Am vergangenen Montag scheiterte im Bundesrat der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ablösung der Hartz-IV-Grundsicherung durch ein sogenanntes Bürgergeld am Widerstand der Unionsparteien. Nun soll der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat am kommenden Mittwoch einen Kompromiss aushandeln.
Die Debatte im Bundesrat war die Fortsetzung hitziger Auseinandersetzungen im Bundestag sowie in der medialen Öffentlichkeit. Wer diese Stimmungsmache verfolgt hat, ist zutiefst angewidert. Hemmungslos verbreitet die Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP die Lüge, bei ihrem Gesetzentwurf handle es sich um die „größte Sozialreform seit 20 Jahren“.
Tatsächlich ist das geplante Bürgergeld eine heuchlerische Neuetikettierung der verhassten Hartz-Gesetze, die Anfang 2005 von der Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) eingeführt wurden und seitdem Millionen Menschen in Armut und prekäre Niedriglohnjobs gezwungen haben.
Die Hartz-Gesetze legalisierten zahlreiche Formen der prekären Beschäftigung, die bisher verboten oder gesetzlich eingeschränkt waren – Minijobs, ausgedehnte Leiharbeit, Zeitverträge, Werkverträge. Kernstück war die Einführung der Hartz-IV-Grundsicherung. Arbeitslose verloren nach einem Jahr ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld und mussten jeden, noch so schlecht bezahlten Job annehmen und ihre Ersparnisse veräußern, wenn sie weiterhin staatliche Unterstützung beanspruchten.
Als Folge dieser Gesetze arbeitet heute jede vierte Person in Deutschland in prekären Verhältnissen. 800.000 müssen ihr Gehalt durch staatliche Hilfen aufstocken, um über die Runden zu kommen, und 5,3 Millionen sind auf Hartz IV angewiesen.
Das geplante Bürgergeld ändert daran nichts. Trotz Inflation, Energiekrise und explodierender Nahrungsmittelpreise steigt der Regelsatz gegenüber Hartz IV um lediglich 10 Prozent, was eine Erhöhung von durchschnittlich 50 Euro pro Person und Monat bedeutet. Damit können Bezugsempfänger auch in Zukunft kaum das Nötigste finanzieren.
Allein die Lebensmittelpreise sind in den letzten zwölf Monaten um 20 Prozent gestiegen. Laut Verbraucherzentrale betrug der Anstieg bei Butter 55, bei Quark 57, bei Milch 43 und bei Weizenmehl 38 Prozent, so dass ein Laib Brot kaum noch unter 4 Euro zu bekommen ist und die bei Kindern beliebten Nudeln 33 Prozent mehr kosten.
Der geplante Grundleistungsbezug sieht für die unterschiedlichen Personengruppen wie folgt aus: Alleinstehende sowie Alleinerziehende sollen statt bisher 449 Euro 502 Euro im Monat erhalten, also 53 Euro mehr. Paare bzw. Bedarfsgemeinschaften sollen je Partner 451 Euro bekommen, ein Zuwachs von 50 Euro. Volljährige in Betreuungseinrichtungen sowie unter 25-Jährige, die noch im Haushalt ihrer Eltern leben und nicht erwerbstätig sind, sollen einen Anspruch auf 402 Euro haben, das ist ein Plus von 45 Euro zum Hartz-IV-Regelsatz.
Für Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren ist eine Erhöhung um 47 Euro auf 420 Euro vorgesehen, für die 6- bis 13-Jährigen um 39 Euro auf 348 Euro und für alle Jüngeren um 35 Euro auf 318 Euro.
Diese Regelsätze, die weit unter den Forderungen der Sozialverbände liegen, vertiefen die Armut der Betroffenen. Auch die Kinderarmut wird erheblich verschärft. Schon jetzt verhindern die viel zu geringen Leistungssätze eine angemessene Versorgung der Kinder und Jugendlichen. 2021 lag die Kinderarmut bei 20,8 Prozent, mit anderen Worten, jedes fünfte Kind wächst in Armut auf.
