Folge staatlicher Billionengeschenke an Banken und Konzerne und der Nato-Offensive gegen Russland. Gleichzeitig werden die Unsummen, die für Aufrüstung und Krieg ausgegeben werden, durch Kürzungen bei Bildung, Gesundheit und Sozialleistungen wieder hereingeholt.

Seit Beginn des US/Nato-Stellvertreterkriegs gegen Russland kommen immer häufiger auch Flüchtlinge aus der Ukraine an die Tafeln. In diesem Zusammenhang übt der Tafel-Verband Kritik an den staalichen Behörden, da sie ihre eigenen Aufgaben auf die Tafel abschieben. „Es ist verantwortungslos, wenn Behörden Menschen zu einer Tafel schicken, ohne sich überhaupt zu erkundigen, ob die Tafel neue Kundinnen und Kunden aufnehmen kann“, erklärte Brühl. „Dass alle Menschen in Deutschland genug zu essen und zu trinken haben, muss der Staat gewährleisten, nicht das Ehrenamt.“

Aber dieses Prinzip der staatlichen Fürsorge für Menschen in Not gilt in Deutschland schon lange nicht mehr. Im kommenden Herbst werden Millionen von Menschen nicht in der Lage sein, die Verdoppelung und Verdreifachung der Heiz- und Stromkostennachzahlung aufzubringen. Dies wird dazu führen, dass vielen Menschen der Strom und die Heizuung abgedreht werden, und dass ihnen der Verlust der Wohnung droht, weil sie Miete und Nebenkosten nicht mehr aufbringen können.

Das Statistische Bundesamt hat vor kurzem erstmals Daten für eine Teilgruppe der Wohnungslosen in Deutschland vorgelegt, die in Not- und Gemeinschaftsunterkünften oder vorübergehenden Quartieren leben. Das Amt hat 178.000 von ihnen gezählt. Dazu berichtete die Tagesschau.de am 14. Juli, dass mehr als ein Drittel dieser Menschen „jünger als 25 Jahre, knapp fünf Prozent 65 Jahre oder älter“ seien. „Familien oder Alleinerziehende mit Kindern machen 46 Prozent der Fälle aus.“

Nicht erfasst in dieser Statistik sind „Wohnungslose, die bei Freunden, Familien oder Bekannten unterkommen, sowie Obdachlose, die auf der Straße leben. Fälle von Flüchtlingen flossen nur ein, wenn sie einen positiven Asylbescheid hatten und durch das Wohnungsnotfallhilfesystem untergebracht waren.“

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt die Zahl der wohnungslosen Menschen in Deutschland auf etwa 233.000, eine Zahl, die in Realität um ein Vielfaches höher liegen könnte.

Die Berliner Zeitung berichtete schon am 21. Juni über den enormen Ansturm von in Not geratenen Menschen auf die Tafeln. Allein in Berlin gibt es 47 Ausgabestellen von „Laib und Seele“, einem Partner-Verein der Berliner Tafel. Eine ihrer Ausgabestellen befindet sich vor dem Fanhaus des Fussballvereins Union Berlin. Die Menschen, die für Lebensmittel anstehen, kommen bereits am Vormittag, manche sogar schon am frühen Morgen.

In dem Bericht wird ein Kunde zitiert, der die Nummer 90 hat und seit etwa 10 Uhr auf dem Parkplatz steht. „Wenn ich Glück habe, bin ich um 16 Uhr zuhause“, sagt er. Ein anderer mit gesundheitlichen Problemen hat einen Hocker mitgebracht, weil er nicht so lange stehen kann. Ein Bild zeigt, wie die Menschen in mehreren Reihen Schlange stehen, um für einen Beitrag von 1,50 Euro und einen Nachweis ihrer Bedürftigkeit Lebensmittel zu erhalten.

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