Wie die Verbraucherzentrale ausdrücklich betont, reicht auch das künftige Bürgergeld nicht aus für „eine gesunde Ernährung“. Drei Viertel der mehr als zwei Millionen Menschen, die auf die regelmäßige Lebensmittel-Unterstützung der Tafeln angewiesen sind, beziehen Hartz-IV-Leistungen.
Um „ein Leben in Würde führen zu können“, benötigt ein alleinlebender Erwachsener eine Grundsicherung in Höhe von 725 Euro sowie die Übernahme der Stromkosten, errechnete der Paritätische Wohlfahrtsverband.
Doch über die elenden Regelsätze, die zu noch schärferer armutsbedingter Mangelernährung, Ausgrenzung und Stigmatisierung der 5,33 Millionen betroffenen Erwachsenen und Kinder (Stand Oktober 2022 laut Bundesagentur für Arbeit) führen, gibt es zwischen den Parteien der Koalition und der Union im Wesentlichen Übereinstimmung.
Umstritten sind vor allem zwei Punkte: Die Einführung einer zweijährigen „Karenzzeit“, in der die Bezieher von Bürgergeld nicht in eine kleinere Wohnung umziehen müssen und ein „Schonvermögen“ bis zu 60.000 Euro (plus weitere 30.000 Euro pro Haushaltsmitglied) behalten dürfen. Und eine sechsmonatige „Vertrauenszeit“, in der die Sanktionen der Arbeitsämter etwas gelockert werden, damit Arbeitslose nicht den erstbesten Job annehmen müssen.
CDU und CSU schüren schamlos eine Sozialneid-Debatte und hetzen unisono mit der AfD gegen die angeblich geplante „soziale Hängematte“ für Arbeitslose und Migranten.
Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz, der sich schon im September mit seiner flüchtlingsfeindlichen „Sozialtourismus“-Hetze hervortat, nutzt den Bürgergeld-Streit, um erneut die Parolen der AfD zu verbreiten. Laut Merz lohnt es sich mit dem zukünftigen Bürgergeld „auch für Zuwanderer häufig nicht mehr, eine einfache Tätigkeit aufzunehmen“. Er befeuert die Ausländerfeindlichkeit mit der Behauptung: „Und genau das zieht die Menschen aus vielen Ländern erst richtig an.“
Es liegt auf der Hand, dass die Bundesregierung mit der „Karenzzeit“ und der „Vertrauenszeit“ versucht, die explosivsten Fragen zu entschärfen, weil sie Massenproteste gegen unbezahlbaren Wohnraum und Armut befürchtet. Bezahlbarer Wohnraum ist in Großstädten wie München, Frankfurt oder Berlin schlicht nicht mehr zu finden, und das Schonvermögen kommt vor allem der besserverdienenden Klientel der SPD – Selbstständigen und Kleinunternehmern – zugute, die durch die Krise in wirtschaftliche Not geraten. Kaum ein anderer Arbeitsloser, der Hartz IV beantragen muss, hat 60.000 Euro auf der hohen Kante.
Die Feindschaft der Ampelregierung gegenüber weniger gut Verdienenden, Mindestlohnempfängern und prekär Beschäftigten offenbarte sich einmal mehr in dem Redebeitrag von Martin Rosemann, Sprecher der SPD für Arbeit und Soziales im Bundestag. Er verteidigte die „Karenzzeit“ mit der Begründung, sie mache den Unterschied aus „zwischen denen, die immer gearbeitet haben und sich was angespart haben, und denen, die das nicht gemacht haben“.
Die Konservativen greifen insbesondere die „Vertrauenszeit“ an. Sie behaupten, dass die Lockerung der Sanktionen in den ersten sechs Monaten den eigentlichen Zweck von Hartz IV untergrabe, möglichst viele in prekäre Arbeitsverhältnisse zu zwingen. Das „bewährte“ und „ausgewogene“ Prinzip des „Fördern und Forderns“ werde verworfen und das geplante Bürgergeld mache den Weg in Richtung eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ frei.
Der CDU-Vorsitzende Merz hetzt auf seinem Twitter-Account: „Das sogenannte #Bürgergeld ist der Weg in ein bedingungsloses #Grundeinkommen aus Steuermitteln. Es ist unfair, dass arbeitende Menschen diejenigen finanzieren, die arbeiten könnten, aber vom Staat nicht alle Anreize bekommen, um einen Job anzunehmen.“ Bald werde „es nicht mehr viele geben in dieser Gesellschaft, die nicht auf irgendein soziales Transfersystem zurückgreifen können“ und somit arbeitsunwillig würden, so Merz.
Merz weiß, wovon er spricht. Er ist Experte für „soziale Transfersysteme“ – allerdings in umgekehrter Richtung. Bevor er den Vorsitz der CDU übernahm, leitete er den Aufsichtsrat der Deutschlandsparte von BlackRock, das weltweit Vermögen in Höhe von 6,4 Billionen US-Dollar verwaltet. Der Konzern sorgt dafür, dass jedes Jahr Milliarden auf die Konten der Superreichen fließen, ohne dass diese dafür einen Finger krümmen müssen. Die Milliarden werden durch Niedriglöhne aus der Arbeiterklasse herausgepresst.
Der CSU-Vorsitzende und bayrische Ministerpräsident Markus Söder polarisiert mit dem Tweet: „Das #Bürgergeld benachteiligt untere Einkommensgruppen, die hart arbeiten: Kassiererinnen, Friseurinnen, Busfahrer, Polizeimeister – die am Ende feststellen müssen, dass nicht arbeiten annähernd so lukrativ ist wie arbeiten. Das ist ungerecht.“
Es ist geradezu ein Hohn, dass sich derselbe Söder kurz danach medienwirksam am Tisch einer Münchener Tafel in Szene setzte und sich für die „überragende Leistung“ und das „großartige ehrenamtliche Engagement“ der Tafeln bei der Unterstützung Bedürftiger bedankte. Schließlich sind es die Hungerlöhne im Niedriglohnsektor und die zu niedrigen Leistungssätze für Arbeitslose, die die Menschen verzweifelt zu den Tafeln treiben.
SPD, Grüne und FDP – die genau wie CDU, CSU, AfD und Linkspartei wissen, dass das Bürgergeld zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel ist – weisen die Behauptung empört zurück, sie würden einem bedingungslosen Grundeinkommen den Weg bereiten. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) beteuerte auf der Bundesratssitzung am Montag, er lehne ein bedingungsloses Grundeinkommen ebenso ab wie CDU und CSU.
Das berüchtigte Hartz-IV-Prinzip des „Förderns und Forderns“ – das in breiten Teilen der Bevölkerung verhasste Sanktionssystem, mit dem Hartz-IV-Empfänger gezwungen werden, jeden noch so schlechten Billiglohn-Job anzunehmen – lobpreisen die Ampel-Parteien und die Union gleichermaßen als „bewährtes“ Mittel, „Menschen in Arbeit zu bringen“.
Alle Parteien sind sich einig, dass sich daran nichts ändern soll. Doch während die Regierung argumentiert, dass viele, die aufgrund des Sanktionsdrucks die erstbeste Stelle annehmen, nach kurzer Zeit in den Hartz-IV-Bezug zurückkehren, während dringend benötigte Stellen unbesetzt bleiben, lehnen Union und AfD jede Lockerung ab.
„Wir haben 2,4 Millionen Arbeitslose und eine wachsende Zahl offener Stellen. Der Staat muss signalisieren: Wir brauchen euch im Arbeitsmarkt …“, fordert Merz auf Twitter und hetzte in Berlin beim Branchentag des Gaststättenverbands Dehoga: „Müssen wir wirklich ein Transfersystem noch weiter ausbauen und noch mehr Anreize geben, eher nicht so schnell in den Arbeitsmarkt zurückzukehren?“
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), der den Gesetzentwurf als „Chance auf selbstbestimmtes Leben“ für Arbeitssuchende anpreist, sicherte noch am Montag in der Plenarsitzung des Bundesrats den Unionsparteien seine Kompromissbereitschaft zu. „Meine Hand [ist] zur Lösung ausgestreckt“, versichert er im Namen der Ampelkoalition.